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Wie im Traum
Lydia Köhler
Ich sitze auf einer Bank, nachmittags, am Münchner Isarufer. Ich sitze alleine auf der Bank und schaue auf das schnellfließende Wasser. Manchmal schwimmt ein Entenpärchen vorbei und schnattert neugierig zu mir herauf. Sie wissen, von Menschen bekommen sie Brot. Dafür müssen sie gegen den Strom paddeln. Aber sie warten nicht lange, wenn sie nichts kriegen.
Manchmal kommen Spaziergänger vorbei. Eine Dame mit Hund. Ein junges Pärchen. Auch ein Radfahrer. Gegenüber, auf der Kiesinsel, liegen ein paar Leute verstreut. Jemand spielt Gitarre. Die silbergrünen Trauerweidenäste, die Kastanien und Holundersträucher, die Gräser um mich herum, alles bewegt sich im leichten Wind. Da kommt wieder ein Spaziergänger. ‘Darf ich?’, fragt er, als er bei meiner Bank angelangt ist und deutet auf den Platz neben mir. Zielstrebig kam er angelaufen. Es ist ein älterer Herr, der sympathisch aussieht in seinem sportlichen Pulli. Aber ich mag keine älteren Herren, die sich zu mir auf die Bank setzen. Als Frau weiß man nie, was sie von einem wollen. Und sie wollen etwas. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche - und wenn es nur ein nettes Schwätzchen ist. Überhaupt nervt mich schon diese Frage: ‘ob er darf’. Die ist sinnlos, denn wie sollte ich auf einer öffentlichen Bank, die für die Erholungszwecke aller Einwohner Münchens aufgestellt wurde, behaupten, er dürfe sich nicht setzen. Nur weil ich meine Ruhe will? Nur weil ich von höflichen Schwätzchen mit älteren Herren ein angestrengtes Gefühl kriege? Also nicke ich.
Er setzt sich. Er schaut auf das schnellfließende Wasser. Ich höre ihn tief durchatmen. Er ist ruhig. Da kommt das Entenpärchen wieder angeschwommen und schnattert. Diesmal klettern sie, auf ihre Bäuche kippend, ans Ufer und watscheln dann auf den älteren Mann zu. Der lächelt sie an. ‘Da seid ihr ja wieder!’, sagt er und zieht aus einer seiner Hosentasche ein altes Brötchen hervor. Die Enten fressen es auf. Dann schauen sie erwartungsvoll zu mir. Ich schaue weg. Sie rupfen ein bißchen im Gras. Dann kippt die eine auf ihren Bauch und verstaut ihre platten Füße darunter, dann macht es ihr die andere nach. Sie sitzen nur wenig von der Bank entfernt und schauen still
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aufs Wasser.
‘Das haben sie noch nie getan!’, sagt der Herr neben mir. Ich schweige. Münchner Enten sind dermaßen verwöhnt und vollgefressen, daß sie sich überall, selbst an einer Straßenkreuzung, niederlassen würden, denke ich. Ich denke auch, warum ich nicht schon längst wieder aufgestanden bin und weiter laufe, einfach nur laufe. Ich sehe einen Ast auf dem Wasser treiben. Die Gitarre ist wieder zu hören. Da kommt die ‘Anmache’, die ich erwartet habe. Das heißt, ich habe alles andere erwartet, als diese Frage: ‘Sie haben doch etwas zu erzählen, oder nicht?’ Beinahe gebe ich dem Herrn eine wütende Antwort, daß er gefälligst seine rhetorischen Fragen für sich behalten solle. Ich hole schon Luft, da sagt er, es tue ihm Leid, er wolle kein höfliches älteres Herrengespäch anzetteln. Dann schweigt er und betrachtet die Enten vor seinen Füßen. Die eine steckte gerade ihren Kopf unters Gefieder. Ich könnte gehen. Es ist still. Der Wind streicht noch immer durch die Bäume und meine Haare. Ich bin müde. Wenn ich eine Ente wäre, würde ich meinen Kopf unter die Flügel stecken. Ich schiebe mich auf der Bank etwas nach vorne. Münchner Parkbänke haben hohe Lehnen, fällt mir auf - in dieser Stellung kann ich meinen Kopf darauf legen. Ich schließe die Augen, der Wind riecht nach Isarwasser. Kurz darauf höre ich, wie der ältere Herr neben mir mit etwas raschelt, dann steht er auf und geht. Ganz leise. Ich schlafe ein.
In meinem Schlaf ist der Herr geblieben. Und ich beginne, mit ihm zu sprechen. Ich erzähle ihm von dem, was ich die letzten Jahre erlebt habe und von dem, was mir wichtig ist.
‘Wissen Sie’, so beginne ich, ‘wissen Sie, daß ich Ihnen sehr dankbar bin, daß Sie gegangen sind? Daß es geradezu mein Herz anrührt? Was hätten Sie denn anderes tun sollen, ohne Antwort von mir? Tatsächlich, ich fühle mich von Ihnen verstanden, obwohl ich kein Wort mit Ihnen gesprochen habe! Ich glaube das kommt von Ihrem Schweigen, Ihrer Ruhe, und Ihrer Bemerkung über die höflichen Herrengespräche. Ich denke, wir haben doch miteinander kommuniziert. Früher dachte ich, kommunizieren tut der Mensch mit Worten. Tut er auch, aber,... Wissen Sie, ich habe vier Jahre lang den Gebrauch von Worten studiert - Worte sind so beladen mit Klischees und mit vorgefertigten Bedeutungen. Normalerweise. Vor allem in dieser Situation: älterer Herr und junge Frau auf der Parkbank, oder im Café, oder im Zug. Wenn Sie wüßten, wieviele öde Gespräche ich schon hinter mir habe. Über das Wetter und meine schönen blauen Augen.
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Es ist eine Kunst, wirkliche Gespräche zu führen. Die meisten Menschen haben Angst davor. Ich auch, ja, das gebe ich zu. Denn, wenn etwas wirklich ist, wirkt es auch. Ich meine, dann könnte das Gesagte mein Leben beeinflussen. Vielleicht würde sich etwas ändern? Und wer verspricht, daß es gut ist, was sich dann ändert? Wie gesagt, ich habe vier Jahre lang den Gebrauch von Wörtern studiert, und mein Anliegen ist... Aber, was rede ich - wollen Sie das denn wissen?’
Der ältere Herr lächelt, ‘Gerne!’ meint er und nickt.
‘Also, mein Anliegen ist, Worte lebendig zu machen. Ja, das will ich. Lebendige Worte. So lebendig, wie die schnatternden Enten, die jetzt vor unseren Füßen schlafen. Sie sagen, daß die Enten das noch nie getan haben. Ich glaube Ihnen: Die Enten haben noch nie zuvor hier vor dieser Bank geschlafen, jedenfalls nicht in Ihrer Anwesenheit.
Wenn Worte leben sollen, dann müssen sie erstmal das bedeuten, was sie bedeuten - finde ich. Dann kann man an sie glauben. Wie sollte jemand anderer denn sonst verstehen, was gemeint ist? Wie sich danach richten? Wenn ich eine Fremdsprache lerne, dann ist das sehr spannend. Ich fühle mich wie ein Detektiv. Mit den fremden Worten entdecke ich eine anderen Welt. Es ist, wie ein Geheimnis wissen.
Ich wünsche mir oft, daß Worte so viel Leben kriegen, daß man vergißt, daß es Worte sind. Sie sagen, daß die Enten noch nie vor ihren Füßen geschlafen haben. Das heißt, heute ist etwas Außergewöhnliches passiert. Was bedeutet das? Ist es wichtig für Sie? Mir tun die schlafenden Enten jedenfalls ganz gut. Sie geben mir Ruhe. Man sagt, daß Tiere nur dahin gehen, und dort bleiben, wo sie sich wohl fühlen. Sie können nicht denken. Sie haben keine Wunschvorstellungen oder Vorurteile im Kopf, keine Klischees, wie wir Menschen. Sie reagieren einfach auf die Situation.’
Der ältere Herr schmunzelt. Dann will er mehr wissen, über das lebendig machen von Worten. ‘Tja,’ sagt ich, ‘ein Wort kommt selten allein.’ Und plötzlich verliere ich den Mut, weiter zu erzählen. Ich müßte so weit ausholen, um mein Anliegen zu erklären. Es gibt ja soviele Wörter und soviele Arten, sie zusammenzustellen: Zeitungsberichte, Gedichte, Nachrichten, Erzählungen, Geschäftsbriefe, Beschwerdebriefe, Liebesbriefe, Romane, Filmdialoge, Lieder, Trostsprüche, Gespräche zwischen Unbekannten, wie dieses eines ist.
‘Sehen Sie’ - natürlich kann er nichts sehen, wir sprechen ja nur miteinander - ‘darum schreibe ich so gerne. Wenn man schreibt, stellt
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man einen Text zusammen. Aus Worten. Die kann man dann lesen. Und wenn man feststellt, daß die Worte, in der Anordnung wie man sie hingeschrieben hat, nicht bedeuten, was man sagen will, dann kann man die Anordnung wieder ändern. Oder neue Worte hineinnehmen und andere wieder herausstreichen.’
‘Und das macht die Wörter lebendig? Mir scheint, daß Sie es sind, die sehr lebendig mit den Worten umgehen!’, bemerkt er.
Er hat recht, ich erinnere mich: ‘Am Anfang meiner Ausbildung, war mir jeder Text, den ich schrieb, heilig. Vor allen Dingen Gedichte. Die wollte ich alle so lassen, wie ich sie aufgeschrieben hatte. Der Gedanke, daß noch etwas am Text zu verändern wäre, kam erst auf, als ich von meinen Mitstudenten hörte, daß sie nicht verstanden, was ich aufgeschrieben hatte. Und ich wollte doch so gerne, daß sie es verstehen. Zumindest sollten sie nachvollziehen können was ich meine. Sie mußten ja nicht unbedingt meiner Meinung sein. Es gab ein Fach dafür, um dies zu üben. Wirklichkeitserfahrung hieß es. Jedesmal kam eine Frage zu unserem Alltag: An welchen Moment dieses Morgens kannst du dich erinnern, oder: deines Weges zur Schule, oder: Was war heute früh anders als gewöhnlich? Ich war jedesmal überrascht, an wieviele Kleinigkeiten ich mich erinnern konnte. Kleinigkeiten, an die ich ohne diese Frage nie mehr gedacht hätte. Dies wurde dann aufgeschrieben. Das Witzige bei der Sache war, daß jeder sofort ein Bild von dem Text bekam, wenn er gut war. Eigentlich erlebte jeder von jedem den jeweiligen Moment mit. Zum Beispiel, wie auf den Aufzugsknopf gedrückt wird und dieser rot aufleuchtet, bis der Aufzug da ist. Oder, wie Kakao schmeckt, wenn man durstig ist und nichts weiter im Haus hat. Es war ein zähes Fach, diese Wirklichkeitserfahrung. Satz für Satz haben wir durchgesprochen. Was hast Du wahrgenommen? Steht es so auf dem Papier? Können die anderen es nachvollziehen? Was kannst Du treffender und kürzer sagen. Und das wichtigste, das ich in diesem Fach lernte, war: ein Satz wie: “Heute früh war mir langweilig”, fällt durch. Niemand reagierte darauf. Besser gesagt, ich bekam großen Protest. Dein emotionaler Zustand interessiert uns nicht, wurde mir gesagt. Wir wollen etwas erleben! Das
machte mir anfangs sehr zu schaffen. Für mich war es eine Leistung, zuzugeben, daß es mir langweilig war. Es ist nun mal ein Gefühl, das man nicht so gerne zugibt, oder? Meine Mitstudenten wollten statt dessen wissen, was ich gemacht hatte. Also erzählte ich, daß ich mir an diesem Morgen viermal ein Butterbrot schmierte, wobei ich mir jedesmal die Butterdose aus dem Kühl- | |
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schrank holen mußte, weil ich mir nach jedem Stück Brot dachte, ich brauche sie nicht mehr.’
Ich mache eine Pause. Eine der Enten schnattert im Schlaf. Der ältere Herr neben mir schaut versonnen. ‘Was haben Sie eigentlich studiert?’ fragt er.
‘“Literaire vorming”, heißt es auf holländisch. Deutsch würde ich es “Literaturpädagogik” nennen.’
Da sieht er mich erstaunt an. ‘Sie haben in einer fremden Sprache etwas mit Literatur studiert? Etwas, was mit der künstlerischen Gestaltung von Sprache zu tun hat? Das geht doch gar nicht!’
‘Und doch habe ich es getan. Ich habe eine neue Sprache gelernt, die ich bis heute noch nicht beherrsche. Da können die eigenartigsten Mißverständnisse entstehen. Einmal sagte jemand zu mir, er wolle einen Apfel mit mir schälen. Ich weiß noch, wie gerne ich mit meiner Mutter Äpfel geschält habe. Sie machte daraus “Apfelkuchen sehr fein”. Der Junge, der mit mir den Apfel schälen wollte, hatte eigentlich ein “Hühnchen mit mir zu rupfen”. Jedenfalls stellte sich das bei unserem Zusammentreffen heraus. Sie verstehen?’
‘Ja, ja,’ murmelt er und ich höre wie er meint: ‘die Wörter kann man lernen, die Sprache aber nicht.’
‘Oder allerhöchstens, wenn man in dem Land lebt, in dem sie gesprochen wird. Wenn man am eigenen Leib erfährt, daß man vom Föhn nicht nur trockene Haare, sondern, wie in Bayern, auch Kopfweh bekommen kann - oder, wie man in Spanien Fettgebäck in zuckrigen verdünnten Schokoladepudding taucht, was sich dann “chocolate con churros” nennt. Ich meine, dann entsteht mit den Wörtern sofort ein Gefühl. Wissen Sie eigentlich, was ein Gefühl ist?’
Er schaut mich an. Gar nicht mehr so freundlich, wie bisher. Er hat eine Falte auf der Stirn, seine Augen sind kleiner. Aber er sagt nichts.
Ich muß räuspern: ‘Also, so selbstverständlich wie ich Gefühle, zumindest die meinen, früher erlebt habe, sind sie heute nicht mehr. Weil..., also in der ersten Zeit in Holland dachte ich, die Holländer hätten keine Gefühle. Es lief alles so glatt. Niemand hatte Probleme. Und wenn sich die Menschen unterhielten, klang einer wie der andere. Die Betonung der Sätze war immer die gleiche. Jedenfalls für meine Ohren. Ich wollte sogar einen “Rap” aufnehmen. Sie wissen schon. Das sind diese rhythmischen Lieder mit wenig Melodie. Aber dann schüttete mir eine Mitbewohnerin ihr Herz aus. Das war ungefähr nach einem Jahr Tür-an-Tür-Wohnen. Sie begann sogar zu weinen. Da merkte ich, daß auch Holländer Gefühle haben. Ich habe
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also über Gefühle nachgedacht. Man sagt, “mir ist kalt”. Man sagt aber auch, “ich bin traurig”. Und manchmal ist einem kalt, wenn man traurig ist. Was ich sagen will, ist: ich habe entdeckt, daß sich Gefühle aus verschiedenen Komponenten zusammensetzen. Zum einen ist es das, was man körperlich spürt. Das was man tatsächlich wahrnehmen kann. Physikalisch nachprüfen sozusagen. Zum anderen ist es das, wie man das Wahrgenommene interpretiert. Was man davon findet. Da spielen dann die kulturellen Regeln eine Rolle. Das, was für einen von Bedeutung ist.’
Der ältere Herr hat immer noch ein Falte auf der Stirn. Eigenartig. Ich hatte ihm eine meiner Entdeckungen mitteilen wollen, eine die mir sehr wertvoll geworden ist im Zusammenhang mit dem Schreiben lebendiger Texte. Weil sich damit alles schön überblicken und einfügen läßt. Ich meine, das Aufspalten von sinnlichen Wahrnehmungen und dem, wie man sie einordnet und erklärt. Ein Text wird auf diese Weise viel übersichtlicher. Ich kann plötzlich begreifen, was in der Literaturanalyse mit Motiv gemeint ist, mit Perspektive und Stil. Genauso wie in der Realität alle Elemente der Realität immer vorhanden sind, müssen in einem literarischen Text alle diese Elemente vorhanden sein. Ein Ort, eine Handlung, eine Person, die eine Interpretation vornimmt. Man muß sie ja nicht immer benennen, aber suggerieren. Ich meine, sobald man diese Einzelelemente kennt, kann man besser und bewußter damit jonglieren. Außerdem läßt es sich dann auch leichter mit Leuten über Texte sprechen.
Ich sage nichts mehr. Ich warte. Der Mann sieht jetzt viel älter aus, als vorhin.
‘Ich bin kein kleines Kind, meine Dame.’ bemerkt er. ‘Sie müssen mir nicht alles erklären. Natürlich kenne ich Gefühle!’ Wieder schweigt er. Ich auch. Scheinbar hat er mich nicht gut verstanden. Was sollte ich weiter sagen. Ich bin so begeistert von meiner Entdeckung mit den Gefühlen, daß ich sie einfach gerne erzählen wollte. Nicht erklären. Außerdem hat er danach gefragt.
‘Lichtung’ sagt da der Mann neben mir auf der Bank. ‘Lichtung’ sagt er nocheinmal. Und dann zitiert er das ganze Gedicht: ‘manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern. werch ein illtum!’ Das ist ein Gedicht von Ernst Jandl. Ich glaube, ich war gerade 14, als wir es im Deutschunterricht lasen. Mit diesem Gedicht hat mein literarisches Denken begonnen. An diesem Gedicht erkannte ich, daß die Wörter ein Eigenleben führen. Und daß man mit ihnen mehr machen kann als die üblichen Mitteilungssätze. Daß Wörter
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mehr bedeuten können als sie bezeichnen. Daß man aber zuerst wissen muß, was sie eigentlich bedeuten.
Da erinnere ich mich vage an einen Haiku. Ich probiere, ihn aufzusagen. ‘Drie keer klonk de kreet,’ ich muß mir vor Augen holen, was ich sage, jetzt kommt der Rest der Worte: ‘toen was niet meer te horen de stem van het hert.’
‘Wie traurig’, reagiert der ältere Herr spontan. ‘Wo ist er hin, der starke Hirsch? Haben sie ihn abgeschossen?’ Ich bin überrascht. Er versteht holländisch.
‘Wissen Sie’, sagt er, ‘das ist der beste Haiku den ich kenne. Und wenn sie wollen, daß Worte lebend werden, ich meine so zauberhaft, wie das Leben selbst, wie unser Zusammentreffen heute nachmittag, dann sollten Sie lernen, mit einer gewissen Haltung zu schreiben. Sie sollten versuchen, das Leben ohne Angst zu leben, ohne Bedürfnisse, einfach im Moment. Der Haiku mit seiner kurzen Form, seinem Silbenrhythmus kann ihnen helfen, zu dieser Klarheit zu finden.’ Ich wundere mich. Diesem Mann ist die Sache nicht fremd. Da erst bemerke ich, daß er kurzgeschorene Haare hat. Ich muß an den Dalai Lama denken. An Indianer. An die großen Geschichtenerzähler. Der ältere Herr steht auf und nickt mir zu. Er bedankt sich sogar. Ich will ihn bitten, doch länger zu bleiben. Ich weiß noch soviel über den Schreibprozess, über Kreativität, über die menschliche Psyche und wie sie überall Ordnung anbringt und Zusammenhänge legt.
Doch da ist er schon weg. Ich sehe ihm nach. Wir hatten miteinander gesprochen! Oder hatte ich gesprochen, ohne jemals die Worte formuliert zu haben? Hatte ich nur geträumt?
Plötzlich höre ich eine der Enten schnattern. Dann die andere und dann bellt ein Hund. Ich wache auf und sehe gerade noch, wie die Enten mit gespreizten Flügeln in die Isar springen. Der Hund steht mit wedelndem Schwanz am Ufer. Und dann sehe ich neben mir auf der Bank, unter einem dicken Kieselstein, ein Stück Papier liegen. Darauf steht: ‘Ich komme täglich zu dieser Bank - wenn ich in München bin. Ernst Jandl’.
Ernst Jandl (Wenen, 1925) is een bekende Oostenrijkse auteur (vooral gedichten, maar ook proza, hoorspelen en beschouwingen over taal). Enkele werken: Serienfuss, für alle, Laut und Luise (1966), Das Öffnen und Schließen des Mundes (Frankfurter Poetik-Vorlesungen, 1985), idyllen (1989) en stanzen (1992). |
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