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Harrie der Künstler und das Bilderbuch
Eine Buchbetrachtung - mit allgemeinen Einwürfen über das Bilderbuch
Andreas Bode
Erwachsene können erwarten, daß die Verlage Bücher jeglicher Geschmacksrichtungen für sie bereithalten. Die Wahl der Lektüre kann kritisiert, beeinflußt werden, aber kaum die Produktion der Verlage. Was ihre Kinder betrifft, maßen sich viele Erwachsene an, den Buchherstellern zu erklären, wie ein Kinderbuch auszusehen hat, obwohl gar nicht sie das Zielpublikum darstellen. Sicher glauben die meisten Autoren und Illustratoren, so zu schreiben und zu malen, wie es die Kinder ihrer Vorstellung nach mögen. Aber leider fühlen sich allzu viele beim Malen und Schreiben als heimliche Eltern und legen vor allem Wert darauf, daß alle Dinge dieser Welt im Buch möglichst genau und schön zu lesen und zu sehen sind, als sei der Hauptzweck der Bücher, die Wirklichkeit zu bestätigen. Verleger mit Gewissen können bei dieser Lage nur ab und zu ihrem Drang nach Schönem und Besonderem nachgeben.
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Über die Schwierigkeit, anspruchsvolle Bilderbücher zu verlegen
Für uns in Deutschland ist der Middelhauve Verlag immer ein Synonym für Mut zum besonderen Bilderbuch gewesen, für Bücher also, die in der Regel keine großen Verkaufserfolge erzielen, weil deren Schöpfer so ungalant sind, dem bescheidenen Bildverständnis von Eltern und Erziehern keine Konzessionen zu machen. Von Kunstver- | |
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ständnis wollen wir hier gar nicht reden, denn die meisten Kinderbuchkäufer wären sehr erstaunt, versuchte man ihnen klarzumachen, daß Bilderbücher und Kunst etwas miteinander zu tun haben könnten. Bücher mit Bildern von Gnomen, Elfen, Teddybären, Mäusen und anderen Tieren, detailfroh und genau aus der Vogel-, respektive Zimmerdeckenperspektive gezeichnet wie früher, damit man alles erkennen kann - das sind die Bücher, die man seinen Kindern, Enkeln, Neffen und Nichten gerne verschenkt. Aber was nach ‘Kunst’ riecht - das ist nicht kindgemäß und kann allenfalls in der Schule zur Erzeugung von Langerweile dienen.
Gertrud Middelhauves Verlag ist im großen Mülleimer für verbrauchte Verlage der ‘Meisinger Verlags Gruppe’ gelandet, vielleicht zum Schaden des Renommées bei etlichen Paradieswächtern der Bilderbuchkunst, aber bis jetzt, das muß man ehrlich sagen, nicht zum Schaden der Buchqualität.
Nach einer solchen Feststellung, für deren Richtigkeit einiges spricht, wenn man in vielen Buchhandlungen die wenigen interessanten Bilderbücher unter einem Haufen Buntmetallschrott hervorziehen muß, kann man sich vorstellen, was es bedeutet, Harrie Geelen (geboren 1936) dem deutschen Publikum zuzumuten. Doch schon tummelt sich das vierte Buch (Das O von Opa, 1993) auf dem Markt - und wer weiß, vielleicht haben wir die deutschen Eltern doch unterschätzt, und der Verkauf fließt, wenn auch zäh?
Dennoch bleibt Geelen vorläufig für uns ein Unbekannter, und offensichtlich nicht nur für uns unbedarfte Konsumenten - auch in der Fachliteratur sieht man nur Lücken, wo eigentlich sein Name in Fettdruck stehen müßte, denn er hat es fertiggebracht, durch seine neuesten Bücher die augenblicklich so friedliche deutsche Bilderbuchwelt gehörig aufzuscheuchen.
Mit Ich will die! (Text Imme Dros, Middelhauve 1992) bot sich dieser erfahrene Fernsehautor und gelegentliche Buchillustrator als ganz neuer Künstler an. Und er wurde angenommen, denn die kleine Protagonistin mit ihren Schuhproblemen strahlt einen
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Charme aus, dem sich niemand entziehen kann, auch wenn er die Bilder wüst findet. Sehr viel komplizierter und nachdenklicher ist das zweite Buch im neuen Stil, Hermann das Kind und die Dinge (Herman het kind en de dingen), erschienen in der Übersetzung von Mirjam Pressler im Gertraud Middelhauve Verlag 1993 - ein ungewöhnlich interessantes und schönes Bilderbuch, das eine ausführlichere Würdigung geradezu erzwingt.
Auf bescheidenen 20 Blättern drängen sich sieben Ganzkurzgeschichten von dem Kind Hermann, das Zwiesprache mit seinen Spielsachen und anderen Dingen hält über vielerlei, über Durst, Nacht, Gewitter, Krankheit, Tod und Geburt. Man merkt beim Lesen sofort: Was weder Bleistift, Buch oder Buchstabe können, nämlich Geschichten zu erzählen, versteht Harrie Geelen offensichtlich. Obwohl er sich an Kleinere wendet, rührt er nicht den üblichen Brei aus labbrigem Kleinkinderzwieback mit Wasser an, den viele Verlage nach dem Lerneleichterlesenrezept ‘kurze Sätze, keine Nebensätze, keine komplizierten Zeitformen’ den Kindern anbieten und über deren Simplizität literarisch auch nur etwas feinfühlige Vorleseerwachsene rot vor Scham werden müssen.
Noch bevor ich also über den Bildermaler Geelen sprechen kann, muß ich auf Geelen, den Geschichtenerfinder eingehen, der die große Kunst versteht, Witz und ungewöhnliche Dialoge auf knappstem Raum unterzubringen.
Sicher hat Harrie Geelen als Textautor in seiner Frau Imme Dros eine hervorragende Lehrerin und fruchtbare Kritikerin, doch wie weit ihre Rolle als Geburtshelferin ging, soll hier nicht erörtert werden. Wir wollen die Geschichten im Zustande der Losgelöstheit vom Schöpfer betrachten, wie er ja durch die Publikation entsteht.
Am auffälligsten ist, daß Geelen die eben kritisierte Kurzzeiligkeit und Beschränkung der grammatischen Morphologie zwar aufnimmt, aber in einer Weise damit umgeht, daß mit jedem neuen Satz eine kleine Sinnvertiefung einhergeht. In der niederländischen Ausgabe sind sie folgerichtig als Kurzzeilen untereinandergesetzt. In der deutschen ist diese wichtige Struktur leider ohne Gefühl für deren literarische Aussagekraft durch Hintereinandersetzen zunichte gemacht worden. Die Wahr- | |
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nehmung des in der typographischen Anordnung steckenden Sinngehaltes wird dadurch fast unmöglich gemacht. Nehmen wir ein Beispiel gleich aus der ersten Geschichte:
‘Water,’ bladerde het prentenboek.
‘Ik hèb een plaatje met water.
Hier.
Met een vis.’
In dieser Folge kurzer Aussagen, die bedächtig und mit Kunstpausen, entsprechend den Absätzen, mitgeteilt werden, ist der ganze Stolz des Buches über seine Wichtigkeit - met een vis! - treffend charakterisiert.
Ähnlich wird die Bedeutung des auf dem Stuhle liegenden Taschentuches in der Geschichte vom Tod der Großmutter aufgebaut:
‘Het is een zakdoek,’ zei Herman het kind.
‘Het is de zakdoek van mamma. vHij ruikt altijd lekker.
Maar ze heeft er in gehuild.’
Noch einmal sei es betont: Nicht der pädagogische Impetus, eine Lesehilfe zu geben, liegt den untereinandergesetzen Kurzzeilen zugrunde, sondern eine literarische Aussage. Soviel als Anregung, sich mit den Texten zu befassen. Es geht in diesem Aufsatz aber um die Bilder.
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Was ist ein gutes Bilderbuch?
Was für ein armseliges Bilderbuch wäre das, bei dem der Text zur Hauptsache würde! Ein solches Mißverhältnis müßte man allerdings bei vielen rezensierten Bilderbüchern vermuten, wenn man die Rezensionen ernst nähme. Wie häufig stellt man fest, daß sich so ein eifriger Sonntagnachmittagsrezensent über den Inhalt von Bilderbuchtexten lang und breit ausläßt und für die Bilder selbst nur verlegene blumige Beschreibungen übrig
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hat, etwa: ‘farbintensive stimmungsvoll weitflächige Illustrationen’ und ähnliches. Es verbirgt sich hinter solchen nichtssagenden Floskeln eine Sprachlosigkeit gegenüber Bildern, deren Grund in der Fixierung unserer Erziehung und Bildung auf das Wort liegt - eine fatale Einseitigkeit angesichts der immer noch zunehmenden Visualisierung unseres täglichen Lebens, der wir bisher kaum in Worte zu fassende Kritikfähigkeit entgegensetzen können.
Also behaupten wir kühn: Über die Güte eines Bilderbuches entscheidet zuerst die Bild-, nicht die Textqualität! In manchen Bilderbüchern hinkt die Textqualität sogar beträchtlich hinter der des Bildes her, oft vor allem dann, wenn ein Künstler sein eigener Texter sein will, der das Schreiben nie richtig gelernt hat. Dennoch können Bilder so berückend schön sein, daß man den Text ruhig ignorieren kann.
Ein Glücksfall ist es, wenn ein Künstler über eine Doppelbegabung verfügt. Das scheint bei Harrie Geelen der Fall zu sein, denn selten findet man eine in ihrer Qualität so ausgewogene Verbindung von Text und Illustration, ‘obwohl’ Autor und Illustrator eine Person sind. Dennoch - Harrie Geelen ist, wenn wir uns auf seine Arbeit fürs Buch beschränken und von seiner Tätigkeit fürs niederländische Fernsehen absehen, in erster Linie Illustrator. Und so soll hier vor allem sein illustratives Schaffen gewürdigt werden.
Sein diesbezügliches Oeuvre umfaßt nur wenige Titel. Daher ist es um so erstaunlicher, daß es bis zum Beginn der siebziger Jahre zurückreicht. 1971 zum Beispiel erschien Imme Dros' Buch Het paard Rudolf (Unieboek, deutsche Übersetzung Jugend & Volk, 1974). Harrie Geelen lieferte dazu eine Reihe von Schwarzweißillustrationen, die mit ihrem eckigen, groben Strich zwar zeitkonform gegen das ‘bürgerliche’, ‘schöne’ Buch zu Felde zogen, dabei aber nicht gleich jeglichen Anspruch des Betrachters an äußerliche Schönheit als reaktionär verwarfen, sondern durch die Beachtung kompositorischer Prinzipien erstaunliche ästhetische Qualitäten entfalteten. Einige Jahre später scheint für ihn
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der Ausflug ins romantische Chaos beendet zu sein. Im Buch Altijdgrijs von Imme Dros (Van Holkema & Warendorf, 1977) schwimmt Geelen mit seinen Illustrationen und dem blumigen, farbigen Schutzumschlag ganz im Fahrwasser des Neojugendstils einer reichlich verspäteten Popart, was allerdings nicht gegen die Qualität dieser Schwarzweißillustrationen spricht. Sie sind deutlich stärker dekorativ angelegt; in ihrer kompromißlosen Linearität ohne jegliche Schatten oder Flächen üben sie noch heute einen starken Reiz aus.
1991 schließlich erschien Ik wil die! (Van Holkema & Warendorf) des Paares Dros/Geelen, das einen Neubeginn in Geelens Buchkunst darstellt.
Es ist ein überraschendes, wunderbares Buch. Des Kindes Ella Eigensinn, unbedingt die schönen roten Schuhe haben zu wollen, obwohl sie zu klein sind, wie sie ihren Willen gegen Mutter und Verkäuferin durchsetzt, wie langsam und peinvoll in ihr die Erkenntnis der Unverträglichkeit zwischen ästhetischem Anspruch und praktischem Nutzen dieser Schuhe heranreift - das alles ist in Wort und Bild vollendet dargestellt. Bemerkenswert ist das Einfühlungsvermögen der Autoren in die kindliche Psyche, verbunden mit der Fähigkeit, die Erwachsenenperspektive, die sie als Autorin und Illustrator naturgemäß haben, ganz zurückzustellen und nur aus der Sichtweise des Kindes heraus zu schildern. Deutlich zeigen sie ihre Sympathie für die Freude des Kindes am Schönen und schildern das Heranreifen der Erkenntnis der von Untauglichkeit der Schuhe nicht aus pädagogischem Impetus heraus, sondern als schmerzliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. So etwas mag für viele moderne Kinderbücher heute selbverständlich sein, doch nur selten erscheint in ihnen diese Haltung so natürlich und nicht künstlich um Kindgemäßheit bemüht.
Den im Buch Ik wil die! perfektionierten neuen Illustrationsstil führt Geelen 1993 in Herman het kind en de dingen fort. Insgesamt 36 Bilder, gemalt mit breitem Pinsel auf große Papierbögen, die bei der Reproduktion stark verkleinert wurden, breiten sich beim Durchblättern vor dem Betrachter in lebendiger Farbigkeit aus. Sie wirken in ihrer Gesamtheit einheitlich und harmonisch, obwohl ihre Farbstimmungen und Perspektiven höchst abwech- | |
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slungsreich gestaltet sind. Eine große Variationsbreite von Zwischentönen einer reichen Farbpalette halten den Betrachter munter; mal dominiert Blau, mal Rot, mal der Kontrast zwischen beiden, gebrochen durch ein lebendiges Grün. Durch Übermalung immer wieder gemilderte dunkle Konturenlinien geben den Bildern Halt. Mit dem malerischen Charakter seiner Illustrationen liegt Geelen wiederum ganz im Strom einer bestimmten Richtung der zeitgenössischen Buchkunst.
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Über den malerischen Stil im heutigen Bilderbuch
Seit einiger Zeit nämlich haben sich aus derjenigen Illustrationsrichtung im Kinderbuch, die im Gegensatz zu den traditionellen Methoden der Karikatur und einfarbigen oder kolorierten Zeichnung wieder auf starke malerische Wirkungen setzt, zumindest zwei Hauptrichtungen entwickelt. Die eine strebt nach einer immer perfekteren plastischen Illustrationsweise. Angefangen haben mag das zu Beginn der achtziger Jahre mit Chris Van Allsburgs ersten Büchern. Van Allsburg kommt von der Skulptur her, so lag nahe, daß er auch in seinen Illustrationen auf große Plastizität seiner Figuren und Landschaften achtete. Überhaupt sind die USA augenblicklich der Hauptkampfplatz der malerischen Illustration; man wetteifert in immer intensiveren naturalistischen Bildern, deren Wirkung bis hin zu photorealistischen Effekten gesteigert wird. Dennis Nolan, Gary Blythe und andere sind Beispiele dafür. Natürlich hat es die Naturalisten in der Illustration immer gegeben, allerdings fast ausschließlich im Sachbuch, wofür einer der besten, der Engländer Kenneth Lilly, als Beispiel dienen mag.
Die andere Richtung steht eindeutig in der Tradition expressiver Kunst und ihrer fortwährenden Präsenz, zum Beispiel in den Bildern von Karl Horst Hödicke und seiner Schüler, den Neuen Berliner Wilden. Die expressive Malerei hatte in Deutschland und anderswo nie Zeit gehabt, auszureifen und die volle Variationsbreite ihrer Ausdrucksmöglichkeiten auszuprobieren. Im Kinderbuch
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bleibt allerdings wenig von der Seelenstimmung, die mit Form und Farbe in reale Dinge transportiert wird. Es ist eher das sinnliche Verhältnis zu Formen und Farben, deren durchdringende Intensität man den kindlichen Betrachtern nahebringen möchte. Expressive malerische Illustrationen hat es schon in den siebziger Jahren in Deutschland gegeben, natürlich in Berlin. Curt Mühlenhaupt, zwar eher naiver Künstler, malt und zeichnet expressiv - auch in seinen Bilderbüchern. Paula Schmidt, Schülerin von Jürgen Spohn, illustrierte 1978-80 für Middelhauve zwei Märchen in expressiver Manier. Aber das blieben Ausnahmen. Erfolgreicher sind expressiv malende Bilderbuchkünstler in Japan und in Frankreich, Grégoire und Nadja Solotareff, Antoon Krings und andere, die ihren Beitrag dazu leisten, die Kinderbuchillustration vom Neonaturalismus etwas hinwegzuführen.
Harrie Geelen hat sich allein mit den zwei erwähnten Bilderbüchern zu einem der originellsten Vertreter dieser Richtung emporgeschwungen. Sind im ersten Titel (Ik wil die!) eigentlich nur die Farbwahl und die Malweise expressiv, so kommt das letzte Buch auch von der ‘Seelenstimmung’ her dem Expressionismus näher.
Rein äußerlich schon ist in Herman het kind en de dingen eine Steigerung des künstlerischen Ausdrucks bemerkbar. Geelens kräftiger, ja zuweilen grober Pinselstrich wird durch den strengen Seitenaufbau - 2/3 für die querformatige Illustration, 1/3 für den Text - im Gleichgewicht gehalten; ein großzügiger weißer Rahmen schafft für den Betrachter optischen Abstand von der Umgebung des Buches. Dagegen muß man die Plazierung der Bilder in Ik wil die! als ausgesprochen mißlungen betrachten. Völlig unmotiviert sind sie an der oberen Kante bis zum Bildrand hin beschnitten. Auch der typographische Mißgriff, zu den kräftigen Bildern eine dünne, gezierte Auszeichnungsschrift zu wählen, verstärkt den unangenehmen Eindruck.
Dagegen ist Herman het kind en de dingen kein Bilderbuch im heute üblichen Sinne mit einer einzigen, aus Bewegungsabläufen gestalteten Geschichte, sondern aus mehreren Geschich- | |
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ten zusammengesetzt, deren Illustrationen zwar den Handlungsverlauf nachzeichnen, aber an sich merkwürdig statisch sind. Das liegt nicht nur daran, daß der Text hauptsächlich aus Gesprächen besteht, damit das gesprochene Wort selbst die Hauptrolle spielt (gönnen wir diesen Triumph den Kritikern, die sich auch im Bilderbuch zuallererst aufs Wort stürzen), mithin Bewegung im physischen Sinn nur wenig stattfindet, sondern daran, daß die Illustrationen eigentlich lauter Gemälde sind, die jedes für sich genommen Bestand haben würden. Das ist durchaus nicht selbstverständlich für jedes künstlerisch anspruchsvolle Bilderbuch. Oft entsteht die Qualität erst durch die Gesamtheit der Bildfolge und ihrer Aussage, wobei viele der Einzelbilder es nicht vertragen würden, löste man sie aus ihrem Zusammenhang, indem man sie zum Beispiel rahmte und an die Wand hinge. Anders Geelens Illustrationen, allerdings nicht in dem negativen Sinne, daß sie als ‘abphotographierte Gemälde’, bei denen man zu allem Überfluß in der Reproduktion vielleicht auch noch die Struktur der Leinwand oder des Aquarellpapiers erkennen kann als falsch verstandenes Gütezeichen für Originalität, am Wesen der Illustration als ausschließlich aufs Buch hin konzipiert vorbeizielen. Geelens Illustrationen sind beides, jede ein nach klassischen Regeln (Beachtung der Horizontalen, Vertikalen, Diagonalen) durchkomponiertes Bild, aber eindeutig auf ihre Funktion und Wirkung im Buch hin angelegt.
Die nie verlorene Vertrautheit mit dem Zustand des Kindseins war ein Kennzeichen für das Buch Ik wil die!. Sie spricht auch aus dem Bilderbuch Herman het kind en de dingen. Geelen nimmt das Kind ernst, das mit seinen Spielsachen wie mit belebten Wesen umgeht. Diese werden zwar, wie häufig in Kinderbüchern, lebendig, allerdings nur im Dialog, der hier die Seite der Phantasie des Kindes vertritt. In den Bildern dagegen bleiben die Dinge so leblos wie in Wirklichkeit; Kasper, Bär und Puppe überschreiten nie den Rahmen ihrer Dinglichkeit, wie das so oft in anderen Bilderbüchern geschieht, wenn etwa Puppen den Bärenherren Kaffee ausschenken, die sich das mit dem Blick charmanter Schwerenöter, zigarrerauchend, gefallen lassen (zum Beispiel in Hoppla, wir kommen von W. Andreas und F. Koch-Gotha). So wie der Held Hermann muß auch das betrachtende
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Kind die Dinge im Buch sich erst durch seine Phantasie lebendig machen.
Hermann als einziger Mensch (die Erwachsenen sind nur schattenhaft in den Texten anwesend) ist der Souverän seiner Welt. Er wird nicht belehrt, sondern er belehrt selbst, ‘want u begrijpt heel veel, Herman het kind’, sagt die Puppe ohne Kopf. ‘Iedereen gaat op een keer stuk’, ist Hermanns Quintessenz aus dem Tod der Großmutter. Geelen begleitet diese sowohl sarkastische wie erschütternde Feststellung mit einem Bild, in dem ein düsteres, schmutziges Blau vorherrscht. In allen fünf Bildern zu dieser Geschichte steht der unbenutzte Stuhl mit dem Taschentuch, Symbol des Gefühls der Leere, die ein Gestorbener hinterläßt, im Mittelpunkt. Sein grobes gelbes Flechtwerk zwingt fast die Erinnerung an van Goghs großartiges Bild eines geflochtenen Stuhls hervor, das ebenso als Spiegelbild der Einsamkeit verstanden werden kann. Sind das zufällige Parallelen, oder verrät hier der bewußt auf die expressive Malerei des Flamen Bezug nehmende Künstler Geelen seine Anwesenheit? Seine Persönlichkeit jedenfalls scheint durch den Charakter des Kindes Hermann hindurch, der so verräterisch empfänglich für alle äußeren Eindrücke ist - kann man überhaupt solche Texte und Bilder schaffen, wenn man sich nicht selbst ähnlicher Situationen in seiner Kindheit erinnert? In jedem überzeugenden Buch, und erst recht in jedem Buch über Kindheit, steckt ein guter Teil des eigenen Lebens.
Andreas Bode. Am 27.12.1942 in Leipzig geboren, Besuch der Thomasschule und 1954-60 Mitglied des Thomanerchores zu Leizig. 1961 Flucht aus der DDR. Abitur in München, als Kriegsdienstverweigerer anderthalb Jahre Krankenpfleger. Studium der osteuropäischen Geschichte und Slavistik. Bibliotheksreferendar an der Bayerischen Staatsbibliothek. Zuerst angestellt in Bamberg, dann Leiter der Zentralen Hochschulbibliothek der Hochschule der Künste in Berlin. 1983 Direktor der Internationalen Jugendbibliothek, ab 1992 bibliothekarischer Direktor. |
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