jeder Uruguayer wollte der geborene Schriftsteller sein und trug stets irgend eines seiner Manuskripte bei sich. Inzwischen hat die zunehmende Industrialisierung diesem beschaulichem Leben, das ein grosser Teil des Mittelstandes führen konnte, ein Ende bereitet. Der Kampf ums Dasein lässt keine Musse mehr zum langen Disput. Der Bohemien verschwindet auch in Uruguay. Vielen Klubs gliederten sich eigne Zeitschriften und Verlage an, um ihre Ideen und Werke ihrer Mitglieder zu verbreiten und sich Einnahmen zu verschaffen.
Das Gesamtbild der uruguayischen Literatur zeigt überwiegendes Vorherrschen der Lyrik. Die Prosa ist äusserst unbeholfen, unentschieden, der Essaycharakter herrscht vor. Den meisten Werken fehlt eine straffe Gliederung und Durcharbeitung. Zu den gestaltungskräftigsten Schriftstellern gehören Zavala Muniz, José Petro Bellàn und Antonio Soto. Vorbild der jungen Generation ist Carlos Vaz Ferreira. Seine Werke sind voll Gärung, ohne endgültige Stellungnahme. Eine sensitive Empfindsamkeit spricht aus seinen Büchern. Sein Beispiel leitete die Jungen zu keiner geschlossenen Gestaltung an, sondern liess sie zu einem unruhigen Tasten und Suchen kommen. Bei stärkerer Konzentration kann diese Schule eines Tages zu einer exakten Formung des Lebens gelangen.
Der bekannteste Nationalschriftsteller - dessen Bücher dennoch im Lande kaum einer gelesen hat - ist Rodò. Plätze, Strassen, Institute, Barbierläden, Bars tragen seinen Namen. In jeder Bibliothek sind seine Werke ‘Ariel’ und ‘Motivos de Proteo’ vorhanden. Trotz seines Ruhmes blieb Rodò ohne Einfluss auf die Literatur seiner Heimat. Er wurde im Auslande, in Spanien vor allem, fast über Nacht berühmt, als man ihn in seinem Vaterlande noch kaum kannte. Die Heimat übernahm, ohne zu prüfen, das Urteil des Auslandes. Erst heute regen sich in der Jugend kritische Stimmen gegen ihn.
Von andrem Schlag war Rafael Barret. Er kam aus Spanien, angeekelt von der Jagd nach dem Golde. Seine Sympathie galt den armen Feldarbeitern. In Hunderten von kleinen Erzählungen, die unter dem Titel ‘Moralidades actuales’ gesammelt erschienen, zeichnete er scharf und heftig die Leiden der Armen. Sein leichter, flüssiger Stil, der alle Gedanken klar formulierte, zeigte ihn als