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Walter Benjamin
Neue Dichtung in Russland
Voor den oorlog nam in Rusland slechts een kleine élite aan het literaire leven deel. Tegenwoordig zijn er in Rusland, dank zij de liquidatie van het analfabetisme, honderd duizenden nieuwe lezers. Hun over het algemeen nog weinig ontwikkelde geestesgesteldheid beïnvloedt den aard en de strekking der nieuwe werken. Eerst werd de stof in het bijzonder aan den burgeroorlog ontleend, in den laatsten tijd is men begonnen N.E.P.-problemen aan de orde te stellen. Men kan onderscheiden: Proletkult, futuristisch, gaat terug tot voor 1914; Poputschiki, overgangsliteratuur van de burgerlijke civilisatie naar de proletarische cultuur; Napostowzen, volstrekte hegemonie van het proletariaat in de literatuur.
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Au lieu d'une très petite élite qui, avant la guerre, prenait part aux événements littéraires, il y a à présent en Russie, grâce à la liquidation de l'analphabétisme, des centaines de milliers de nouveaux lecteurs qui, généralement d'esprit assez simpliste, imposent aux auteurs le caractère et la direction de leurs ouvrages. Premièrement leurs sujets furent empruntés spécialement à la guerre civile, récemment on a commencé d'aborder les problèmes du N.E.P. On peut distinguer: ‘Proletkult,’ futuriste, d'origine d'avant la guerre; ‘Poputschiki’, littérature transitoire entre la civilisation bourgeoise et la prolétarienne; ‘Napostowzen’, hégémonie absolue du proletariat dans la litérature. Ouvrages principaux: Boris Pilnak: L'année nue (Editions de la Nouv. Revue Fr.); Victor Chkloski: Voyage sentimentale (Kra; très belle traduction par V. Pozner); Iurij Lebedinski: La semaine (Editions sociales internationales); Constantine Fédine: Les villes et les années; Larissa Reisner: Le front; Rodinow Tarassow: Chocolat. (Ces derniers ouvrages n'ont pas encore été traduits en français.)
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In place of the small and elect class of readers interested in literature before the war, there are at present in Russia, thanks to the decrease in illiteracy some hundreds of thousands of new and simple-minded readers, who impose on the authors the character and the tendencies of their work. At first their subjects were especially borrowed from the civil war, recently they started discussions about N.E.P. problems. We distinguish: ‘Proletkult’, futurist originating before the war; ‘Poputschiki’, transition literature between the bourgeois and proletarian civilisation; ‘Napostowzen’, the complete domination of the proletariat in literature.
Aus der wissenschaftlichen Literaturgeschichte stammt die Gewohnheit, neue Epochen, Strömungen im Schrifttum, aus der unmittelbar vorhergehenden literarischen Situation zu erklären. Die wissenschaftliche Haltbarkeit und Zweckmässigkeit eines solchen Verfahrens mag dahin gestellt bleiben. Evident aber ist das Eine: Das Schrifttum, das sich jetzt in Russland herausbildet, aus der Literatur zu entwickeln, welche die Generationen Dostojewskis, Turgeniews, Tolstois hervorgebracht haben, wäre zumindest ein Umweg. Der gegebene Ausgangspunkt einer Charakteristik sind die veränderten Kulturverhältnisse, die mit der Revolution sich eingestellt haben. Die alte Bourgeoisie, der Adel, haben in Russ- | |
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land keine öffentliche Stimme mehr. Die Standardwerke, in denen das geistige Besitztum dieser Schichten niedergelegt ist, stehen heute schroff isoliert, als Denkmäler der Vergangenheit da. Das öffentliche Interesse gehört den Dichtern, die 30 Jahre oder jünger sind, die Revolution als Kämpfer erlebt haben oder zumindest von Anfang an entschieden sich auf den Boden der neuen Tatsachen gestellt haben. Man darf freilich nicht erwarten, dass diese Dichter eben damit schon im Stande waren, das was sie zu sagen haben, in grossen dauerhaften Werken vorzulegen. Die Theoretiker des Bolschewismus selbst betonen, wie wenig die Lage des Proletariats in Russland nach seiner siegreichen Revolution von 1918 mit der der Bourgeoisie in Frankreich im Jahre 1789 sich vergleichen lasse. Damals hatte die siegreiche Klasse, bevor die Macht ihr zufiel, in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen die Beherrschung des geistigen Apparates sich gesicherte. Die intellektuelle Organisation, die Bildung war längst mit der Ideenwelt des tiers état durchsetzt und der geistige Emanzipationskampf vor dem politischen durchgefochten. Im heutigen Russland liegt das ganz anders. Für Millionen und
Abermillionen von Analphabeten sollen die Fundamente einer allgemeinen Bildung erst gelegt werden. Berühmt ist Lenins Armeebefehl für die III. Front - die I. Front, das ist in Russland die politische, die II. ist die wirtschaftliche und die III. die kulturelle - dieser Armeebefehl an die III. Front also lautet, dass bis zum Jahre 1928 der Analphabetismus müsse liquidiert worden sein. Mit einem Wort, die russischen Autoren müssen heute schon mit einem neuen und mit einem sehr viel primitiveren Publikum als die früheren Generationen es kannten, rechnen. Ihre Hauptaufgabe ist, an die Massen heranzukommen. Raffinements der Psychologie, der Wortwahl, der Formulierung müssen völlig an diesem Publikum abprallen. Was es braucht sind nicht Formulierungen, sondern Informationen nicht Variationen sondern Wiederholungen, nicht Virtuosenstücke sondern spannende Berichte. Gewiss, nicht alle literarischen Fraktionen oder Zirkel haben sich diese radikalen Thesen zuereignet. Wohl aber entsprechen diese Thesen dem Standpunkt, welchen die grösste und gewissermassen offiziöse Organisation - der Wapp, der allgemeine Verband proletarischer Schriftsteller Russlands - proklamiert. Folgerecht proklamiert Wapp weiter, dieser Aufgabe gewachsen sei nur der eigentlich proletarische Schriftsteller, nur der Bekenner des Gedankens einer Diktatur der Arbeiterklasse. Schlagend hat Demjan Bedny formuliert: Und wenn wir auch nur 3 Rotzkerle haben, dann sind es wenigstens unsere eigenen.
So die Ultras. Sie geben nicht den Standpunkt der Partei. Aber die ausschlaggebenden Instanzen im Literaturleben, die staatliche Zensur, die öffentliche Meinung stehen in der Praxis ihnen nicht allzufern. Nimmt man hinzu, dass in Russland der freie Schriftsteller auf dem Aussterbe-Etat steht, der breite Durchschnitt aller Schreibenden in dieser oder jener Form dem Staatsapparat verbunden und als Beamter oder anders durch ihn kontrolliert wird, so hat man ein Gradnetz der herrschenden Zustände.
In dieses Gradnetz werden wir nunmehr die Entwicklungskurve der letzten 5 Jahre einzeichnen und dabei wie die praktische, informatorische Tendenz dieser kurzen Ausführungen es nahelegt als Orientierungspunkte die Hauptwerke der jetzigen Literatur, wenn möglich in Uebersetzungen, namhaft machen.
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Lage bei Ausbruch der Revolution: Die ersten Bemühungen um neue Literatur sowie um neue Kunst im allgemeinen sammeln sich unter der Flagge des Proletkult. Führend: Erstens Majakowski. Wladimir Majakowski war ein nicht unbekannter Dichter bereits unter dem Zarismus. Ein exzentrischer Frondeur etwa wie Marinetti in Italien. Ein kühner Neuerer in formalen Dingen, verleugnet er damals nicht völlig seine Bestimmtheit durch die romantische Dekadenz. Egozentrischer Dandy, rückt er sich selber gern in den Mittelpunkt seiner hymnischer Dichtungen und bewies damals schon jenes Talent für Theatralische, dass er um 1920 in den Dienst der Revolution stellt. Hundertfünftig Millionen macht die formalen Errungenschaften des Futurismus zum ersten Male der politischen Propaganda dienstbar. Die Redeweise der Strasse, phonetischer Krawall, ein phantasievolles Rowdytum feiern die neue Epoche der Massenherrschaft. Den Höhepunkt seiner Erfolge bezeichnet Mysterium Buff, eine Vorführung mit tausenden von Mitwirkenden, Sirenengeheul, Militärmusik. Lärmorchester unter freiem Himmel. Regisseur diesen Massenschauspiels war Meyerhold. Zweitens: Wssewolod Meyerhold, arbeitete ebenfalls unter dem Zarismus als Theater-direktor. Stellte als erster das Theater in den Dienst der Revolution. Durch einige kühne Neuerungen suchte er eine neue Ehrlichkeit, eine Absage an den Mystizismus der Rampe, einen breiten Kontakt mit der Masse zu finden. Er spielt ohne Vorhang, ohne Rampenbeleuchtung, mit verschiebbaren Dekorationen, die auf der offenen Bühne so gehandhabt werden, dass man Ausblick auf den Schnürboden hat. Er liebt einen Einschlag von Zirkus, Variété, Exzentrik in seinen Stücken. ‘D.E.’, Dramatisierung eines Romans von Ilja Ehrenburg ist in dieser Hinsicht seine charakterischerischste Leistung. Drittens: Demjan Bedny. Das ist der Autor der berühmte
Plakatgedichte, Aufrufe, Hassgesänge aus der Zeit des heroischen Komunismus, des Entscheidungskampfes zwisschen Weissen und Roten. Einige seiner berühmtesten Manifeste sind von Johannes R. Becher verdeutscht worden. Viertens gehören dem Proletkult u.a. die Imaginisten und Konstruktivisten an. Die einen pflegten, ähnlich wie jetzt die Surrealisten in Frankreich, eine Dichtung auf assoziativer Grundlage, d.h. sie geben eine zusammenhanglose Bilderfolge, wie sie etwa in Träumen sich findet. Wer von den Konstruktivisten sich eine Vorstellung machen will - einer Schule, die sich bemüht das blosse Wort als solches zur höchstgesteigerten Wirkung zu bringen - mag etwa an den deutschen Lyriker August Stramm denken.
Zusammengehalten wurde der Proletkult Kraft eines ersten revolutionären Elans. Im Laufe der Zeit aber brachten kritische Auseinandersetzungen die Gegensätze der vielen in ihm gruppierten Richtungen zu Tage. Und diesen Auseinandersetzungen fiel er schliesslich zum Opfer. Denn man erklärte: Was will der Proletkult? Will er eine Literatur von Proletariern oder eine Literatur für Proletarier. Zu Majakowski, zu den Konstruktiwisten, den Imaginisten sagte man: Ihr wollt die neue Dichtung für die Massen schaffen. Ihr wollt dem Leben der Maschine, dem Alltag der Fabrik, dem Gesichtskreis des Rotarmisten, sein Recht in der Dichtung erobern. Aber die verstehen Euch ja gar nicht. Wo ist der Proletarier, der Mann aus dem Volke, welcher in seinen Mussestunden nicht lieber zu Turgeniew, Tolstoi, Gorki griffe als zu Euch? - Oder wieder: Will man im Ernste eine Literatur von Proletariern, dann muss man erst einmal die Frage stellen: Kann heute in der Epoche des Bürgerkrieges, in den Zeiten des bittersten Existenzkampfs, das Proletariat Kräfte fürs Schrifttum, für die Dichtung frei machen? Noch nie sind die Epochen grosser politischer und gar sozialpolitischer Revolutionen Epochen eines blühenden Schrifttums gewesen. Der Mann, der diese Fragen und Behauptungen nachdrücklich, glänzend in die Diskussion warf, war Trotzki und sein Buch ‘Revolution und Literatur’, eine Kampfansage an den Proletkult in all seinen Richtungen war von 1923 bis 1924 parteioffiziell.
In jahrelangen Kämpfen trat dieser Doktrin eine Gruppe entgegen, die gleich sehr vom Proletkult, von den formalistischen Künsten der Majakowski und seiner Genossen wie von dem kulturellen Defaitismus Trotzkis abrückte. Es sind das die Napostowzen, der Kreis, welcher sich um die Zeitschrift ‘Na Postu’ (‘Auf dem Posten’) gruppiert. Im Ganzen
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deckt sich deren Programm mit dem oben genannten des Wapp. Sie sind die eigentliche Kerntruppe der Ultras und sie sagen: ‘Die Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit der Herrschaft einer nichtproletarischen Ideologie und somit auch einer nichtproletarischen Literatur. Das Gerede davon, dass in der Literatur eine friedliche Zusammenarbeit, ein friedlicher Wettbewerb verschiedener literarischer und ideologischer Richtungen möglich sei, ist nichts als eine reaktionäre Utopie....Der Bolschewismus stand von jeher und steht auch heute noch auf dem Standpunkt ideologischer Unversöhnlichkeit und Unduldsamkeit, auf dem Standpunkte unbedingter Klarheit der ideologischen Linien....Unter den heutigen Verhältnissen bildet die schöne Literatur die letzte Arena, in der der unversöhnliche Klassenkampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie um die Hegemonie über die Zwischenschichten ausgefochten wird. Deshalb genügt es nicht, wenn die Existenz einer proletarischen Literatur bloss zugegeben wird, sondern es muss das Prinzip der Hegemonie dieser Literatur anerkannt werden, das Prinzip des systematischen Kampfes dieser Literatur um den vollen Sieg, um das Verschlingen aller Arten und Nuancen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Literatur. Offiziell wurde dieser Streit zwischen den Ultras und der Partei im Jahre 1924 durch ein ziemlich nichtssagendes Kompromiss beendet, das unter Führung des vielseitigen und gewandten Volkskommissars für Aufklärungswesen Lunatscharski zu Stande kam. In Wahrheit aber dauert der Konflikt noch an. Soweit die Literaturpolitik. Bevor wir der Charakteristik der Hauptwerke uns zuwenden, seien einige Outsider erwähnt die - keiner der genannten Richtungen verbunden - in Europa einen mehr oder weniger grossen Namen haben. Bei weitem der bedeutendste unter ihnen ist der vor einigen Jahren verstorbene
Valerian Brjussow. (Deutsch erschien der Roman ‘Der feurige Engel’ Hyperion Verlag.) Am grössten ist Brjussow als Lyriker. Er ist der Schöpfer des russischen Symbolismus und wird in Russland mit George verglichen. Er ist der einzige unter den grossen Dichtern der alten Schule, der sofort sich auf den Boden der Revolution stellte, ohne deshalb mit proletarischer Dichtung hervorzutreten. Er war im höchsten Grade Aristokrat. Nach seinem Tode ehrte ihn Russland mit der Gründung des Instituts für Literaturwissenschaft ‘Imena Valerian Brjussow.’ In diesem Institut wird erlernt: Journalismus, Dramaturgie, lyrische Dichtung, Novellistik, Kritik, Polemik, Verlagswesen. Die Lehre von einem angeborenen dichterischen Genie, das allein zur bedeutenden literarischer Leistung befähigt, ist mit der Theorie des historischen Materalismus nicht zu vereinbaren. Ausser Brjussow sind zu nennen: Alexander Blok und Sergei Jessenin. Blok ist in Deutschland berühmt durch seine genialen aber höchst gewaltsamen Versuche die religiöse Mystik mit dem Fieberrausch der Umsturzjahre zu durchdringen und ist darin der zweifelhaften Mentalität der deutschen Intelligenz im Jahre 1918/19 verwandt. Daher stammt der Ruhm, den ihm auch schlechte deutsche Uebersetzer nicht haben nehmen können. Sergei Jessins Figur beschäftigt, zumal nach seinem freiwilligen Tod, die öffentliche Meinung Russlands bis heute. Er ist ein Bauerndichter, versuchte mit der Revolution sich auseinander zu setzen, geriet aber dabei in die Abgründe eines weltschmerzlichen Nihilismus und wurde endlich zum Abgott der romantischen Konterrevolution. Über ihn äussert sich in der ‘Prawda’ Bucharin wie folgt: ‘Ein bäuerlicher Dichter unserer Übergangsepoche, der tragisch untergeht, weil er sich nicht anpassen konnte. Nicht ganz so, liebe Freunde! Es gibt Bauern und
Bauern! Die Jesseninsche Dichtung ist ihrem Wesen nach jener armselige Muschik, der zur Hälfte sich schon in einen feschen Kaufmann verwandelt hat: In Lackstiefelchen, in gesticktem Hemd mit seidenen Schnürchen, fiel dieser fesche Kaufmann heut vor der Kaiserin nieder, um ihren Fuss zu küssen, beleckt er morgen mit den Lippen ein Heiligenbild, beschmiert er übermorgen in trunkenem Mut dem Kellner mit Senf die Nase, um dann sich in der Seele zu zerknirschen, er weint, will gerne einen Hund umarmen oder auch eine Geldsumme ins Kloster stiften zum Gedächtnis seiner Seele. Er ist sogar im Stande, sich auf dem Dachboden aufzuhängen vor lauter innerer seelischer Leere. Das liebe, bekannte echt russische Bild.’ - Weiter zu
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nennen wären unter den heute schreibenden Emigranten: Schmeljow, Bunin, Seitzew. (Von Schmeljow erschien das Hauptwerk: ‘Die Sonne der Toten’ und neuerdings der angenehme psychologische Roman ‘Der Kellner’ in hervorragender Übersetzung von Käte Rosenberg bei Fischer. Eben dort erschien von Bunin ‘Der Herr aus St. Franzisko’ und ‘Midjas Liebe’. Bunins bedeutendstes Werk, ‘Das Dorf’ ist nicht übersetzt.)
Kein Europäer kann ermessen in welchem Grade das ganze ungeheure Russland, ein Volk von 150 Millionen Menschen, durch die Wechselfälle der letzten zehn Jahre von Stoffen erfüllt ist, und von welchen Stoffen: Schicksalen jedes kleinsten Einzellebens und aller Kollektiva von der Familie bis zum Heer und zum Volk. Die gegenwärtige russische Literatur erfüllt, man darf sagen die physiologische Aufgabe, den Volkskörper von dieser Ueberlast von Stoffen, von Erlebnissen, von Fügungen zu erlösen. Russlands Schriftstellerei im jetzigen Augenblick ist, von hier aus gesehen, ein ungeheurer Ausscheidungsprozess. Die Kanonisierung der Tendenz hat nicht nur politische, sie hat auch diese hygienische, diese heilende Bedeutung, dass Menschen, die von eigenem Leid gesättigt sind wie ein voller Schwamm miteinander nur kommunizieren können in der Fluchtlinie einer Tendenz, in der Perspektive des Kommunismus. Daneben hat das Leben eine Fülle von neuen Typen, neuen Situationen geschaffen, die vor allem einmal registriert, beschrieben, bewertet sein wollen. Da ist eine ungeheuere Memoirenliteratur, weiss Gott nicht mit der Schriftstellerei unserer Politiker und Heerführer zu vergleichen. Da gibt es eine Zeitschrift der Katorga, in der die sibirischen Verbannten, die Opfer der Vorrevolution, ihre Aufzeichnungen veröffentlichen, Denkwürdigkeiten wie Vera Figners ‘Nacht über Russland’ (Malik - Verlag) kurz ein Schrifttum, dem sich die neuen Dichter, wollen sie überhaupt gelesen sein, in der dynamischen Kraft ihrer Darstellung gewachsen zeigen mùssen. Es gibt solche Dichter und solche Darsteller. Einen grossen Stoffkreis umschreibt die Tscheka, die revolutionäre Geheimpolizei. Wir nennen vor allem Tarassow Rodionow: ‘Schokolade’ (Verlag Die Aktion), Novellen von Slonimski. Grigoriew u.a. (Mehrere davon in der instruktiven Anthologie
‘Zwischen gestern und morgen’ Taurus Verlag Berlin.) Da gibt es den Bessprisorni, das verwahrloste Kind, Zwei Millionen solcher heimatlosen Kinder haben während des Bürgerkrieges Russland auf Wanderungen überzogen. Die Dichterin Lydia Seifulina hat ihr besonderes Studium aus diesen Kindern gemacht. (‘Der Ausreisser’ Malik-Verlag.) Dann die Schicksale des Kollektivs. Hier wäre, selbst wenn man auf Übersetztes sich beschränkt, eine grosse Literatur anzuführen. Das Wichtigste: Jurij Libedinski: ‘Eine Woche’, Iwanoff ‘Farbige Winde’, ‘Panzerzug 1469’, Dybenko ‘Die Rebellen’, (sämtlich Verlag für Literatur und Politik). In diesem Jahre wird auch deutsch das berühmteste dieser Bücher erscheinen: Fedin: ‘Die Städte und die Jahre’ (Malik Verlag), von besonderem Interesse, da der Held ein Deutscher. In die gleiche Reihe gehören die grossen russischen Journalisten: die unvergleichliche Larissa Reissner. Ihr Buch ‘Oktober’ (Neuer deutscher Verlag) enthält im Kapitel ‘Die Front’ die klassische Darstellung des Bürgerkrieges. Von dem bedeutenden Publizisten Sossnowski liegt deutsch vor ‘Taten und Menschen’. Die neueste Erscheinung, zugleich der wichtigsten eine, ist Fjodor Gladkows ‘Zement’. Das Buch (Verlag für Literatur und Politik) ist der erste Versuch, das Russland der Aufbauperiode im Roman darzustellen, überreich an Typen von völliger Lebenswahrheit und schwer erreichbar in der Darstellung der Atmosphäre, die die Parteiversammlungen auf dem Lande erfüllt. Nur eines darf man in diesem Buche sowenig wie in den meisten übrigen suchen: Komposition in strengen Sinn der Romanen. Das jetzige Schrifttum Russlands ist Vorläufer einer neuen Geschichtsschreibung weit eher als
einer neuen Belletistrik. Vor allem aber ist es ein moralisches Faktum und einer der Zugänge zum moralischen Phänomen der russischen Revolution überhaupt.
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