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Chilenische Literatur der Neuzeit van R. Kaltofen.
Bei jeder Betrachtung südamerikanischer Literatur ist eins vorauszuschicken: in den südamerikanischen Staaten stehen sich zwei völlig verschiedene Bevölkerungsgruppen gegenüber: einerseits die grosse Masse der Indianer, andereseits die eingewanderten Europäer, heute natürlich vielfach vermischt. Die Literatur der Indianer ist bis heute wenig erforscht. Den massgebenden Einfluss auf Staat und Gesellschaft besitzen die Eingewanderten, die die herrschende Schicht bilden. So steht auch die Literatur der herrschenden Schicht spanischer Zunge im Vordergrunde.
Mit dieser Einschränkung kann man die aJhrhundertwende als einen Wendepunkt chilenischer Literatur bezeichnen. Diese Zeit signaliert das Ende des Klassizismus. Moderne Strömungen halten ihren Einzug, vorbereitet von Petro Antonio Gonzalez 1895 durch sein Buch ‘Titmos’. Die absterbende Generation hatte keine hervortretenden schöpferischen Kräfte erzeugt, wenn man von Ruben Dario absieht. Das geistige Leben konzentrierte sich in wenigen Zirkeln: ‘Club de progresso’, ‘Certamen Varela’. ‘Atenea de Santiago’.
Dieses ohnehin schwache kulturelle Leben wurde durch die schwere Wirtschaftskrise des Jahres 1896 und den argentinischen Krieg völlig vernichtet. Erst 1901, als die politischen un wirtschaftlichen Verhältnisse sich stabilisiert haben, beginnt neues Leben sich zu regen. Seit jener Zeit ist sowohl Quantität, wie vor allem auch Qualität der Dichter gestiegen. Der französische Einfluss, der mit Ruben Dario begann, ist stark ausgeprägt, aber auch die nordischen und russischen Schriftsteller zeigen unver
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kennbar ihre Einwirkung. In letzter Zeit auch Zweig und Remarque. Romantische und symbolistische Strömungen beherrschten grosse Kreise der Schriftsteller. Der Stil wurde innerhalb der letzten 30 Jahre gepflegter, Rythmen und Versmass änderten sich vom Grund auf, bis zum freien Vers. Langsam gewannen Realismus und ein gewisser kreolischer Nationalismus Raum. Den Höhepunkt dieser raschen Entwicklung bilden die ‘Flores de Cardo’ von Prado 1909. Von da an treten alle europäischen Tendenzen und Richtungen in Erscheinung. Ueber Gabriela Mistral, Huidobro, Neruda kommen wir zur Gegenwart. Heute sind die Strömungen der chilenischen Literatur so zahlreich, dass es unmöglich ist, einer Richtung die Herrschaft zuzusprechen. Alle Tendenzen, alle Weltanschauungen ringen um den Vorrang. Altes stürzt, neues tritt hervor.
Vier Gestalten representieren die zeitgenössische Poesie Chiles: Huidobro, Gabriela Mistral, Domingo Silva und Pablo Neruda. Huidobro wurde 1893 geboren und entstammt einer alten Adelsfamilie. Heute, wo die Literatur in Chile fast das ausschliessliche Monopol des Mittelstandes ist, gehört er als adliger Scriftsteller zu den Ausnahmen. Seine 1910 erschienenen Gedichte ‘Seelenecho’ verraten den Einfluss Prados. Sein nächster Gedichtband ‘Nachtgedichte’ zeigt Anlehnung an Inclan. Die religiös sentimentalen Gedichte bezeugen ein grosses Talent. Seit seiner Europareise besitzt er einen internationalen Namen. An zweiter Stelle ist die frühere Landlehrerin Gabriela Mistral zu erwähnen. Sie huldigte anfangs teosofischen Anschauungen, orientierte sich aber im Laufe der Jahre immer stärker zum Katholizismus zurück. Ihr erstes Gedicht ‘Sonette des Todes’ wurde durch ‘Los juegos Florales’ in Santiago prämiert. 1916 erschien ‘Liebesfrühlung’. Bei ihr ist der Einfluss der chilenischen Schriftteller zu spüren, die sie eifrig gelesen hat. Im Gegensatz zu ihr zeigt Neruda (geb. 1902) französischen Einfluss. Er hatte engste Bindungen zu den fantastischen Malern und Assonanzmusikern. 4 Gedichtbücher wurden von ihm verlegt: ‘Die Dämmerung’, ‘Der Herbstschmetterling’, ‘Probe des unendlichen Menschen’ und ‘20 Liebesgedichte und ein verzweifeltes Lied’. Letzteres ist sein bestes Werk. Der volkstümlichste Poet aber bleibt Victor Dominga Silva (geb. 1882). In Literaterkreisen
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belächelt man seine einfachen Verse, in den breiten Volksmassen aber finden seine Lieder, die sich gut in freier Natur singen lassen, starken Widerall. Von ihnen strömt eine romantisch-freiheitliche Vitalität aus, die das Landleben der Nordprovinzen. wie der Arbeiter der Häfen und der Salzsteppen verkünden. 1903 erschien ‘Bis daher’, ein Band Gedichte in dem die ‘Neue Marseilleise’, ‘Was mir die Aehren sagten’ u.a. stehen.
Von den übrigen Poeten seien nur einige Namen angeführt, die im Laufe der Jahre hervortraten: Cruchaga Santa Maria, Magellanes Moure, Carlos Mondaca, Hübener Bezanila, Max Jara Guzman Zruchaga.
Auf dem Gebiete der Prosa wurde der Einfluss der russischen Literatur am Beginn des Jahrhunderts durch eine Tolstoianerkolonie begründet. In San Bernardo errichteten eine Gruppe junger Künstler ein Häuschen und führten ein seltsames Bohemenleben. Ihr Wortführer war Thompson, von dem sonst kein Einfluss zurückgeblieben ist. Sie waren Vegetarier und besorgten alles nötige selbst. Bei ihren nächtlichen Spaziergängen sprach Thompson von den ‘Träumen, die die einzigen Früchte seien, die am Mondlicht reifen.’ Aus dieser Gruppe sind später Halmar, Maluenda und Sartivan hervorgegangen, denen der melancholische Einschlag Tolstois anhaftet. Auf eine Anzahl andrer Schriftsteller wieder ist der Einfluss Eca de Queiros unverkennbar, wie bei Bello und Espejo. Ausdruck der chilenischen Frauenemancipation ist Ines Echverria de Larrais. Als Aristokratin und Katholikin war es im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts für eine Frau unmöglich zu schreiben. So erschien ihre Schilderung einer Pilgerfahrt nach dem heiligen Land ‘Nach dem Orient’ (1905) anonym. Das Buch ist seiner Tendenz nach mystisch. Doch sind die Personen gut beobachtet und die Schriftstellerin gibt lebendige Silhouetten. Die nächsten Jahre brachten auch in Chile der Frau die persönliche Gleichberechtigung. Seitdem schreibt Echverria als ‘Iris’, vor allem Theaterkritiken und Satyren auf Bräuche. 4 Bücher begründeten ihren Ruhm: ‘Theatrale Bewegungen’, eine Sammlung synthetischer Studien’, ‘Gefallene Blätter, ein ausgezeichnetes Tagebuch’, ‘Jungfräuliche Erde’, die Reiseschilderung als dem australischen Wald, und ‘Flüchtige Profile’, ein Buch von Frauengestalten. Inzwischen wurde
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von ihr noch ein Roman ‘Zwischen 2 Welten’, den sie in fransösisch schrieb, und eine Anzahl Erzählungen ‘Feierabend’ bekannt.
Aus der Tolstoikolonie kommt A. d'Halmar (geb. 1880). 1910 erschien ‘Die Lampe in der Mühle’, eine übertrieben mystische Erzählung. Seine Tätigkeit als Konsul in Indien übte auch auf sein literarisches Schaffen starken Einfluss aus. ‘Nirwana’ betitelt sich eine Sammlung von Fragmenten. Werke voll dekorativer Malerei und Wohlklang, die im übrigen fast ermüdend melancholisch sind. Das südliche Leben Sevillas durchdringt den Roman ‘Leidenschaft und Tot des Pfarrers Deusto.’ Ein baskischer Pfarre wird in eine Pfarre von Sevilla versetzt. Eine Liebe, der er nicht entrinnen kann, treibt ihm in den Tod. Rings um ihn sind Künstler, Komödianten, Torreros temperamentvoll gestaltet. Ein andrer Schüler der Tolstoigruppe ist Maluenda (geb. 1885). Auch bei ihm merkt man das Sentimentale des russischen Romans. 1901 kam sein Buch ‘Szenen aus dem Landleben.’ Landschaft und Menschen weiss er zu gestalten, oft mit einen Anklang an Maupassant. Ein neueres Werk sind ‘Die Blinden’ mit der glänzenden Erzählung ‘Elvisa’.
Der Bahnbrecher des Modernismus wurde 1908 durch seine Gedichte in Prosa ‘Disteln’ Petro Prado. Sie besassen keinen Rythmus, keine äussere Musik, nichts, was man bisher gewohnt war. Prado verliess völlig die altherkömmlichen Gedichtstemen. Er sprach niemals von Liebe, Sonne oder Mond. Die folgende Bücher ‘die irrenden Vögel’, ‘das verlassene Haus’ schufen ihm einen begeisterten Anhänerkreis. Im Lande nannte man es Literatur, die man nicht versteht. Prado ist Esthet, ein ausgezeichneter Stilist. 1916 scharte sich um ihn ein Kreis von Malern, Architekten, Musikern, Literater; alles überschwengliche Gesellen. Sie gründeten den Bund ‘Die Zehn’, veranstalten Bilderausstellungen und gaben eine Zeitschrift heraus. Von Prado selbst erschienen in der Folgezeit lyrische Fabeln ‘Alsino’. Eine kleine poetische Geschichte, die ein Idill auf der fernen Osterinsel malt, ist die ‘Königin von Rapa Nui’. Von einem Magister, wie es Prado früher selbst war, erzählt ironisch ‘Das ländliche Spiel’.
Dem literarischen Schaffen steht heute Labarca Hubertson fern. Als 1910 der ersten Romanpreis der chilenischen Literatur ver- | |
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teilt wurde, waren die Meinungen geteilt, welchem der 2 Bücher Labarcas der Preis zukäme: ‘Chilenischer Herd’ oder ‘Blick auf den Ozean’. Wie so oft, hat die Zeit dem damaligen Urteil unrecht gegeben. Das erste preisgekrönte Werk ist vergessen, während das zweite frisch undl ebendig ist. In Spanien kam jetzt die 2. Auflage heraus. Der Roman hat kaum Handlung. Ein junger Bursche muss in einer Küstenfestung seine Militärdienstzeit erfüllen. Dieser erzählt sein und seiner Kameradden eintöniges Leben in der entlegenen Befestigung.
Die aufkeimende kreolische Literatur fand ihren besten Vertreter in A. Latorre. Ist Prado Symbolist und Imaginist, so gehört Latorre zu den Realisten. 1912 trat er mit den ‘Geschichten von Maule’ vor die Oeffentlichkeit. Ihnen folgten 1929 ‘Chilener vom Meer ‘die Wiege der Kondore’ und ‘Zurzulita’, ein Feldroman. Mit gewissenhafter Treue skizziert er das Leben des Volkes, das es sicher zu schildern versteht. Ausgezeichnet kennt er die Landschaft seiner Heimat und spart nicht mit Bildern aus dem Landleben. Ihm ähnlich zeigten sich F. Gana, G. Labarca, Espinosa und Maluenda, als Naturalisten. Kräftige einfache Schilderung des Landlebens gelingen auch Marta Brunet Ihr erstes und bisher bestes Werk ‘Der Berg drinnen’ enthält zahlreiche volkstümliche Szenen mit reichen Details und ist durch seinen flüssigen Stil wie fürs Theater geschaffen.
Gesellschaftskritische Tendenzen treten bei Orrego Luco auf. Seine ersten Bücher ‘Amerikanische Seiten’ (1892) und ‘Pandereta’ (1896) zeigten ihn als Schriftsteller von Nerv und Qualität. 1900 erschien sein Roman ‘Neue Idille’, der den französischen Einfluss (Bourget) zeigt. Der Roman war ein Spiegel der Bräuche und Sitten der oberen chilenischen Gesellschaft. Er fand eine sehr ungünstige Kritik, was den Autor aber nicht hinderte, 1908 seine Fortsetzung in dem Roman ‘Das grosse Haus’ folgen zu lassen. Das neue Werk rief einen allgmeinen Skandal hervor. Aehnlich erging es Edwards Bello (geb. 1888), der in Paris aufgewachsen, französische Anklänge mitbringt obwohl sein Hauptvorbilder Queiroz und Ibañez sind. Letzterer bezeichnete ihn als den zukünftigen Schriftsteller Südamerikas. Furchtbar schwer wurde ihm sein Aufstieg gemact. Als 1909 sein Roman ‘Der Ueberflüssige’ herauskam - eine Schilderung des Lebens der Aristo- | |
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kratie - empfing ihn verbissenes Schweiges und teilweise offener Groll. Um den Schriftsteller unschädlich zu machen, zerrte man Allzupersönliches hervor, beschuldigte ihn aller möglichen Perversitäten. Die Seinen zogen sich von ihm zurück, die intellektuellen Zirkel nahmen ihn nicht auf. Seine ‘Tragödie der Titanic’ ist eine flammende Vision der Katastrofe, die in wenigen Stunden improvisiert wurde. ‘3 Monate in Rio Janeiro’ ist eine Reisechronik mit sehr kräftigem Kolorit. Seine bekannteste Novelle ‘Der Lump’ erlebte seit 1920 bereits 4 Auflagen. Alle seine Bücher (wie ‘Kap Polonio’, ‘Tacna y Arrica’, ‘Geschichten in allen Farben’) wissen den Leser selbst gegen seinen Willen mitzureissen. Bello steht dem Ultraismus und Dadaismus sympathisch
gegenüber. Er fühlt sich bisweilen als Volksführer und geniesst grosse Sympathien.
Zum Gesellschaftskritiker hat sich auch F. Santivan (geb. 1886) entwickelt, der früher zur Tolstoikolonie gehörte. Sein damaliges Buch ‘Pulsschlag des Lebens’ verrät den melancholischen russischen Einschlag. Später gewann ‘Iris’ grossen Einfluss auf ihn. Dieser Epoche verdankt ‘Die Behexte’ (1916) ihre Entstehung Es ist eine frische, graziöse Dorfsgeschichte. Inzwischen wandte er sich anderen Themen zu. 1920 erschien der Roman ‘Der Schmelztiegel’, ein scharfer Angriff gegen die oberen Gesellschaftsschichten, dem 1922 in ‘Robles, Blume & Co.’ eine Fortsetzung folgte. In der Skizzierung der Charaktere hat er hier wieder die Volkommenhaft gefunden, wie er sie in der ‘Behexten’ erreichte.
Abseits aller literarischen Kreise schaffte Baldomero Lillo (1867-1923). 1906 erschienen seine Erzählungen ‘Unter der Erde’. Hier zeigt er sich als der starke Schilderer der Kohlenbergwerke. Das ganze Elend der Arbeiter, die nur schuften, um die Wollust der Reichen zu erhöhen, wird vor uns lebendig. Unter den Jungen kommt Gonzalez Vera (geb. 1897) aus Proletarier-kreisen. Er war früher Schuster, heute verdient er sein Brot im Handel mit Lederartikeln. ‘Winzige Leben’ schildert das menschliche Elend mit realistischer Treue. ‘In Alhue’ erwacht vor uns das Leben eines einsamen Dorfes, in dem nichts passiert. Ein alter Mann lebt dort. Er schreibt einen Brief: in welchem Jahr sind wir jetzt? Die Schilderung ist sehr amusant.
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Landarbeiter, Wegarbeiter, Lastträger in Valparaiso war M. Rojas (geb. 1893), der mit viel menschlicher Wärme in freien Versen ultramodernen Stiles das Leben und merkwerdige Typen beschreibt: ‘Der Mann mit den blauen Augen’, ‘Menschen des Südens’, ‘Der Deliquent’.
Unter den im Laufe des letzten Jahres neu aufgetauchten Literaten muss man Alberto Romero beachten. In seinem Buch ‘Bordelwittwe’ zeigt er das Leben und die Liebe einer armen Frau, die die Not zum Bordellgewerbe zwang, dem sie nicht mehr entrinnen kann. Die Bewohner der Küste sind S. Reyes (geb. 1902) Lieblingspersonen. Sein ‘Jüdisches Schiff’ lehnt sich an Rimbaud an, während die Matrosengeschichten ‘der letzte Pirat’ von Farrères beeinflusst sind. Er hat einen flotten, ansprechenden Stil, ohne jede unnötige Breite. Von Eugen Gonzalez (geb. 1904) kam 1930 ein Buch ‘Weiter draussen’ heraus. Eine Schilderung südamerikanischen Küsten- und Hafenlebens, das den Einfluss Zweigs und Remarques verrät.
Zum Schluss sei nur auf die Kritiker A. Donoso, Oldini, A. Labarca Hubertson und D. Arrieta hingewiesen.
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