Literatuur Zonder Leeftijd. Jaargang 12
(1998)– [tijdschrift] Literatuur zonder leeftijd– Auteursrechtelijk beschermd
[pagina 77]
| |
Klaus Kordons Trilogie über deutsche Zeitgeschichte 1918-1945
| |
[pagina 78]
| |
[pagina 79]
| |
ist. Helle, noch im KZ, tritt erst nach seiner Entlassung in der zweiten Hälfte des Romans wieder in Erscheinung (S. 305). Zentrum und Angelpunkt der Trilogie ist also die ganze Familie Gebhardt, um die sich die Welt dreht, oder die vielmehr zwischen die Mühlsteine der deutschen Geschichte gerät. Der Vater ist innerlich und als KPD-Mitglied zunächst auch äußerlich ein überzeugter Kommunist. Seine Frau fühlt mit ihm, wenn auch mit größerer Nüchternheit. Auch für Helle, den Ältesten, ist in Vaters Nachfolge die gleiche Einstellung und Parteimitgliedschaft selbstverständlich. Hans schafft sich schon mehr Freiraum, er ist nicht Kommunist, allerdings nach der Familientradition ebenfalls linksstehend und bezieht durch seine Untergrundtätigkeit eindeutig Stellung. Einzig Martha schert aus der ziemlich geschlossenen roten Kampflinie aus - sie will besser leben und heiratet einen SA-Mann, worauf sie von der Familie geächtet wird. Die Familie Gebhardt ist also fast eine kommunistische Musterfamilie. Daher wohnt sie im Wedding, einem der berüchtigten Berliner Mietskasernenviertel für die ärmeren Leute, und zwar, wie es sich für Proletarier der damaligen Zeit gehört, in einem der Hinterhäuser. Die Ackerstraße gibt es wirklich, und natürlich ist in die drei Romane Kordons genaue Kenntnis der Berliner Verhältnisse eingeflossen. Ihm selbst, der zeitweilig Arbeiter war, ist auch das proletarische Milieu nicht fremd. Und dennoch konnte er als erst 1943 Geborener weder die Jahre 1918 und 1932, noch bewußt das Jahr 1945 aus eigener Anschauung schildern. Diese spürt man mehr in seinen früheren Romanen, welche die Nachkriegszeit zum Thema haben (Ein Trümmersommer, Frank guck in die Luft). Details aus der Geschichte seiner eigenen Familie mögen immerhin in seine Erzählungen eingeflossen sein. Doch spielt das alles keine entscheidende Rolle, denn einen sozialkritischen Roman, sozusagen einen proletarischen Gegenentwurf zu den Buddenbrooks, wollte Kordon offensichtlich nicht schreiben, diese Trilogie ist nichts anderes als ein Panorama der politisch linksgerichteten Vorstellungen und Hoffnungen, wie sie von einem Teil der deutschen Arbeiterschaft gehegt wurden. In der Familie und ihrem Freundeskreis sind wie zufällig fast alle Spielarten politisch linker Anschauungen vertreten. Der Vater, ein alter Spartakist, steht den Überzeugungen der USPD für den Geschmack seiner Parteigenossen zu nahe, was zu seinem Parteiausschluß führt. Sein Sohn Helle gehört zu den prinzipientreuen, aber demokratisch eingestellten Parteigenossen, dessen Freund Ede verkörpert | |
[pagina 80]
| |
[pagina 81]
| |
dagegen die unbeugsame Betongesinnung der Stalinisten um Thälmann. Leierkastenmann Oswin wirbt tapfer, aber erfolglos um Verständnis für die sozialdemokratische Regierung. Mehr am Rand treten noch andere linke Spielarten politischer Anschauung in Erscheinung, etwa Willi Westhoff als Parteigänger der SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) oder Winni Zielke, der für die aggressiven Prügeltypen unter den Kommunisten steht, die ihr Plätzchen auch bei der SA gefunden hätten. Man spürt genau, daß Martha und ihr SA-Freund als Kontrast einfach mit hinein in dieses Panorama gehörte, damit Kordon an ihnen die Gegenposition wenigstens kursorisch demonstrieren konnte.
Genau getroffen hat Kordon den kommunistischen Blickwinkel, aus dem heraus er das Bild seiner Helden anlegt, denn es sind vorzugsweise düstere Farben, mit denen er die andern Figuren, nicht etwa nur die Nazis, sondern vor allem auch die SPD und ihre Politik darstellt. Die Politiker der SPD, nicht die Nazis waren durch ihre Verhandlungen mit den konservativen bis rechten Parteien und dem Versuch, mit Hilfe von Reichswehr und Polizei die Ordnung im Chaos der Nachkriegszeit einigermaßen aufrecht zu erhalten, in den Augen der Kommunisten als ‘Verräter der Arbeiterklasse’ der Feind Nr.1. Natürlich entspricht es in der Regel der Logik eines Romans, die Perspektive der Haupthelden durchzuhalten und nicht zu verlassen. Doch Kordon hat hier, wie gesagt, kein realistisches, sozialkritisches Bild einer Proletarierfamilie in Berlin gezeichnet - weit entfernt ist er vom Naturalismus eines Zola. Denn in diesem Fall würden eingeschränkte Sichtweisen und lückenhafter Informationsstand die Welt des gewählten Milieus nur um so lebendiger erstehen lassen. Doch fast alle die zahlreichen äußeren Details der Trilogie, die diesem Ziel dienen könnten, tragen lediglich den Stempel der Bemühtheit des Autors um Authentizität. Kordon bietet keine überzeugenden, lebendigen Schilderungen des Berlins von 1918, 1932 oder 1945, sondern die jeweiligen Lebensumstände der Familie, das Aussehen der Straßen, die Verkehrsverhältnisse - kurzum, das ganze Lokalkolorit bleibt merkwürdig unpersönlich und wirkt aufgesetzt. Dergleichen könnte jeder, der über einiges Geschick verfügt, aus den vielen zeitgenössischen Memoiren, Reiseführern, Stadtplänen und den zahlreichen publizierten Photographien der Zeit zusammenstellen. Kaum findet man auf den weit über tausend Seiten fesselnd geschilderte Straßenszenen oder Naturstimmungen. Alles, was zur Skizzie- | |
[pagina 82]
| |
[pagina 83]
| |
rung der jeweiligen Szenen nötig erscheint, wird eher nüchtern aufgezählt, als in den Handlungsablauf eingebaut, sei es nun die Wohnungseinrichtung der Gebhardts oder die Möblierung des Kellers, in dem die obdachlosen Kinder hausen - nebenbei die romantischste, stimmungsvollste Partie der ganzen Trilogie. Kordon ist so vertieft in seine Darstellung der Menschen und ihrer Ansichten, daß Naturstimmungen oder einzelne Requisiten selten eine Rolle spielen, und wenn, dann nur, um sie als Symbole zu verwenden, nicht, um dem Werk Farbe zu geben. Zahllos sind die lakonischen Mitteilungen, mit der die jeweiligen Situationen knapp angedeutet werden. Etwa heißt es ‘Es ist später Nachmittag’ (Bd.2, S. 409) - kein Wort davon, welcher, ob kalt oder warm, sonnig oder regnerisch. Oder es werden die Dinge aufgezählt, die der proletarische Hans plötzlich in einem vornehmen Haus sieht: ‘...was ihn so beeindruckt - das Bad ist es, Ein Bad mit Waschbecken, Badewanne, Ofen und Klo’ (Bd. 2, S. 344). Wir erfahren nicht, welche Badewanne, ob grün, braun, weiß oder marmorn usw. Wenn Änne nach dem Waffenstillstand über die Trümmer des zerbombten Berlin steigt, dann findet sie ausgerechnet das berüchtigte Blatt ‘Panzerbär’ und obendrein das Buch ‘Pimpf im Dienst’ im Schutt der Geschichte (Bd. 3, S. 418).
Das Wesentliche aller drei Bücher sind allein die Gespräche und Streitereien, welche die verschiedenen Protagonisten miteinander führen, sie nehmen den größten Raum ein. Es sprechen und streiten miteinander der einarmige, aus dem 1. Weltkrieg heimkehrende Vater mit seiner Frau, seinem Sohn und dem Leierkastenmann Oswin vom Parterre, der Sohn Helle mit seinem radikalen Freund Ede und seinem aus ‘besseren Kreisen’ stammenden Freund Fritz, die revolutionären Kieler Matrosen Heiner und Arno mit Helle und seiner Familie und so weiter. Im 2. Band treten neue Diskutanten hinzu, der Sohn Hans mit seiner jüdischen Freundin Grete und als Gegenspieler der schon aus dem 1. Band bekannte Nazi Max Sauer, sowie SA-Mann Günter Brem, der Liebhaber Marthas. Kurz gesagt, es wird geredet und geredet und geredet in diesen Romanen. Man weiß ja, daß die Berliner nicht auf den Mund gefallen sind, aber daß in dieser Familie und ihrer Umgebung derartig viel diskutiert und vor allem doziert wird, und zwar allezeit von der Warte aus ‘mir kann keener...’, scheint mir doch in proletarischen Kreisen, auch wenn sie noch so politisiert sind, wie diese Familie, eher ungewöhnlich, um nicht zu sagen unwahrscheinlich. | |
[pagina 84]
| |
Kordon hat also kein saftiges Sittengemälde im Sinn, sondern eher eine Abhandlung in Gesprächsform über die Anschauungen der linksgerichteten Arbeiterschaft und ihr historisches Schicksal. Daher denkt er sich ständig neue Situationen allein zu dem Zweck aus den Protagonisten Gelegenheit zu geben, sich und vor allem dem Leser ihre maßgebliche Meinung zu sagen. Kordon schüttelt ein wenig sein Kaleidoskop, die Figuren geraten in Bewegung, laufen hierhin und dorthin, um alsbald neue Konstellationen einzunehmen und, sobald sie zur Ruhe gekommen sind, mit neuen Partnern loszulegen und zu diskutieren. Der Leser wird nicht aus den Klauen gelassen, bis er alle, aber auch alle Schattierungen linksorientierter Weltanschauungen intus hat. Kordons Absicht ist klar, er möchte seinen jugendlichen Lesern ein möglichst umfassendes Bild der linken Arbeiterschaft bieten. Deshalb konzentriert er auf Helle alle nur möglichen Erlebnisse, die ihm zu beschreiben wichtig schienen: Die Begegnung mit den aufständischen Matrosen, der Besuch des besetzten Stadtschlosses, der Blick aus der Ferne auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Schießereien, Demonstrationen, Streiks - überall ist Helle dabei.
Auch im zweiten Buch ist Familie Gebhardt überall dabei, die Nazis hat man in Haus und Familie, straffen Nationalismus lernt man in der Schule kennen, das jüdische Problem wird mit der Freundin von Hans abgehandelt und vom Schicksal derer, die in die Sowjetunion flüchteten, kann Matrose Heiner berichten, als er 1945 aus der Emigration zurückkommt. Kordon setzte tapfer fort, worauf er sich 1984 eingelassen hatte, obwohl ihn die Geschichte mit dem Jahr 1989 gewissermaßen einholte. Enthält das Nachwort des ersten Buches Die roten Matrosen noch viel von der Selbstgerechtigkeit der bundesdeutschen linken Intellektuellen in der Tradition der 68-er, die meinten, die Einnahme einer strammen linken Haltung erübrige die geistige Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, etwa, wenn Kordon von der ‘Erstickung’ der Spartakusbewegung durch die ‘rechten SPD-Führer um Ebert’ (S. 477) oder von ‘bürgerlichen Historikern’ (S. 478) schreibt, ist im dritten Band Der erste Frühling deutlich zu spüren, daß sich Kordon nun um mehr ‘Objektivität’ bemüht, indem er zum Beispiel durch den roten Matrosen Heiner dem konsternierten Helle von Stalins Terror berichten läßt (S. 465-68). Daß Kordon Heiner allerdings behaupten läßt, es gäbe ‘in “Stalins Reich” nicht die Todesmaschinerie der Nazis, gestorben | |
[pagina 85]
| |
würde in den Lagern dort aber auch. Und zwar vor allem am Hunger, an der Kälte und der viel zu harten Zwangsarbeit’ (S.466) - diese verharmlosende Darstellung nimmt man vielleicht gerade noch dem Matrosen Heiner, der keinen Durchblick hatte, aber nicht Kordon ab, denn, wie gesagt, von ‘seiner’ Anschauung der Verhältnisse ist ja die ganze Trilogie geprägt, da er ‘Zeitgeschichte’ schreiben wollte. Hoffen wir, daß er, wenn schon nicht als Heiner Schenck, dann aber wenigstens als Klaus Kordon durch die Erinnerungen Aleksandr Sol enicyns, Lev Razgons und vieler anderer von der systematischen Vernichtung der russischen und ukrainischen Bauern und den planmäßigen Massenerschießungen erfahren hat. Das hat er natürlich, und, um Ausgleich bemüht, läßt er Sohn Heinz, der aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, gegen Schluß folgendes sagen: ‘Was wir getan haben, dafür gibts keine Entschuldigung. Das ist mir klar. Aber für die Verbrechen der anderen, ganz egal, ob weniger schlimm oder nicht, gibts auch keine. Oder darf man wahllos Menschen verhaften und erschießen oder einsperren, wie die Russen es getan haben? Darf man Tausende von Frauen und Kindern zu lebenden Fackeln werden lassen, wie die Engländer es getan haben, als sie Dresden bombardierten? Darf man auf Frauen, Kinder und alte Männer schießen, die über Feldwege laufen, wie die amerikanischen Flieger es getan haben, nur weil unsere Flieger zuvor nicht anders handelten? Müssen die, die uns jetzt Moral predigen, denn nicht besser sein als wir, wenn sie wollen, daß wir sie ernst nehmen? Oder darf ich das vielleicht gar nicht fragen, weil ich nun mal Deutscher bin und immer daran zu denken habe, daß Deutsche noch schlimmere Verbrechen begangen haben?’ (S. 384-85). Das könnte man fast als die Kerstelle, das Fazit der Trilogie auffassen: Verbrechen gegen Menschen bleiben immer Verbrechen, ganz gleich, wer sie begeht und ob zuerst ehrenwerte Absichten vorhanden waren. Kordon, so scheint es, hat sich in seiner Trilogie von dieser Erkenntnis nicht von Anfang an leiten lassen, da er im ersten Band allzu einseitig Partei nahm. Er ist erst im Verlauf der Abfassung der drei Bücher zu ihr fortgeschritten.
Fassen wir zusammen: Ursprünglich hatte Kordon ‘Zeitgeschichte aus der Sicht einer Berliner Arbeiterfamilie’ schreiben wollen, wie er im Nachwort zum 3. Band erklärte (S. 499). Bald geriet ihm dies zu einem Lehrstück über die Ideologien der verschiedenen linken und linksextremen Richtungen in Deutschland und ihre Schicksale zwischen den Weltkriegen. Ein Zeitgemälde in der literarischen Tradition | |
[pagina 86]
| |
des französischen Naturalismus hätte daraus nur werden können, wenn er den Zeitenlauf viel schärfer aus dem begrenzten Blickwinkel der kommunistischen Arbeiterfamilie dargestellt hätte, die er sich als Protagonisten gewählt hatte. Man kann keine Zeitgeschichte schreiben, wenn man nur eine Seite im Auge hat. Was Kordon nur sehr am Rande streift - die Sichtweise der national bis rechtsextrem orientierten Teile der Arbeiterschaft, ohne die Hitler und die Nationalsozialisten (die sich ja nicht ohne Grund so nannten und anfangs eine scharf antikapitalistische Position einnahmen) nie solchen Erfolg gehabt hätten, ganz zu schweigen von der Einstellung der Indifferenten, der Intelligenz und dem Unternehmertum, hätte in einer Zeitgeschichte viel stärker zum Ausdruck kommen müssen. So halten wir eigentlich einen Zwitter in den Händen, der streckenweise zwar spannend geschrieben ist, aber doch durch die zahlreichen Streit- und Lehrgespräche in der Tradition der belehrenden Jugendliteratur bleibt.
Daß Kordon aber als Schriftsteller den Leser am eigenen Erkenntnisgewinn teilhaben läßt, ohne das irgendwie zu kaschieren, ehrt ihn und nimmt für das Werk ein. Diesen Prozeß allmählicher Vertiefung humaner Denkweise zu beobachten, zu dem die historischen Umwälzungen der späten achtziger Jahre meiner Meinung nach wesentlich beigetragen haben, diese Spiegelung des aktuellen Zeitgeschehens im historischen Rahmen dieser Romane stellt letztlich die stärkste Faszination an diesem literarischen Großunternehmen dar. |
|