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Expose
Hermann Kesten
Die Situation der deutschen Literatur 1952
Die deutsche Literatur hatte immer ihre schönsten Momente, wenn sie weltoffen war. Je mehr sie von fremden Literaturen empfing, um so mehr hatte sie der Nation und fremden Literaturen zu geben.
Ein deutscher Schriftsteller, der aus der weiten Welt für eine Weile heimkommt, mag vielleicht eine andere Ansicht von unserer deutschen Literatur haben als ein Schriftsteller, der nie Deutschland verlassen hat. Ich habe sieben Jahre in Paris mit französischen Schriftstellern gelebt, zwölf Jahre in New York mit amerikanischen Schriftstellern. Auch teile ich die Erfahrungen der deutschen Emigrationsliteratur, die von 1933 bis 1945 eine Literatur im Exil, eine oppositionelle Kampfliteratur war.
Solange man in seinem eigenen Lande bleibt, ist man geneigt, sich, sein Land und seine Literatur zu überschätzen, und die eigenen Probleme für die interessantesten, die Meisterwerke der eigenen Literatur für unvergleichlich zu halten. Im Ausland muß man die Erfahrung machen, daß man in der Fremde manche unserer literarischen Götter gar nicht kennt, oder sie gering schätzt.
Sogar in einem weltoffenen Land wie Deutschland, dem klassischen Land der Literaturvermittlung und Übertragung, einem wahren Literaturmarkt Europas, herrscht neben einer grenzenlosen Hingabe an alles schillernde Fremde ein komischer Stolz auf die heimischen Höcker, wie wenn es nichts Wichtigeres auf Erden gäbe, als den Nationalcharakter im Guten und im Bösen unveränderlich zu wahren. Dabei hatten wir in neueren Zeiten zuweilen den Eindruck, daß gewisse Völker schneller ihren Charakter vertauschten, als die Individuen es taten.
Der mißlungene Versuch die Deutschen, kürzlich erst ein Volk von Kleinstaatlern, Romantikern und besessenen Individualisten, durch eine antimoralische Diktatur zu neutralen Staatsautomaten zu machen, um mit diesem Termitenstaat die abendländische Welt zu erobern, hat auch der zeitgenössischen deutschen Literatur entscheidende Wunden geschlagen.
Alle Verluste eines Landes werden auch zu Verlusten seiner Literatur, wie die literarischen Dummheiten eines Volkes auch sein politisches Schicksal verdummen helfen.
Schon die Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie bedeutete einen Substanzverlust für die deutsche Literatur. Die jungen Dichter aus Budapest und Lemberg, aus Triest und Prag und Czernowitz reisten nicht mehr alle nach Wien oder Berlin zum deutschen Verlag und Feuilleton, zu Theater und Film, sondern viele blieben zu Haus und schrieben statt deutsch nun polnisch, ungarisch, italienisch, tschechisch, oder reisten gleich nach Paris, London und Hollywood und gingen der deutschen Literatur verloren.
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Hitler wollte die Länder rund um die Volksdeutschen eindeutschen, statt dessen bekam das verstümmelte Deutschland diese Millionen von Enkeln deutscher Auswanderer zurück, wo sie nun als eine Art völkisches Proletariat leben. Damit hat die deutsche Literatur einige ihrer besten europäischen Stützpunkte und literarischen Horchposten verloren.
Dasselbe gilt für die physische Ausrottung des europäischen Ostjudentums. Hier war eine hochbegabte Volksgruppe, die einen deutschen Dialekt sprach, jiddisch, der in seinen literarischen Leistungen sich durchaus mit jenen manches andern deutschen Dialekts messen konnte. Da gab es Mendele den Schreiber, Jizchok Leib Perez, Scholem Alechem, Scholem Asch, da gab es die originelle Mystik der Chassidim, die Martin Buber in Deutschland bekannt gemacht hat. Wie viele berühmte Musiker und Virtuosen waren Ostjuden, wieviele eminente Maler und Dichter und Philosophen! Henri Bergson, Marc Chagall, Joseph Roth, die beiden bedeutenden polnischen Dichter Joseph Wittlin und Julian Tuwim, der Komponist Carol Rathaus, der Regisseur Max Reinhardt, der Bildhauer Jacques Lipschitz, um nur einige zu nennen. Diese Ostjuden, großenteils Abkömmlinge deutscher, im Mittelalter vertriebener Juden, waren freiwillige Propagandisten deutscher Kultur, geborene Übersetzer, reich an Talenten, die vielfach der deutschen Kultur zu Gute kamen.
Statt diese sprachverwandte Volksgruppe brüderlich zu fördern, statt sie zu feiern, wie man es in Deutschland mit den Vlamen tat, haben die Deutschen sie zuerst verlacht und verspottet, als klänge jiddisch komischer als sächsisch, und später vertrieben und verbrannt, zum dauernden Schaden der deutschen Literatur.
Wie anders handeln andere Völker, um wieviel schlauer selbst im Sinne von Chauvinisten. Bei uns sind die Chauvinisten zwar unbestellte Erbpächter einer mißverstandenen Nationallehre, und so gefährlich wie überall, aber leider dümmer.
In den Vereinigten Staaten von Amerika rühmt man sich mit zauberhafter Eile aller kulturellen Neuerwerbungen. Kaum eingewandert wird ein berühmter Maler, Musiker, Boxer, Gangster oder Dichter ein amerikanischer Dichter, Gangster, Boxer, Musiker, Maler. Einstein is biggest American physicist, Thomas Mann is the greatest American writer, obwohl er deutsch schreibt. Strawinsky, Schönberg, Hindemith, Kurt Weill sind amerikanische Komponisten, Marlene Dietrich, Billy Wilder, Wilhelm Dieterle, Fritz Lang, Selznik, Homolka, Karlweis, Kortner amerikanische Film- oder Bühnenkünstler, Georg Grosz, Erik Isenburger, Richard Lindner, Eugen Spiro, Max Beckmann, Wollheim, Schulein, diese deutschen Maler sind amerikanische Maler für Amerika.
Und in Paris, die berühmte École de Paris, sind es lauter gebürtige Franzosen? Neben Georges Braque und Henri Matisse, Fernand Léger und André Derain stehen der Spanier Pablo Picasso, der Spanier Juan Miro, der Spanier Juan Gris, der italienische Jude Amedeo Modigliani, der russische Jude Marc Chagall, der polnische Jude Chaim Soutine, der bulgarisch-amerikanische Jude Pascin, der Deutsche Max Ernst, ça c'est la gloire de Paris. Für gewisse Deutsche war sogar Heinrich Heine der anonyme Autor der Lorelei, Einstein und Freud waren Juden, die man aus Deutschland austrieb.
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Als sei die deutsche Literatur zu üppig geworden, erhoben sich breite Volksschichten in einem barbarischen Selbsthaß und in einer kläglichen Feindschaft gegen alles Geistige und zivilisatorisch Verfeinerte, ja gegen das Beste der deutschen Kultur, nämlich ihren individuellen Reichtum, und verfolgten ganze Gruppen der deutschen Literatur, die Marxisten und die Juden, die Liberalen und die Pazifisten, die Internationalen und die Katholiken, die Freimaurer und die Konservativen, die Romantiker und die Humanen und schließlich alle, die nicht schweigen konnten angesichts dieser Spottgeburt aus Dreck und Diktatur, dieses klassischen deutschen Unglücksraben Adolf Hitler, der aussah, als hätte es ihn nie gegeben.
Die sogenannte deutsche Revolution erklärte auch der Vergangenheit den Krieg, sie bekämpfte den Idealismus und die Toleranz, und ganze Kunstbewegungen, den Expressionismus, den Kubismus, den Surrealismus, den Impressionismus, den Postimpressionismus. Statt dessen förderte sie einen akademisch konventionellen Servilismus.
Bücherverbrennungen, Menschenjagden, Konzentrationslager, Kulturkammern, Literaturbeamten, die Proskription der Freiheit, der Wahrheit, des Geistes, der Menschenwürde, Spitzeltum und Denunziantenwesen bis in den Schoß der Familie, die jeweilige Bestechung und Verprügelung von Schriftstellern, oftmals derselben, schufen aus der wildblühenden Literatur der Weimarer Republik eine kontrollierte Diktaturliteratur, mit all ihren geheimen Nebenglücksfällen, z.B. der vielsprachigen Weltbereicherung der exilierten Literatur draußen und der unterirdischen Kellerliteratur drinnen mit ihrer verfeinerten Doppelsprachigkeit, Doppelbödigkeit, stillen Opposition und innern Emigration.
Dazu kam die Einbuße an literarischer Tradition infolge der physischen Zerstörung von Büchern und Bibliotheken und der ganzen Leipziger Bücherwelt, infolge der Ausrottung von Schriftstellern und Gelehrten, Buchhändlern und Verlegern durch die deutschen Behörden, und durch die zivilen und militärischen Kriegsverluste, durch die barbarischen Bücherverbrennungen unter Goebbels und die Stadtezerstörungen durch Fliegerbombardements.
1933 wurde die deutsche Literatur halbiert. Wir hatten bereits ein Beispiel erlebt, als ganze Gruppen der blühenden russischen Literatur vor der bolschewistischen Diktatur nach 1917 flohen, oder in Rußland liquidiert wurden, oder nur umerzogen, nur geistig erledigt wurden.
Auch aus Rußland flohen weltberühmte Dichter wie Dimitri Mereshkowskij, Iwan Bunin, Maxim Gorki, Ilya Ehrenburg, Fjodor Sologub, Alexander Kuprin, Iwan Schmeljow. Manche kehrten später zurück, wie Maxim Gorki und Ilya Ehrenburg.
Aber wann hätte je ein Volk, je ein Mensch aus einem fremden Schicksal gelernt? Die meisten lernen nicht mal aus ihren eigenen Erfahrungen.
1945 wurde die lebende deutsche Literatur sogar gevierteilt. Da gab es die westdeutschen, die ostdeutschen Schriftsteller, die Emigranten und die Nazis. Die Nazis wurden vorübergehend nicht mehr gedruckt, die Emigranten hatten auch ihre Ernigrationsverlage verloren und wurden nicht mehr gedruckt, wenigstens nicht auf deutsch. Die Ostdeutschen dachten, wie alle Neulinge unter frischen Diktaturen, unter dieser Diktatur werde es nicht so radikal sich entwickeln wie unter andern Diktaturen, und die
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Parteimitglieder dachten, wir werden es ihnen schon zeigen. Während die Emigranten vorerst nur vereinzelt nach Westdeutschland zurückkehrten, kamen die kommunistischen Emigranten-Schriftsteller befehlsmäßig in hellen Haufen zurück, Becher und Brecht und Bredel, die Seghers und Friedrich Wolf und Ernst Bloch, F.C. Weiskopf, Arnold Zweig, Ludwig Renn, Wieland Herzfelde, Alfred Kantorowicz und Theodor Plievier, der aber einige Jahre später sich von den Kommunisten lossagte.
In Westdeutschland gab es viele okkupierende Armeen und Lizenzen für Verlage, Zeitungen, Zeitschriften und eine gewiße Zensur. In Ostdeutschland wurde die Literatur stufenweise normiert, nach der jeweiligen Parteiparole.
Ein lebender Mensch hält es nicht aus, wenn man ihn vierteilt. Und einer lebenden Literatur sollte es gut bekommen? Aber blühende Literaturen sterben nur langsam, wie es die russische Literatur unter den Bolschewikis beweist.
Wäre unsere deutsche Literatur nicht gevierteilt worden, so wäre sie auch heute noch eine recht ansehnliche und interessante Literatur.
Seit meiner ersten und zweiten Heimkehr ins Nachkriegsdeutschland 1949 und 1950 hat sich die Lage wieder verändert. Damals erklärte ich, es sei an der Zeit, die moderne deutsche Literatur wieder zu einem einzigen Organismus zusammenzuschliessen, der trotz unversöhnlichen Antipoden den hundertfältigen schöpferischen Reichtum einer geschlossenen Nationalliteratur entwickeln könne. Die literarische Emigration war beendet, da theoretisch jedes Buch eines Emigranten in der Bundesrepublik erscheinen konnte. Das politische Exil war 1945 beendet, da alle emigrierten Schriftsteller theoretisch im Stande waren, nach Deutschland zurückzukehren. Inzwischen sind auch in die deutsche Bundesrepublik viele Emigranten ganz oder vorübergehend zurückgekommen. Leonhard Frank, Alfred Döblin, Wilhelm Speyer, Fritz von Unruh, Richard Friedenthal, Stefan Andres, Heinrich Hauser, Bernard von Brentano, Hanns Henny Jahnn, Irmgard Keun, Carl Zuckmayer, Wilhelm Herzog, Hans José Rehfisch, Ferdinand Bruckner, Friedrich Torberg, Albrecht Schaeffer, Karl Jakob Hirsch und Rudolf Hirsch.
Auch die nationalsozialistischen Autoren erscheinen wieder, in alter Frechheit und mit ihrem verworrenen Deutsch, manche sogar mit leicht reformierten Gesinnungen.
In der Bundesrepublik sind, mit Ausnahme von Westberlin, die Lizenzen für Verlage, Zeitungen und Zeitschriften verschwunden. Es existiert nur die Einschränkung, daß man die alliierten Mächte und die Bundesregierung nicht mit Verbalinjurien belegen darf. Im Hintergrund droht nun das neue Gesetz für Schmutz und Schund. Das ist noch eine relativ sehr große Freiheit.
Leider hat sich auch die gegenseitige Absperrung der beiden deutschen Staaten in den letzten zwei Jahren immer mehr verschärft. Die Grenze zwischen deutschen Autoren hüben und drüben bald zur chinesischen Mauer. Es ist ein Jammer.
New York ist kein so schlechter Platz, um einen gelassenen Überblick über die gesamte deutsche Literatur zu gewinnen, dank den wunderbaren öffentlichen- und Universitätsbibliotheken, wo in vollkommener Neutra- | |
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lität alles nebeneinander zu finden ist, die kommunistische Literatur neben den Büchern und Zeitschriften, die in der Bundesrepublik, in der Schweiz, in Österreich erscheinen, samt den Büchern der Emigranten, die noch nicht wieder in Deutschland, Österreich oder der Schweiz erschienen sind. Man erhält ein widerspruchsvolles, ja verworrenes Bild.
In der Deutschen Demokratischen Republik entsteht unter dem Einfluß des russischen Realismus und der russischen Parteipolizei in der Tat eine neue Literatur. Sie ist ästhetisch und moralisch betrachtet erschreckend, geistig eindeutig bis zum Schematischen, politisch trostlos. Nur jene Autoren, die sich in bürgerlichen Ländern als oppositionelle Dichter einen Namen gemacht haben, dürfen bis zu einem gewissen Grad die alten legitimen Kunstmittel und einen Teil ihres Talents anwenden.
Der Literaturbetrieb der Ostzone hat natürlich auch ausgesprochene Verdienste, wie die systematische Übersetzung der klassischen und der modernen russischen Literatur ins Deutsche und die verlegerische Rettung gewisser deutscher Autoren wie Carl Sternheim und Heinrich Mann. Doch wird auch dieses Verdienst dadurch beeinträchtigt, daß die Werke dieser Autoren in den Neudrucken zweckzensuriert werden, ihre biographische Figur für den politischen Tagesgebrauch umgedichtet wird, und daß die moderne sowjetrussische Literatur zum Teil nur als Straflektüre bezeichnet werden kann.
Die wahre Sünde der kommunistischen Literaten ist, daß sie die großen Ideen der Revolution mißbrauchen, die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Aufhebung der sozialen Ungleichheit und die Wiederherstellung der verletzten Menschenwürde. Es ist langst nicht mehr wahr, daß diese sogenannten Kommunisten noch Kommunisten sind. Sie zogen aus, um die Arbeiter und Bauern zu befreien. Welch' wunderbarer Beginn! Aber die Bauern und die Arbeiter sind dort ebenso Puppen einer Diktatur geworden wie die Bürger und Beamten und Soldaten.
Statt gewisse Volksklassen wie früher unterdrückt man heute ganze Völker. Statt das Proletariat zu befreien, versklavt man das gesamte Volk. Ein Doktor Eisenbart hat den Patienten an Kopf und Gliedern amputiert.
In den bürgerlichen Ländern gehören die Kommunisten zur Opposition und nutzen alle Rechte und Freiheiten der angegriffenen Verfassung aus. In ihrem Staate dulden die Kommunisten keinerlei Opposition. Die individuelle Opposition ist aber künstlerisch fruchtbar. Da die ältern kommunistischen deutschen Literaten noch in der relativen Freiheit bürgerlicher Lander aufgewachsen sind, macht ihre Literatur den seltsamen und absurden Eindruck, daß sie mit Gewalt reduziert eine Eunuchenliteratur wurde.
Wollüstig gehorchende Dichter liefern mit äußerster Kraftanstrengung ihr Schlechtestes.
Angeblicht erhält man in der Ostzone oder der Deutschen Demokratischen Republik die ganze revolutionäire Weltliteratur. Aber diese Literatur wird durch ein engmaschiges Zensursieb getrieben.
Was die Literatur der Emigration betrifft, so mögen weit über tausend Schriftsteller ab 1933 geflohen und ausgewandert sein, Wissenschaftler aller Richtungen und Konfessionen von Kommunisten bis zu abtrünnigen Nazis, wie Rauschning und Strasser, Katholiken und Juden, Religionsphilosophen und Tanzkritiker, Filmautoren und Genies, Revolver- | |
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journalisten und Heilige, Patrioten und Spitzel, Psychoanalytiker und Kinderbücherautorinnen und Homosexuelle, kurz das Sammelsurium eines Volkes, alle, denen die Freiheit lieber als der Wohlstand war, oder die mit dem lokalen Parteibonzen einen Streit hatten, jene, die mit gutem Grund und jene, die ohne Grund emigriert waren. Es gab einfach alles in der Emigration, wie in einem richtigen Volk.
Dennoch war diese literarische Emigration im Ganzen gesehen die Elite einer Nation, wie sie noch selten in der Geschichte in so großer Zahl und Bedeutung ihr Land verlassen hatte, um gegen ein barbarisches Regierungssystem vor der Nation und der Welt zu protestieren.
Es schien zuweilen ein aussichtsloser, ein verlorener Kampf. Goebbels schrie in alle Lautsprecher, wir seien mißzufriedene Kulturbolschewisten und zynische Landesverräter, und es gab genug Leute im Ausland, die das gerne hörten und wiederholten. Es war nicht leicht, ein Emigrant zu sein, ganz abgesehen vom Verlust der Staatsbürgerschaft und der Jagd, welche die Fremden-Polizei aller Länder auf uns machte. Wir sollten reisen und hatten keine Papiere.
Schwer war die Entfernung vom eigenen Volk. Schwer die Entfernung von der eigenen Sprache. Indes die deutsche Sprache im Reich unter dem Einfluß der Nazis sich verwandelte, verwandelte sich die Sprache der deutschen Emigranten unter dem Einfluß der fremden Sprachen und Literaturen. Ja manche taten den kühnen Schritt in die fremde Sprache und schrieben englisch, französisch, spanisch, italienisch, und sind nur noch mit ihren Jugendwerken deutsche Schriftsteller, wie Robert Neumann und Arthur Koestler, Franz Schönberner und Klaus Mann, Franz Hoellering und Vicky Baum, Stefan Heym und Peter de Mendelssohn, Hilde Spiel und Hans Flesch-Bruningen, Ernst Erich Noth und Joseph Bornstein und Norbert Mühlen, die alle englisch schreiben.
War es aber beruflich leicht, ein deutscher Dichter im Ausland zu sein und su bleiben? Die meisten berühmten deutschen Dramatiker gingen in die Emigration, Georg Kaiser und Carl Sternheim, Ferdinand Bruckner und Carl Zuckmayer, Bert Brecht und Ernst Toller und Walter Hasenclever, Fritz von Unruh und Hans Rehfisch, Karl Vollmöller und Fritz Hochwälder, Bruno Frank, Leonhard Frank, Alfred Neumann, Friedrich Wolf, Oedoen von Horvath und Hans Borchardt.
Alle schrieben in der Emigration Stücke, einige wurden in Zürich, oder in London, oder New York, oder Paris gespielt, aber ganz sporadisch, keiner konnte vom Ertrag seiner Stücke leben.
Gar unsere deutschen Lyriker in der Emigration, welch' gute Namen und wieviel namenloses Elend! Ich spreche nicht von Stefan George, Frans Werfel und Hermann Hesse, sondern von Max Hermann-Neisse, Walter Mehring, Mascha Kaleko, Albert Ehrenstein, Else Lasker-Schüler, Hans Sahl, Alfred Wolfenstein, Paul Zech, Paula Ludwig.
Wovon leben Lyriker in Deutschland? Aber wer gibt einem deutschen Lyriker im Ausland ein Stück Brot für ein deutsches Gedicht?
Und die jüngeren Prosaisten, die kaum einen Namen hatten, als sie in die Emigration gingen? Und die ältern, wie etwa Albrecht Schaeffer, deren Werk so unübersetzbar deutsch war, daß es nirgends gedruckt wurde?
Neben den geistigen, literarischen und materiellen Schmerzen der Emi- | |
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gration bot sie natürlich auch zahlreiche Vorteile und viele Wonnen. Die amerikanische Flotte hat einen Werbespruch: Join the navy and see the world. Die politische Emigration ist ebenfalls eine Gelegenheit für Weltreisen, nicht nur lokaler, sondern auch spiritueller Natur. Man lebt nicht unbelohnt jahrzehntelang inmitten fremder. Völker, Kulturen und Literaturen. Gerade der deutschen Literatur hat Weltkenntnis und Welterfahrung immer sehr gut getan bei ihrer Neigung fürs provinzlerisch Kauzige, Heimatversponnene und abgründig Seelentiefe. Weltkenntnis und Welterfahrung haben wir in Fülle in der Emigration gewonnen und in die Speicher und Scheuern der deutschen Literatur heimgetragen. Wir haben inmitten fremden Literaturen gelebt und uns fremde Sprachen angeeignet, mit ausländischen Schriftstellern oft die innigste Freundschaft geschlossen, sind Bürger fremder Länder geworden, haben fremde Sitten studiert und teilweise angenommen. Welche großartige Bereicherung der deutschen Literatur!
Emigrantenschriftsteller wurden gründlich geschulte Übersetzer ins Deutsche und aus dem Deutschen. Sie können in Deutschland auf übersehene literarische Schätze des Auslands, im Ausland auf deutsche Schriftsteller nachdrücklich hinweisen, an denen das Ausland vorüber gegangen ist.
So habe ich zum Beispiel in England und Amerika mitten im Krieg englische Heine-Ausgaben gebracht und in einer Anthologie der besten Novellen der Romantiker Europas und Amerikas The Blue Flower zum ersten Mal in Amerika auf englisch solche Meisterwerke der deutschen Literatur gedruckt, wie ‘Das Erdleben in Chili’ von Heinrich von Kleist oder ‘Spiegel das Kätzchen’ von Gottfried Keller, oder in einer gemeinsam mit Klaus Mann in Amerika herausgegebenen Anthologie The Heart of Europe Proben der besten europäischen Schriftsteller zwischen den beiden Weltkriegen, deutsche Schriftsteller der Gegenwart zum ersten Male auf englisch dem amerikanischen Publikum vorgestellt, um nur einen zu nennen, den bedeutenden Romancier Ernst Weiss, der daraufhin auch in andern amerikanischen Anthologien erschienen ist.
Wenn heute wieder in aller Welt ältere und neue Autoren, die in Deutschland geblieben sind, in Übersetzungen erscheinen, so sind es häufig emigrierte Schriftstellers, die ihren Verlegern gerade diese Bücher zuerst empfohlen, oder für diese Verlage gelesen oder sie übersetzt haben, darunter manches deutsch abseitige Buch, das kein sprachfremder Ratgeber je empfohlen hätte.
Eine der sonderbaren literarischen Erfahrungen in der Emigration machte ich gleich vielen meiner Freunde in Amerika, in New York, wo wir von 1940 bis 1950 unser langverlassenes Leben der zwanziger Jahre von Berlin und der Weimarer Republik plötzlich wiederfanden.
In the little magazines, den kleinen literarischen avantgardistischen Zeitschriften, entdeckten die Amerikaner jetzt erst den deutschen Expressionismus, jetzt erst Rilke, und jenen Kafka, den Kurt Wolff schon im ersten Weltkrieg im ‘Jüngsten Tag’ gedruckt hatte, den ich selber 1931 im Verlag Gustav Kiepenheuer in Berlin gedruckt habe.
Auf dem Theater entdeckte man Elisabeth Bergner, oder die Manier von Piscator (nicht Piscator selber), oder Autoren, die an Strindberg und
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Wedekind erinnerten, wie Thornton Wilder, oder an den frühen Ferdinand Bruckner, wie Erskine Caldwell, oder die Nachfahren der deutschen ‘Neuen Sachlichkeit’ und unseres ‘magischen Realismus’, wie Arthur Miller und Tenessee Williams, dessen bestes Stück ‘Rose Tattoo’ so stark an Oedoen von Horvath erinnert. Der Broadway machte Kurt Weill zu einem der erfolgreichsten Operettenkomponisten von New York.
1945 entdeckte der New Yorker Avantgardistenverlag ‘New Directions’ den belgischen Surrealisten Henri Michaux für Amerika, den ich schon 1931 in meiner bei Kiepenheuer erschienenen Anthologie ‘Neue Französische Erzähler’ in Deutschland eingeführt habe; ebenda druckte ich zum ersten Mal für Deutschland Jean Giono und Henri de Montherlant, André Malraux und Jules de Supervielle, die ebenfalls in Amerika erst in den vierziger Jahren erschienen sind.
Die ganze literarische Stimmung in den Vereinigten Staaten in den vierziger Jahren glich jenen der zwanziger Jahre bei uns in Berlin, mit dem Salonbolschewismus und Literaturmarxismus in Hollywood und New York, mit dem Triumph der modernen psychologischen Schulen von Freud, Adler, Jung, mit der Neuentdeckung unserer alten Berliner Filme und Filmgrößen bis zum ‘Blauen Engel’, mit New Yorker surrealistischen Theaterexperimenten und deutschen Schauspielern und experimentellen Filmstudios, mit Life, das nach dem Muster der ‘Berliner Illustrierten’ gemacht war, mit dem ‘New Yorker’, der in manchem an den alten ‘Simplizissimus’ erinnerte, mit den großen Book Clubs, die von unseren Buchgemeinschaften inspiriert waren, und den pocket books, die nach Tauchnitz und Albatros entstanden, mit unsern alten deutschen Verlegern, die erfolgreiche amerikanische Verleger geworden waren, wie Kurt Enoch, der heute der größte amerikanische pocket book Verleger ist (er kam erst 1940 nach New York), mit Kurt Wolff, der den ansgezeichneten Pantheon Verlag in New York geschaffen hat, mit dem L.B. Fischer Verlag unter Dr. Bermann Fischer und Dr. F.H. Landshoff, mit Klaus Mann und seiner Zeitschrift ‘Decision’ in New York, mit Thomas Mann, der vor Tausenden Zuhörern in New York deutsche oder englische Vorträge und Lesungen hielt, und mit mehr als hundert namhaften deutschen Autoren in New York, und mit dem Getümmel internationaler Autoren, Komponisten, Maler in New York, wie in den besten Berliner Zeiten, mit den schwulen Bars, dem Jazzrummel, und der kosmopolitischen Neugier, und den vielen deutschen Buch- und Magazinillustratoren und der Entdeckung von Barlach und Lehmbruck, Kokoschka und Beckmann und George Grosz, und mit dem ‘Ring’ und dem ‘Rosenkavalier’ in der Metropolitan Oper.
Wir schienen durch eine Zaubertür ins gute alte Berlin der Weimarer Republik zurückgekommen, mitten in New York und Hollywood, mitsamt den Erfolgen jener selben deutschen Autoren, die 1930 in Berlin die grossen Erfolge hatten, wie Feuchtwanger und Werfel, Remarque und Thomas Mann und Stefan Zweig, mit den Romanen der Vicky Baum und Kathrin Holland in den amerikanischen Magazinen, mit den alten Diskussionen über Stalin und Hitler, Kafka und die Sowjetliteratur - Berolina rediviva in New York.
Obendrein haben Berlin und New York so vieles gemein, das Groteske und Geschwinde, das im Intellektuellen oft wie Zauberei, oft wie absurde
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Vergeßlichkeit aussieht. Beide Wellstädte haben eine imposante Häßlichkeit und eine überraschend liebliche Umgebung. Ihr exzentrischer kaustischer Mutterwitz war im alten Berlin und in New York durch jüdischen Witz stimuliert, wie die Mischung von Juden und Christen fürs Kulturleben des weimarischen Berlin und für New York so typisch ist. Beide Städte macht die künstliche Magie der Lichtreklame zu Nachtschönheiten.
Dieser Spaß der zivilisatorischen Begegnung mit Berlin in New York, einem Über-Berlin, wurde zur Komödie, als ich nach dem Krieg nach Deutschland zurückkam und entdeckte, daß ich und meine Altersgefährten schon die literarischen Großväter der jungen Deutschen waren, obwohl sie oft kaum jünger als wir waren.
Sie gingen auf Umwegen bei uns zur Schule, indem sie unsere ausländischen Schuler nachahmten, da sie uns vergessen oder nie gekannt hatten. Im neuen Deutschland ist Oedoen von Horvath vergessen und Tenessee Williams berühmt, Joseph Roth vergessen und Hemingway berühmt, unser alter Kafka kam nach Deutschland als eine englischamerikanischfranzösische Entdeckung zurück. Die jungen deutschen Literaten ahmen nicht mehr Erich Kästners ‘Fabian’ oder meine ‘Glücklichen Menschen’ nach, sondern Sartre und Camus, die vom Berliner Roman von 1930 herkommen. Hans Werner Richter, Rudolf Krämer-Badoni, Soehring und Andersch wurden von Hemingway beeinflußt, der wie der frühe Montherlant und der frühe Joseph Roth schreibt. Unsere jüngsten Dramatiker lernen von Thornlon Wilder und O'Neill, die beide von Ernst Toller Anregungen empfingen, und von unsern andern Expressionisten. Andre gehen bei Dos Passos zur Schule statt zu Alfred Döblin, bei dem noch der gute alte Brecht und Lion Feuchtwanger gelernt haben. Walter Jens, Ilse Aichinger und dreizehn Dutzend junger Deutscher ahmen den Kafka nach und wissen nicht, daß Kafka kein Meteor war, der vom Himmel nach Prag fiel, sondern einer aus einer ganzen Prager und Wiener Schule, die alle von E.T.A. Hoffman, Gogol und Poe beeinflußt waren. Ich war schon dafür dankbar, daß die jungen deutschen Lyriker nur Auden und T.S. Eliot übersetzten und imitierten und nicht Rainer Maria Rilke aus dem Englischen ins Deutsche rückübersetzten.
Ich sage hier nichts gegen Einflüsse und Schule. Ohne Schule und Tradition bricht jede Literatur in Stücke. Auch die jungen Genies beginnen mit Nachahmung oder Parodie. Goethes Werther dankt vieles dem Rousseau. Fielding schrieb seinen Erstlingsroman ‘John Andrews’ als Parodie auf Richardson. Nur ist es schade, daß unsere jungen Autoren bei der Nachahmung ausländischer ‘Originalgenies’ meist nicht die Originale, sondern oft spottschlechte Übersetzungen lesen, und da in die Gefahr geraten die Sprachschnitzer des Übersetzers nachzuahmen, die sie für Eigentümlichkeiten des Originals halten.
Ist also die Literatur der Bundesrepubliek ein Spiegelbild der Literatur der Weimarer Republik? War alle Zeit dazwischen nur ein Dornröschenschlaf? Und die Wellentwicklung ging spurlos vorbei? Denn Joyce, Kafka, Thomas Mann, Proust, Kierkegaard, Faulkner, Hemingway gab es schon 1932. Schon damals ahmten Wolfgang Weyrauch und seine Freunde den Hemingway nach. Schon damals wurden deutsche Autoren von Kafka oder Joyce beeinflußt wie Wolfgang Koeppen heute, und erklärte man
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abwechselnd Thomas Mann für den größten deutschen Epiker der Gegenwart oder für veraltet.
Merkt man nur die Spuren der Zeit, aber keine Entwicklung? Viele Dichter starben, neue tauchten auf. Aber Thomas Mann schreibt immer noch am Krull, Hermann Hesse immer noch Briefe an junge Dichter, täglich erscheinen neue Kafkamanuskripte, als gäbe es eine Kafkafabrik, Hans Grimm und Guido Kolbenheyer füllen immer noch ihre Bücher mit Sprachschnitzern und Hitlerhymnen an und werden immer noch von Paul Fechter in den Himmel gehoben. Rowohlt druckt wie 1932 mit der Rechten Ernst von Salomon und mit der Linken Stalinbiographien und Kurt Tucholsky. Zuckmayer feiert die alten Theatertriumphe. Carossas Leser glauben immer noch an den weltfernen Adel Carossas, Schnurre parodiert heute den Jünger, wie es einst Robert Neumann tat, Ernst Jünger betet immer noch den Ernst Jünger an, Remarque wird immer noch gescholten und gelesen. Die Literarische Welt erscheint, wenn auch in Darmstadt statt in Berlin. Die Weltbühne gibt es gleich um die Ecke. Hat sich nichts verändert?
Swedenborg malte die Hölle so. Drüben tat jeder, was er hüben getan hat. Ein Kaminkehrer kehrt auch in der Hölle Kamine. Paul Fechter wird einmal auch in der Hölle Hans Grimm und Guido Kolbenheyer und Hans Friedrich Blunck lesen und rühmen müssen, was wirklich eine höllische Strafe bedeutet.
Schon in der Emigration verdroß mich die scheinbare stationäre Tendenz der Literaturkritik; die ganze Exilsliteratur schien wie im Eisschrank konserviert. Wer als junges Talent herausging, blieb es durch zwanzig Jahre trotz allen Wandlungen. Sind nun in Deutschland die Literatur und die Kritik wirklich steckengeblieben?
Ich glaube es nicht. Die deutsche Literatur ist immer noch grundlebendig und fruchtbar und interessant, nur eben aufgeteilt und atomisiert. Die deutsche Literatur kennt sich selber nicht mehr.
Diesen stationären und halb unbewußten Zustand der Literatur finden wir heute in vielen europäischen Literaturen und in geringerem Maße auch in Amerika.
Nirgends außer in den Literaturen, wo der russische Realismus so tödlich regiert, gibt es eine herrschende literarische Richtung oder Schule.
Überall gehen Restauration und Revolution, Tradition und Experiment und sämtliche Literaturmoden dieses halben Jahrhunderts durcheinander und nebeneinander her. Die umstürzenden neuen Theorien der Physik, Medizin, Psychologie, Astronomie, Mathematik, aller Naturwissenschaften, der Universalgeschichte und der Technik sind keineswegs literarisch angeeignet und geistig verdaut worden.
Überall in der Welt herrschen eine neue schamhafte Romantik und unverschämte Reaktion, in Rußland wie in Amerika wie in Deutschland. Überall üben die Glaubensorganisationen einen starken Einfluß auf die Literatur aus, ob es nun die katholische Kirche oder die Töchter der amerikanischen Revolution oder des Moskauer Klerus sind. Überall werden die Zensurbestrebungen frecher.
Nur sind in Deutschland die Zerklüftungen stärker als anderswo, da hier alles 1945 in Ruinen lag, Volk und Staat, Moral und Poesie, Kritik
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und Kunst, Hochschulen und Zeitschriften, Dichter und Dichtung, Zeitungen und Theater und Verlage.
Da verhältnismäßig mehr Vertreter der weltgültigen Dichtung ins Exil gingen als deutsche Provinzdichter, mehr die denkende Großstadtliteratur als die vegetatieve Poesie, und da das künstlerische Experiment von staatswegen verfolgt wurde, besteht für die Literatur der Bundesrepublik ebenso wie für die Literatur in der deutschen Schweiz, die sich aufs eingeborene und lokale Element aus Opposition gegen das Dritte Reich zurückzog, die bedeutende und eigentümliche Gefahr einer Überwucherung der Provinzliteratur, der Raabeschüler mit Kafkamotiven und Joycetechnik, der intellektuellen Raubritterliteraten vom Schlage des Ernst von Salomon, der Provinzpsychopathen und Schildbürgerliteratur, der Theodor Körner-bis Goethe-Tierstimmenimitatoren, und andererseits in der Bundesrepublik, wie in Österreich insbesondere, die Gefahr der Überschätzung der intellektuellen Randerscheinungen und geistigen Grenzfiguren, der Nachahmung stilistischer oder intellektueller Extremisten wie es Joyce, Proust, Kafka und Musil waren, die sozusagen nur das Genie vor dem Dilettantismus gerettet hat, deren Technik und Geist mittleren Talenten aber übel ansteht.
In der Weimarer Republik gab es eine viel angesehenere und wirkungsvollere Literatur und Theaterkritik als heute. Es gab ein Dutzend Theaterkritiker, die über ihren Ort hinaus in ganz Deutschland Wirkung übten. Es gab in den großen Berliner Zeitungen und in den großen Provinzblättern regelmäßig literarische Kritiker, die Einfluß auf die Geltung und den Verkauf der Autoren hatten. Es gab in jeder Großstadt Zeitungen mit einem viel umfangreicheren und besseren Feuilleton als es heute die Zeitungen haben. Mit einem Roman in der Frankfurter Zeitung oder in der Vossischen Zeitung zu erscheinen, bedeutete einen literarischen Erfolg für einen unbekannten Autor und machte ihm einen Namen. Von den ständigen Literaturkritikern der Frankfurter Zeitung, der Kölnischen Zeitung, der Münchener Neuesten Nachrichten, des Hamburger Fremdenblatts, des Berliner Tageblatts, der Literarischen Welt gelobt zu werden, konnte eine Auflage und einen nationalen Ruhm machen. Schon die Tatsache von einem Verlag wie S. Fischer, Insel, Kiepenheuer, Kurt Wolff oder Zsolnay gedruckt zu werden, bedeutete eine Mindestauflage von drei-tausend und Beachtung im deutschen Blätterwald. Die Theater und Verlage, die Zeitungen und Zeitschriften hielten es für ihre Ehrenpflicht, der jungen Literatur eine Chance zu geben, jungen Autoren von Talent Jahresrenten zu geben. Diese Ehrenpflicht erkennt heute nur noch der Rundfunk an.
Natürlich ist der Ausfall der Reichshauptstadt Berlin eine literarische Katastrophe für Bücher und Bühnenstücke. Es gibt keine literarischen Kaffeehäuser mehr, wo Meinung gemacht, Kritiker gebildet, Ideen ausgetauscht oder gestohlen, neue Literaturprogramme entworfen, neue literarische Richtungen hergestellt oder entdeckt werden. Gruppenbildungen wie jene der Gruppe 47 oder der fatalen Hans Grimm Gruppe oder des P.E.N.Clubs, oder der Akademien, oder der K.P.D., oder des Tukankreises sind nur ein schwacher Ersatz für das literarische Kaffeehaus. Es gibt auch viel zu wenige literarische Zeitschriften. In Zeitschriften und in
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Kaffeehäusern übt man jene scharfe Kritik, die einer gesunden Literatur notwendig ist. Wir alle sind viel zu tolerant gegen das Böse und Schiefe in der Literatur, gegen Halbtalente und schlechte Charaktere, oder wie Goethe sie hieß, die Halblemuren.
Wir, die Schriftsteller und Kritiker, müssen dafür sorgen, daß wir die disparate deutsche Literatur wieder zusammenschauen als eine einzige Literatur. Wir müssen wieder alles mit den höchsten Maßstäben messen, sine ira et cum studio.
Es fehlt nicht an großen Persönlichkeiten und Büchern in der gegenwärtigen deutschen Literatur und nicht an der Fülle der Talente und keineswegs am Reichtum der Probleme und Erlebnisse.
Wieviele Konflikte und geistige Abenteuer und episch-dramatisch-lyrisch-philosophischen Stoff bietet allein dieses Berlin, das gewaltsam in eine Zwillingsstadt aufgeteilt wurde, dieses unglückliche Paradies eines modernen Dichters. Rücken an Rücken leben hier zwei Welten, zwei Zivilisationen in derselben Großstadt. Eine Fahrt mit der Untergrundbahn führt uns vom Westen in den Osten, der vom Osten in den Westen, von Moskau nach New York oder umgekehrt, und dabei ist alles immer noch Berlin, das alte, große, witzige, urlebendige Berlin.
Unsere Gefahren in der deutschen Literatur sind also der Traditions-bruch, der russische Realismus, die Überwucherung der Provinzliteratur, die Experimente aus dritter Hand, die Atomisierung, die Zerstörung der dichterischen Integrität, die Unbewußtheit, und die deroutierte Kritik.
Unsere Hoffnungen sind die verhältnismäßig große Freiheit und der materielle Aufschwung der Bundesrepublik, die Kulturkorrespondenz mit den so nahe gerückten fremden Literaturen, die Europäisierung Europas mitsamt und trotz aller Amerikanisierung und Russifizierung, der neue Anschluß an die Weltliteratur, die ungebrochene Tradition der reichen deutschsprachigen Schweiz, der Beitrag der österreichischen Literatur, und vor allem unsere jungen Dichter.
Zwei Jahre lang habe ich die Prosabücher neuer deutscher Dichter systematisch gelesen, die in der Hauptsache erst nach 1945 herausgekommen sind, da ich mit Thomas Mann und Alfred Neumann den aus unseren Mitteln und Mitteln unserer Auslandsverlage gestifteten mit 5.000 DM dotierten René Schickele-Preis zu verteilen hatte, den wir samt literarischen Ehrungen an Hans Werner Richter, Hermann Lenz, Heinz Risse, Ilse Aichinger, Luise Rinser und Franziska Becker vergeben haben, ein Preis, der im übernächsten Jahr wieder für den besten deutschen Roman eines neuen Nachkriegsautors vergeben werden soll.
Dabei haben wir weinige Romane gefunden, die sich mit den besten Romanen junger Amerikaner, Engländer, Franzosen oder Italiener messen konnten, aber eine Fülle echter, neuer, interessanter Talente mit schönen Gesinnungen.
Diese jungen Deutschen hatten es schwer genug. Aufgewachsen unter der Diktatur und im Krieg marschierten sie in Uniform durch ganz Europa und Afrika und viele landeten in den Gefangenenlagern von Afrika, Asien und Amerika. Sie hatten keine Wahl und keine Ideale und keine Vorbilder, aber Hunger und Langeweile und Ruinen.
Sklaverei macht dumm oder unaufrichtig. Leiden ohne Unterlaß macht
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oft böse. Die Lektüre staatsempfohlener Autoren verdirbt die guten Sitten und die Syntax. Der Hunger ist ein schlechter Koch und keine Muse. Unter der Oberherrschaft von Denunzianten und Terroristen bildet sich kein Charakter und in der Einsperrung kein Talent.
Man mußte also für unseren literarischen Nachwuchs mit dem Schlimmsten rechnen oder auf Großes hoffen. Es kam aber weder zum Ärgsten noch ging es zum Besten. Ich habe bei meinen drei Besuchen in Deutschland 1949, 1950 und 1952 viele junge deutsche Dichter und Dichterinnen von Talent und mit den schönsten Überzeugungen getroffen. Viele gefielen mir, einige wurden meine Freunde, deren Bücher ich liebe.
Aber hatten es unsere jungen Schriftsteller nicht schwer? Sie verloren die Tradition und bekamen plötzlich zuviele neue Beispiele. Wem sollen sie folgen, wen nachahmen oder parodieren? Inmitten einer turbulenten Welt und eines aufgestörten Zeitalters und einer Art naturwissenschaftlichen und technologischen Messianismus aus Russland und Amerika sind sie reich an unverdauten Erfahrungen, frühe Zeugen von Krieg, Hunger, Diktatur und Tod, und wollen ein gemässigtes Leben am gefürchteten Vortag neuer Revolutionen oder Kriege, und neuer Zeitalter.
Dennoch liegt in ihren Händen die Zukunft der deutschen Literatur, besonders hier in der Bundesrepublik, in der Schweiz und in Österreich, wo noch eine gewisse Freiheit und Weltoffenheit existieren.
Ich erwarte alles Schöne und Gute von den jungen deutschen Autoren, sogar enige Meisterwerke, wenn wir Glück haben, und gute Bücher, Zeugnisse einer neuen Humanität und eines neuen Geistes.
(Voordracht, gehouden in de Münchener Kammerspielen op 3 Nov. 1952.)
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