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[De Nieuwe Gids. Jaargang 45. Deel 2]
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Gezelle, der Westflämische Dichter
Szenen aus seinem Leben van Elisabeth Augustin.
Das Kindlein.
‘Jesu-Christ!’ kreischt die stämmige Wehmutter, wie das kleine Menschlein endlich mit seinem völlig verdrehten schweren Kopf brührot vor ihr auf dem Linnen liegt. Sie schlägt in Hast ein Kreuz und wirft ein Tuch über das Neugeborene, das mit einem Male zu schreien beginnt, zu schreien mit seinem schwachen Stimmchen, als ob es die Hölle im Leibe habe.
‘Still - stille doch!’ Die Frau packt das Würmchen in die vorgewärmte Wiege und tritt neben die Mutter, die mit geschlossenen Augen daliegt, ein gelöstes Lächeln um den müden Mund. Nein, sie hat es noch nicht gesehen, ihr Erstgeborenes. Gut so. Das hat noch Zeit, bis sie wieder bei Kräften ist. - Aber die junge Frau schreckt auf, wie aus einem friedvollen Traum. Ihre Augen irren zwischen den Wänden umher, an dem kleinen Fensterchen vorbei, durch das sie helle Wolken wie eilende Segelboote dahinziehen sieht. Sie versucht, sich aufzurichten und blickt hilfeheischend zu der Nachbarin auf.
‘Das - Kind - das Kind. Wo? Ist es - tot?’
Die Frau lächelt beruhigend.
‘I wo doch Frau! Gesund und kräftig. Ein Junge!’
Aber die Mutter lässt sich nicht hinhalten. Sie wil ihn sehen, ihren ersten Jungen! Sie glaubt der Frau nicht. Sie hat Angst, Angst urn ihr Kind.
Die Wehmutter muss ihr endlich den Willen tun. Behutsam
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hebt sie das wimmernde Bündelchen aus seinen Kissen und hält es der Mutter hin.
Und Monica Devriese starrt auf ihr Kind, auf das zarte Geschöpfchen mit dem schwer herabhängenden dunklen Kopf, diesem grossen verdrehten Kopf und auf das schmerzverzogene Mäulchen, das zittert vor Weinen und in das sich die roten Fäustchen hineinzubohren versuchen. Sie starrt und schweigt.
Eine Träne tropft auf ihre Hand.
‘Das wird schon noch mit dem Kopf’, sagt die Nachbarin munter. Aber die junge Mutter schüttelt in ohnmächtigem Schmerz den Kopf und presst die Lippen aufeinander, um das Schluchzen zurückzuhalten, das aus ihr herausbrechen will.
‘Das Kind - das arme arme Kind!’
Und wie in diesem Moment leise und vorsichtig die Tür geöffnet wird und das besorgte Gesicht des Gärtners hereinschaut, wendet sie sich um zur Wand und faltet die Hände zum Gebet.
Auf allen Vieren kriecht der kleine Guido auf dem schmalen Weg zwischen den Beeten herum. Er hält inne um einen braunen Käfer zu betrachten, der sich holpernd über die rollenden Sandkörnchen hinbewegt und kräht vor Freude:
‘Käfer! Käfer!’
Der Vater ruht einen Moment aus, den Arm auf den Spatengriff gestützt. Er lacht seinem Jungen zu.
Das Kerlchen lacht und patscht mit den Händen im Sand.
‘bumm-bumm!’ wiederholt es.
Die Mutter tritt vor die Tür, nach dem Jungen zu sehen.
‘Nicht so bücken, Guido!’ ruft sie mahnend, aber Vater Gezelle schüttelt begütigend den Kopf.
‘Lass ihn nur, die Bewegung und die Luft sind gute Arznei für ihn! Es wird besser mit ihm, immer besser.’
Sie blickt über den Garten hin, über die bunten Flammen der
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Tulpen, das sommerliche Grün der Bäume und Sträucher. Wie friedlich war es doch abends in ihrem Garten! Die ganze Strasse war still. Überall sassen die Leute vor ihren Türen oder gegen die Hofmauer gelehnt, versunken in den Frieden dieses ländlichen Viertels der alten Stadt Brügge.
Gedankenverloren holt sie ihr kleines Pfeifchen aus der Tasche, füllt es aus einem Beutelchen mit Tabaksblättern und bläst die blauen Rauchwölkchen vor sich hin. Ihr stilles schmales Gesicht hat etwas kindliches noch, aber ihr Leib wölbt sich wieder hoch unter dem bauschigen Rock. Sie erwartet ihr zweites Kind....
Falter taumeln über die Blüten, haschen einander in der Luft, vereinen sich im Spiel und flattern wieder auseinander, mit erregt wirrenden Flügeln.
Das Kind greift nach den Flüchtigen, verfolgt ihren Flug mit sinnendem Blick. Es berührt einen Schmetterlingsflügel mit dem Finger, zieht ihn erschrocken zurück vor dem zarten enteilenden Gefieder und starrt mit Staunen auf den Rest gelben Staubes, der von der Berührung zurückgeblieben ist. Staub - - Die Flügel zergehen. Das Kind begreift es, und seine Augen werden dunkel vor Leid....
Wie in einem Wunderland, einem zum Leben erwachten Bilderbuch, gehen dem Kinde die Tage im Garten des Vaters dahin. Was ist es nur, was so seltsam ans Herz greift in dieser Welt? Ist es der Duft der Blumen? Ihre Farbe? Ihre Form? Der Kleine weiss es nicht. Er kennt es nicht anders, aber er spürt doch das Besondere, das - Heilige darin. Er wird still und lauscht auf etwas in ihm. Auf eine Stimme, die nicht wie die des Vaters oder der Mutter ist.
Und immer schreckt er auf, wenn ein Laut von draussen den Frieden seines kleinen Reiches zerstört. Was ist das doch immer für Lärm auf den Strassen? Männerstimmen singen irgendwo in der Stadt, Schritte stampfen durch die Gassen und dumpfe Schüsse hallen oft weit herüber.
Einmal ziehen sie sogar vorbei vor Vater Gezelles Haus: Bewaffnete Männer mit verwegenen Gesichtern. Drüben vom Türmlein des St. Sebastian und von der runden Kuppel der Kirche des Englischen Klosters schallt Glockengeläut ineinander. Die Mutter tritt vor das Haus, schlägt ein Kreuz für sich und eins
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über den Buben und drückt ihn gegen ihren Rock, während die Männer noch immer vorüberstampfen und zu singen anheben mit ihren rauhen ungefügen Stimmen.
Doch Guido ringt sich los von der Hand der Mutter und rennt an das Tor der Gartenmauer. Etwas ist in dem Singen, das in ihm fortklingt. Das ihn mitreisst. Von Freiheit singen sie - von Freiheit - Flandern sei frei von fremdem Joch. Frei?....
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Kirchhofblumen.
Der junge Professor der Poetik hat seine Schülerschar um sich versammelt und beginnt nun mit ihr die Wanderung nach dem Hause der van den Bussche zu Staden. Das Herz klopft ihm vor Freude, dass er seinen Willen, mit der ganzen Klasse zum Trauerhause zu gehen, in dem ihr Mitschüler Eduard van den Bussche am 3. Mai gestorben war, beim Superior Frutsaert durchgerungen hat.
Ja, sie sollen mit ihm hingehen! Sollen einmal heraus aus den Lehrstuben in die freie herrliche Gottesnatur; sie sollen den erhabenen Tod sehen - sehen, dass er nichts Hässliches, nichts Gewaltsames hat, sondern dass er den Menschen nur hinausträgt aus diesem Dasein, hinaus und hinauf in den ewigen Frieden.
Deshalb will er auch sprechen am Grabe. Sie sollen es in Erinnerung behalten ihr Lebtag lang, wie einer der Ihren zu Grabe getragen wurde. Sie sollen es nie vergessen und gedenken an das Ende, an das Endliche des Menschenlebens. Denn das muss sie reif machen. Reif und still -
Sie wandern schweigend und leicht durch den Lenz. Sie beten für den Dahingeschiedenen.
Die Sonne vergoldet die Felder und Wiesen. In Blüte stehen die Bäume, wie besteckt mit hunderten kleiner weisser Schmetterlinge. Die Vögel fliegen in weiten Bögen durch die klare Luft und mit Eile von Zweig zu Zweig.
Und aus der Weite dieser lebenspendenden Landschaft treten sie nun ein in den verlassenen Hof des Bauernguts, wo der Wagen bereit steht, den Leichnam hinauszufahren und wo das Kreuz aus geflochtenem Stroh wie ein Mahnruf den Ankommenden entgegensieht.
Die Mutter begrüsst die Gäste mit rotverweinten Augen, erregt
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und mit Entschuldigungen wegen der Unordnung, in der das ganze Haus an diesem Tage steckt. Sie läuft nach Stühlen umher - blind vor Tränen.
Und nun gehen sie leise in die Stube, wo der alte Vater, selbst sterbenskrank, zu Bett liegt und jammert: ‘Eduard - ach mein Eduard doch!’ Sie sind erschüttert und stumm. Sie knieen betend am Sarg und gehen mit ihren jungen Gesichtern ernst im Trauerzug. Voran schwankt das Strohkreuz auf dem langsamen Weg durch die grünen weiten Kornfelder von Staden.
In der kleinen Kirche wohnen sie ergriffen dem Gottesdienst bei. Das ‘In Paradisum deducant te Angeli’ hallt durch das Haus.
Langsam tragen sie den Sarg durch die Grabreihen hindurch zu dem frisch ausgeschaufelten Erdreich hin. Der junge Priester sieht auf den Sarg herab und beginnt zu sprechen.
‘Meine geliebten und teuren Schüler! Es ist meine Pflicht, alle Tage unter euch das Wort zu führen. Heute, da wir nicht mehr in der stillen Schule verblieben, sondern zusammen am Rande eines Grabes stehen, heute soll ich trotzdem diese meine Pflicht nicht versäumen und euch hier meine tägliche Lektion erteilen. Doch was soll ich sprechen, wo alles um uns her eine so deutliche Sprache führt!’
Seine tiefen Augen leuchten auf. Aller, aller Blicke hängen an seinen Lippen und aller Blicke richten sich nun auf das zarte Grün der Bäume und Sträucher ringsum und auf die Blütenpracht, die aus dem Vergehen hervorgekommen ist - aus dem Tode gewonnenes Leben - ewiges Leben -
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Kanonik von Jerusalem.
Und nun endlich ist es so wreit! Nun soll Gezelle sprechen - die Fastenpredigt halten über die Leiden des Herrn - er, der vor kurzem erst zum ‘Kanonikus des Heiligen Grabes’ Ernannte. Sein Herz ist weit und jubelnd aufgetan. Es ist bereit, einzugehen im Herrn, nachzuleiden, was ihm widerfuhr. Nach all dem Dunkel, nach der Nacht all der schweren Jahre diese Helle! Diese Ehrung!
‘Du Kanonik von Jerusalem, wirst es am besten tun von allen!’ hat der Superior von Rousselare ihm gesagt und nun schwingt sein Herz wie eine Glocke über eine weite Leere hinweg. Zitternd
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und bleich steigt er die Stufen empor und wirft einen Blick auf die Kirche: Da sitzen vorn die hohen Herren, die Professoren des Seminars mit ihren verschlossenen Mienen. Dahinter die Studenten in feierlicher Würde und dort hinten rundum die Leute alle, die er kennt von seinen Spaziergängen durch das Städtchen her. Sie alle sind gekommen - festlich gekleidet - ihn zu hören. Noch einmal flutet die Begeisterung, der Stolz über ihn hinweg. Aber dann, wie er anheben will, wird er klein und zag. Vor ihnen soll er sprechen, denen er einmal die Türen geöffnet hat, wie er noch Pförtner war, um sein Kostgeld im Seminar zu verdienen? Vor all diesen kritischen Herren, die ihn verachten und gegen ihn aufbegehren, weil sie seine Wege nicht verstehen, seinen Lehren nicht folgen mögen -
Leise und mutlos beginnt er. Seine Stimme zittert, sein Blick ist niedergerichtet.
‘Der Tempel von Jerusalem hat viele Vorhöfe mit vielen Säulen bestellt, aus weissem Marmor, an manchen Stellen vier Reihen tief und von grosser Länge; es gibt da zudem eine Treppe mit fünfzehn Stufen, und seht, da steigt ein Mann diese Treppe hinauf, einen Jüngling hinter sich. Der erste ist ein Priester und der zweite ein Levit....’
Stille - Stille in der Kirche. Sie sitzen und lauschen. Vor ihren Augen baut es sich auf wie er es ihnen ausmalt, dieses Jerusalem:
‘Der Priester entledigt sich seiner Schuhe, die der Jüngling ihm nachträgt. Wie er die Treppe erklommen hat, sieht er es gleich einem zweiten Tempel um sich. Wieder Säulen um ihn. wie drunten. Und nun noch eine Treppe hinauf, und er steht auf dem Betplatz, wo hier die Frauen, dort die Männer stehen und die Psalmen Davids singen. Und sie bleiben bei den Männern, die sich um die Schriftgelehrten drängen, bei denen ein Kind, ein zwölfjähriger Knabe ist und ihnen Fragen stellt. Fragen - auf die sie die Antwort schuldig bleiben....’
Immer mehr nimmt ihn seine Schilderung gefangen. Er spricht und spricht, berauscht von den Bildern, die vor seinen Augen erstehen. Er hat längst vergessen, dass sie da unten sitzen und ihm die Ehre missgönnen, die ihm der Superior angetan hat mit dieser Predigt. Er wächst weit hinaus über sie alle, über sich selbst.
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Er ist mehr als Lehrer, mehr als Priester jetzt. Er ist wieder Dichter wie in seinen begnadetsten Stunden.
Und ein Aufstöhnen geht durch die Menge, wie er geendet hat. Sie erwachen wie aus einem Traum und schämen sich, einander anzusehen. Still verlassen sie das Haus -
Und am zweiten Tage, am Sonntag, kann die Kirche sie kaum alle fassen, die herbeieilen, diesen jungen Priester zu hören, dessen Reden in aller Munde sind -
Wieder spricht er und beschwört die Bilder herauf wie aus der Tiefe lebendiger Erinnerung. Seine Hände zittern, seine Augen sehen mit Entsetzen die Leiden des Herrn, die er beschreibt. Bleich wie der Tod steht er droben und seine Stimme geht wie ein Sturm über die gesenkten Köpfe hinweg.
‘....Jesus sah von seinem Kreuz herab auf all die Völker von damals und von später als ob sie ihm alle gegenwärtig seien. Er hing da, auf dem Kreuzpunkt von den drei Weltteilen, die man kannte: Asien, Afrika und Europa. Asien war da sowieso vertreten. Auch wohl das schwarze Afrika, sicher, unter den Henkersknechten, und Europa in den römischen Soldaten. Wer weiss ob da unter ihnen keine aus unserem Westen waren, aus Flandern vielleicht, das Cäsar erobert hatte. Jesu Angesicht war nach Europa gerichtet, der Art entsprechend, auf die das Kreuz geplant war. Da unser Herr auch weit in die Zeiten voraussah, ist nicht daran zu zweifeln, das er auch Amerika sah, das neue Weltteil, das einst durch Christoph Columbus entdeckt werden musste, - ein Name der uns erinnert an Christus und an die Taube, denn wie die Taube den Ölzweig zu Noahs Arche trug, so trug er Christi Lehre in die ungekannten Gebiete....’
So spricht er, so sieht er es vor sich. Und sie lauschen, hingerissen, im Banne des Priesters da oben. Die Sonne bricht durch das Fensterglas - es ist, als lausche Gott selber dieser Stimme, die bebt vor Erregung und Mitleiden....
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Die Zeit ist um......
Und nun steht der alte Priester wieder im alten Brügge, im Englischen Kloster vor den um ihn versammelten Damen in ihren festlich weissen Gewändern. Er sieht sie an mit seinem gütigen
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Blick, der ihm alle Herzen gewinnt, er senkt das graue Haupt, lauscht in sich hinein und lächelt.
Sie blicken alle zu ihm auf, ergriffen von dem Milden, Sanften, Versöhnlichen, das von ihm ausstrahlt. Es ist etwas um ihn, um den ‘Chaplain’, den alten ehrwürdigen Priester - etwas Schicksalhaftes, Gewaltiges, Erhabenes und zugleich so unendlich Menschliches. Eine Atmosphäre, die schon an das Jenseits von Gut und Böse gemahnt....
Sie schweigen alle, da er lächelnd zu ihnen zu sprechen beginnt mit leiser aber heiterer Stimme.
‘Da bin ich nun endlich in das Englische Kloster hineingeraten, wohin ich so lange Jahre zu kommen wünschte; es wurde mir ja immer verweigert....’
Ja - erst alt und schwach musste er werden, um wieder in sein geliebtes Brügge zu kommen, denkt er. Aber dieses Denken schmerzt nicht mehr. Er steht wirklich schon über der Grenze. Es tat weh, von Kortrijk, von all den Freunden fortzugehen und er weiss - oh, er weiss, dass er nun bald eingehen muss wie ein alter Baum, den man zu spät noch verpflanzt hat! Aber was tut das nun? Seine Zeit ist um. Sein Leben ist bitter und ist kostbar gewesen. Es liegt hinter ihm. Er ist müde. Er hat sein Teil vollbracht auf dieser Welt - er sehnt sich danach, einzugehen in den ewigen Frieden des Herrn. - Und doch - es war gut von den Menschen, dass sie ihn noch hierhergebracht hatten, ihn zu ehren. Gut -
Lächelnd blickt er zu dem Bischof hinüber, der ihn in den Saal geführt hat, wo die alten herrlichen Bilder hängen: Rubens und Jordaens, Murillo, Correggio, Teniers und Seghers. Welche Pracht um ihn....
‘Ihr müsst wissen’, wendet er sich wieder an die lauschenden Klosterschwestern, ‘mein Vater war hier Gärtner und als kleiner Junge ging ich morgens mit ihm mit bis an die Tür, aber dann musste ich zurück, denn nur der Vater durfte eintreten.’
Lächeln sie? Ja, sie lächeln - untex Tränen. Sie sehen ihn vor sich als kleines Bürschlein, das sehnsüchtig vor der Pforte steht und es sich da drinnen so herrlich vorstellt, voller Gold und zauberhafter Blumen vielleicht aus buntem Kristall....
Tränen -
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Der alte Priester senkt wieder das Haupt und schweigt. Er fühlt es plötzlich wieder in den Gliedern, dies Schwache, Hilflose. Langsam verlässt er den Saal - vorbei an den Schwestern, die ehrfürchtig vor ihm zurückweichen.
Ruhelos geht er in seiner Wohnung hin und her. Es leidet ihn nicht in diesen grossen Räumen. Sie taugen nicht für ihn, den schlichten Diener der Kirche. Er greift nach dem Stock und verlässt gebeugt das Haus. Vorbei an dem grossen grauen Gebäude, die alte Carmerstrate entlang, vorbei am alten Haus der St. Sebastiansgilde mit ihrem Türmchen. Und da taucht der bekannte Rolleweg auf, das holperige Pflaster mit all dem Moos und Gras zwischen den Steinen und mit den Brennesselbüschen am Mauerrand, Mauern, blinde Mauern mit grossen Höfen dahinter.
Und hier das alte Bauernhaus aus der Zeit der frommen Genuesischen Familie der Adornes, von denen auch die Jerusalemkirche erbaut wurde.
Der alte Mann steht vor der hohen, in zwei Hälften geteilten Eingangstür und blickt mit umschleierten Augen hinauf zu dem spitzen Giebel und den beiden Fenstern an den Seiten. Er sucht die hohe Mauer aus buntem Backstein ab, als könne er darauf noch Buchstaben und Worte finden, die eine Kinderhand dort eingeritzt. Vor - sechzig - fünfundsechzig Jahren -
Er nickt - nickt und geht langsam die stille Strasse hinunter. Vorüber an den sechs weissgekalkten ‘Gotteshäuschen’ mit dem hohen Giebelfenster, in denen je zwei alte Mütterchen wohnen, um der Gnade Christi willen hier aufgenommen und versorgt. Er wandert durch die Jerusalemstrate, an der Kirche mit dem orientalischen Halbmond und dem Kreuz vorbei. Fremde begegnen ihm - er kennt sie nicht. Die hier wohnten damals - ach, die sind alle tot oder von dannen gezogen. Viele sind ja damals schon dahingegangen, als der Typhus wütete - damals - als sein Vater ihm das Studium im Seminar zu Rousselare beim Kanonikus Bernard Nachtegaele erwirkte....
Erinnerungen, wo er den Fuss hinsetzt in dieser Stadt. Und plötzlich beginnt er rüstiger auszuschreiten. Es treibt ihn an. Fort aus diesem Osten von Brügge, in dem die alten Gesichter aus dem Schatten hervordämmern und ihn umlauern. Fort.
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Er läutet an der Tür beim Kanonik Rommel, seinem alten Schüler. Sein Herz schlägt bang, wie er auf den Getreuen im Vorzimmer wartet. Nun öffnet sich die Tür, nun eilt Rommel auf seinen alten Lehrer zu und umarmt ihn. Seine Augen strahlen.
‘Wieder in Brügge!’ ruft er bewegt.
Aber Gezelle schüttelt wehmütig den Kopf.
‘Ich bin zu alt, um von neuem zu beginnen. Das ist das Ärgste.’
Der Kanonikus drückt ihn in den Sessel nieder und hält seine Hand.
‘Nicht doch - denkt an Leo den Dreizehnten, der auch in die Sechzig ging, als er Papst wurde, und das ist er nun schon einundzwanzig Jahre lang!’
Nun lächelt der alte Priester doch wieder und richtet sich auf.
‘Ja’, sagt er versonnen und in neuer Hoffnung, ‘ich kann wohl noch fruchtbare Arbeit hier leisten.’
Und er geht mit raschen Schritten durch die alte Stadt, geht zu Freunden und Verwandten und wiederholt, was er vorher dem Kanonikus Rommel gesagt hat:
‘Ja - ich kann wohl noch fruchtbare Arbeit hier leisten.’
Aber langsam, mit dem letzten Schein der untergehenden Sonne, verlischt der frohe Glaube in ihm und müde und traurig kehrt er zurück in seine Zimmer, die ihm erscheinen wie ein viel zu schönes weites Gewand....
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