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[Nummer 11]
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Nationale Bildung.
Die Ansprache, mit der Richard Lieske die Neugestaltung des Wartburgbundes begrüsste, ist von dauerndem Wert, besonders auch für die Leser der Germania.
Ist der Wartburgbund als eine nationale Vereinigung dem Wortlaut nach auch dasselbe geblieben, so hat doch des Wortes Sinn und Bedeutung eine wesentliche Veränderung erfahren. Wie die deutsche Volkswirtschaft auf dem Grunde der erkämpften politischen Einheit aus dem alten engen Rahmen herausgewachsen und von einer Nationalwirtschaft zu einer Weltwirtschaft entwickelt ist, so hat auch der nationale Gedanke die engen deutsch-partikularistischen Fesseln mehr und mehr abgestreift und im Hinblick auf den grossen germanischen Volksstamm und dessen Vorzüge und Eigenarten sich zu einer vertieften germanischen Welt- und Lebensanschauung durchgerungen. Nicht mehr bleibt der Blick auf die politischen Grenzen des Landes und auf die bestehende Verfassung unseres Reiches gebannt. Er schweift über diese Grenzen hinaus und gewahrt, wie von der alten zur neuen Welt und vom Abendlande zum Morgenlande der Völkerverkehr sich die Hände reicht. Entfernte Nationen rücken sich näher. Sie lernen sich kennen und schätzen und die Vorzüge und Eigenarten, durch die eine jede sich auszeichnet, gegen einander abwägen. Die Beobachtung führt zur Forschung, die nicht nur nach dem Aussehen und der Farbe, sondern auch nach der Heimat, der Herkunft und der Rassenverwandtschaft der verschiedenen Völker fragt. Mehr Teilnahme als die gegebenen politischen Grenzen in ihrem Wechsel erregen die grossen
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Völkergruppen mit ihren dauernden Charakterzügen und Eigenarten und mit ihrem Einfluss auf den geistigen und kulturellen Fortschritt der Menschheit. Wir betrachten das Leben der schwarzen, gelben und weissen Rasse und ersehen aus der vergleichenden Geschichte, welche Bedeutung der arische und im besonderen der germanische Volksstamm für das allmähliche Emporsteigen menschlicher Kulter erlangt hat. Nicht mehr fühlen wir uns als Untertanen eines Staates, sondern als Glieder der grossen germanischen Völkerfamilie, welche die geistige Führung auf unserem Erdball übernommen hat und noch mehr übernehmen soll.
Indem wir nun unter dem nationalen Gesichtspunkt die dauernden Geistes- und Charakterzüge unseres Volkes betrachten und uns in die Tiefe deutschen Wesens versenken, erscheint vor unserem Blicke trotz der Hülle einer fremden Überlieferung das Germanentum wieder in seiner tatenfrohen Jugendkraft. Die dunklen Nebel, die so lange den heitern Frohsinn deutschen Lebens verfinstert haben, zerfliessen. Der daseinsmüde Glaube an die fremde Welt der Geister schwindet, aber der lebensfrohe Glaube an die Menschheit kehrt zurück. Durch das Licht des Genius erhellt, betrachtet der Mensch ohne Scheu das kreisende All und das ruhige Walten der Naturkräfte und strebt durch ihre Leitung zum Gebieter der Schöpfung empor. Indem der Durchbruch einer vertrauensvollen germanischen Lebensanschauung sich mit unwiderstehlicher Gewalt vollzieht, steigen aus der Tiefe der deutschen Brust auch die nationalen Empfindungen mit empor, die unserem Leben den Adel und unserem Geiste eine neue Spannkraft verleihen.
Wo sollte dieser wahrhaft deutsche Glaube, der, aus der nationalen Gesinnung geboren, anknüpfend an deutsches Freiheitsgefühl und Heldentum unserem Volke eine neue grosse Zukunft erscheinen lässt, leichter Eingang finden als in die Herzen der deutschen Jugend? Wo unter der Asche fremder Überlieferung der nationalen Begeisterung Flamme glüht, wo im dumpfen Frohndienst der Schule der Geist nach frischem Wasser sucht und in- | |
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mitten des geschäftlichen Lebens eine fieberhafte Unruhe den tatenfrohen Idealismus und den Drang nach Wahrheit nicht schlummern lässt, da muss der deutsche Glaube Wurzel schlagen, grünen und blühen und zum Kampfe für einen neuen Volkstrühling schreiten. Von hier aus muss das wiedererwachende nationale Leben alles durchdringen und schliesslich dem Fühlen und Streben des Volkes die Richtung weisen.
Nicht minder gewaltig als deutsches Heldentum ist die Macht des deutschen Geistes, der zum Führer und Lenker unseres Volkes berufen ist. Nur wenn germanisches Heldentum sich mit den scharfen Waffen deutschen Geistes rüstet, wird es im Kampfe der Zukunft unwiderstehlich sein. Gar stark ist der Feind, gegen den die nationale Streitmacht unter die Waffen zu treten hat, weil mit der Erhaltung und Fortpflanzung des Alten die allerverschiedensten Sonderabsichten verknüpft sind. Auf vielen Gebieten werden wir den Kampf mit der Überlieferung aufnehmen müssen, die denen heilig ist, deren Ansehen und Beruf mit ihr zusammenbricht.
Bevor wir nun in die weiten Gefilde des Wissens hineintreten und einen Blick auf das Ganze werfen, wollen wir einen Kompass suchen, der uns auf dem Meere des scheinbar Unendlichen die Richtung weist. Ist auch der Hintergrund unseres Strebens durch den Hinweis auf deutsches Volk und Volkstum bereits gekennzeichnet, so ist doch der Bildungsplan, nach dem wir arbeiten, und der kritische Masstab, mit dem wir die Sichtung des umfangreichen auf uns eindringenden Wissens vornehmen wollen, noch nicht gefunden.
Bevor wir uns nun darüber verständigen, unter welchem Gesichtspunkt wir unsern Bildungsplan ausarbeiten wollen, soll zu Ihnen der Dichter Schiller reden, wie er in seiner akademischen Antrittsrede über das Thema: ‘Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte’ gesprochen hat.
‘Anders ist der Studierplan, den sich der Brotgelehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorzeichnet. Jener,
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dem es bei seinem Fleisch einzig und allein darum zu tun ist, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden kann, der nur darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt, um seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen, ein solcher wird beim Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brotstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern. Alle Zeit, die er diesen letzteren widmete, würde er seinem künftigem Berufe zu entziehen glauben und sich diesen Raub nie vergeben. Seinen ganzen Fleiss wird er nach den Forderungen einrichten, die von dem künftigen Herrn seines Schicksals an ihn gestellt werden, und alles getan zu haben glauben, wenn er sich fähig gemacht hat, diese Instanz nicht zu fürchten. Hat er seinen Kursus durchlaufen und das Ziel seiner Wünsche erreicht, dann entlässt er seine Führerinnen; denn wozu noch weiter sie bemühen? Seine grösste Angelegenheit ist jetzt, die zusammengehäuften Gedächtnisschätze zur Schau zu tragen und ja zu verhüten, dass sie in ihrem Werte nicht sinken. Jede Erweiterung seiner Brotwissenschaft beunruhigt ihn, weil sie ihm neue Arbeit zusendet und die vergangene unnütz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über die Reformatoren mehr geschrieen, als der Haufe der Brodgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutionen im Reich des Wissens mehr auf als diese? Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sei,
angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar! Sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten.’ -
Erweitern wir den letzten Satz und dehnen ihn auf die verschiedensten Stände und Berufe, politischen und Religionsparteien
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aus, so haben wir den Hauptschlüssel zu aller Reaktion. Gar häufig wird man sagen können, dass jene bei dem Schulwesen, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes (wirtschaftliches und geistiges) Dasein fechten.
Ich glaube, Sie werden nicht zweifeln, auf welche Seite Sie treten sollen, auf die Seite des Brotgelehrten, den neue Wahrheiten beunruhigen, oder auf die Seite des Philosophen, den diese Wahrheiten entzücken und zu neuem Schaffen anspornen. Wollen Sie auf Seite der Brotgelehrsamkeit treten, dann hat unser Bund seinen Zweck verfehlt. Sie können hier nicht Kenntnisse sammeln, mit denen sich die Vorbedingungen zu einem bestimmten Amt oder Beruf erfüllen lassen. Wollen Sie dies erreichen, dann müssen Sie auf Fachschulen, Gymnasien oder Universitäten gehen. Für uns hier handelt es sich um keine zersplitterte Fachbildung, sondern um eine allgemeine Bildung, über deren Nützlichkeit und Zweckmässigkeit die Bedürfnisse des praktischen Lebens, in dem wir wohl schon alle stehen, zu entscheiden haben. Wie uns auf nationalem Gebiet allzeit das Ganze vor Augen schwebt, so müssen wir auch auf geistigem Gebiet danach streben, die verschiedenen Zweige des Wissens zu einem einheitlichen Ganzen zu ordnen. Wollen Sie jedoch auf Seite des Philosophen treten, der begierig ist, von neuen Entdeckungeu und Erfindungen zu hören und neue Gedanken in sich aufzunehmen, denn schliessen Sie sich fester zusammen und bilden Sie eine Pflanzstätte neuzeitlicher Bildung, in der die Wahrheit der höchste Richter ist. Wenn Sie dann von all dem Kleinkram des täglichen Lebens in den Kreis Ihrer Freunde treten, die dem gleichen Hochziel nach-streben, dann werden Sie dort etwas finden, was Ihnen Schule, Amt und Beruf nicht bieten kann. Und wenn Sie dann bei Ihrem ernsten Streben nach Wahrheit allzeit sich selbst und dem deutschen Volke getreu bleiben, dann sind Sie, des seien Sie gewiss, der arbeitsfreudige und begeisterungsfähige Teil der deutschen Jugend, auf der des Vaterlandes grosse Zukunft ruht.
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Jedes Wissen hat ganz bestimmte Zwecke. Es erhöht das Selbstgefühl, veredelt den Lebensgenuss, steigert die Macht des Menschen über die Natur und befähigt ihn, ein taugliches Glied in der Gesellschaft, im Staate und im Gemeinwesen zu werden. Es hat aber auch unmittelbar praktische Zwecke, die auf Hebung des leiblichen Wohles und auf die Verbesserung der Gesundheit des Menschen gerichtet sind. Unser Wirkungsfeld ist in erster Reihe die Heimat, und die Zeit, in der wir wirken, ist die Gegenwart. Darum müssen Vaterland und Gegenwart auch den Mittelpunkt unseres Bildungsstrebens bilden, von dem aus wir alles Übrige, Vergangenheit und Fremde, betrachten. Wir sind Bürger unseres Staates und seiner Gemeinden; darum müssen wir unsere Verfassung und unser Volk kennen lernen. Nur an das Gegebene können wir anknüpfen, wenn wir weiter bauen wollen; darum müssen wir wissen, was vorhanden ist, um Boden unter den Füssen zu gewinnen.
Diese Grundsätze werden verständlicher werden, wenn ich aus denselben sofort, ohne mich bei Allgemeinheiten aufzuhalten, die entsprechenden Folgerungen ziehe und einzelne Bildungsfächer unter obigen Gesichtspunkten betrachte.
Das Hauptmittel, durch das die Menschen ihren Gedanken und Empfindungen einen Ausdruck geben und sich mit einander verständigen, ist die Muttersprache. Ihre Pflege in den Schulen soll in erster Reihe die Ermöglichung eines leichteren, deutlicheren und erweiterten Verständnisses im Auge behalten und die Vorbedingungen erfüllen, die zu einer grösseren Beherrschung der Sprachmittel und zu einer grösseren Gewandtheit in der Auffassung und Wiedergabe der Gedanken befähigen. Die erste Vorbedingung für den klaren sprachlichen Ausdruck ist der klare Gedanke. Wer seine Vorstellungen im Geiste klar erfasst und ausserdem in der Ordnung und logischen Verknüpfung seiner Gedanken hinreichende Übung besitzt, wird auch in der Lage sein, ihnen einen klaren und verständlichen Ausdruck zu geben. Die Entwicklung der Sprache steht bei den verschiedenen Völkern
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in geradem Verhältnis zu dem Entwicklungszustande ihrer Gesittung. Wo die geistige Entwicklung fortschreitet, da wird auch die Sprache mehr und mehr vervollkommet. Wo aber unentwickelte Völker eine fremde Sprache annehmen, die reich an bündigen Ausdrücken und schönen Formen ist, gleich geeignet für die Erhabenheit und Anmut der Dichtung wie für die strengen Begriffe der Wissenschaft, da besitzen diese Völker ein Werkzeug, für das sie bei ihren schwachen Kräften keine Verwendung haben.
Die hohe Bedeutung der sprachlichen Vollendung und sprachlichen Gewandtheit nicht nur für Literatur und Wissenschaft, sondern auch für den Menschenverkehr im allgemeinen springt jedem in die Augen. Man kann ohne Übertreibung sagen: In 99 von 100 Fällen, in denen die Wahrhaftigkeit, d.h. der Wille wahr zu sein, auf beiden Seiten vorhanden ist, beruhen Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten auf dem Mangel an gegenseitiger Verständigung, d.h. auf dem Mangel an Fassungsvermögen bei dem einen, um den andern leicht zu verstehen, oder auf dem Mangel an Sprachgewandtheit bei dem andern, seinen Gedanken einen klaren und verständlichen Ausdruck zu geben.
Da nun das klare Reden das klare Denken voraussetzt, so wird man die eigene Sprachgewandtheit vor allem dadurch steigern, dass man wohldurchdachte Schriften liest, deren klarer Inhalt schon an dem klaren Stil zu erkennen ist.
Es ist von geringer Bedeutung, welchen Wissensgebieten man den Vorzug gibt. Für die Übung im sprachlichen Ausdruck kommt es weniger auf den Stoff als auf die Bearbeitung des Stoffes, die strenge Fassung der Begriffe und ihre logische Verknüpfung an, die man sich unbewusst zu eigen macht.
Werfen wir nun einen kritischen Blick auf den Schulunterricht und auf die Mittel, die zur scheinbaren Förderung der Sprachgewandtheit herbeigeholt und gepflegt werden. Welch ein umfangreicher Ballast wird herbeigeschleppt, um die eigene Sprache verständlich zu machen. Man unterscheidet Worte, aber nicht
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Begriffe, lernt Grammatik, aber nicht Logik, beherrscht lückenlose Systeme, aber nicht den inneren Zusammenhang des Sprachgefüges. Man teilt die Dingwörter in Sinnen-Dingwörter und Gedanken-Dingwörter, unterscheidet Eigennamen, Gattungsnamen, Stoffnamen, Sammelnamen, Subjektiv-, Prädikativ-, Objektiv- und Attributivsätze; Adverbialsätze des Ortes, der Zeit, der Weise, des Grundes, der Bedingung, der Einräumung, des Zweckes und des Stoffes, und was noch schlimmer ist, man lernt fremde Sprachen, ohne die eigene zu beherrschen. Man lernt, welche Präpositionen den Genetiv, Dativ, Akkusativ und Ablativ, welche Adverbia den Indikativ, Konjunktiv und Infinitiv regieren. Man lernt Vokabeln und Genusregeln von Septima bis Prima, alles zur Erkenntnis der eigenen Sprache, und fragt man schliesslich den Schüler nach der Summe seiner Weisheit, dann kann man sagen wie Goethes Mephistopheles: Die Teile hat er in seiner Hand, fehlt leider nur das geistige Band.
Will man nun einwenden: dies alles sei notwendig zur Erlernung der fremden Sprachen; dann frage ich, welchen Zweck hat die Erlernung einer fremden Sprache? - Eins, glaube ich, Jeuchtet jedem ein. Je mehr wir heraustreten aus der Volkswirtschaft und hinübertreten in die Weltwirtschaft und den Weltverkehr, je mehr die grossen Kulturvölker mit einander in Berührung kommen, um so grösser wird das Bedürfnis, sich durch Aneignung der Hauptkultursprachen mit einander zu verständigen. Hierzu kommt das Studium der fremden Literatur in ihrer besonderen Eigenart. Die dichterische Formgewandtheit der Poesie und die kritische Schärfe wissenschaftlicher Werke wird man nur in der Muttersprache verstehen können, weil der Übersetzer nur höchst selten dem Urheber gewachsen ist. Geringere Bedeutung hat schon die Kenntnis des Urtextes in der erzählenden beschreibenden Literatur, wo es lediglich auf den Gesamtinhalt ankommt.
Wesentlich anders verhält es sich mit den toten Sprachen. Da, wie wir früher gesehen, die Entwicklung der Sprache mit der
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geistigen Entwicklung des betreffenden Volkes auf gleicher Höhe steht, so haben wir zur Entscheidung über die Notwendigkeit des griechischen und lateinischen Sprachunterrichts zunächst die Frage zu beantworten: Sind die europäischen Völker, sind im besonderen die germanischen Völker in ihrer geistigen Entwicklung wirklich noch so weit zurück, dass sie die alten Griechen und Römer auch heute noch als ihre Schulmeister betrachten können, oder ist es nach Einverleibung ihres literarischen Bildungsgehalts endlich Zeit, neue Bahnen zu betreten? Ich meine, die Röte der Scham müsste uns in die Wange treten, wenn wir das letztere verneinen wollten.
Man spricht in unserer Zeit so oft von humanistischer Bildung und denkt vielleicht an die Gefühle edlerer Menschlichkeit, und doch zeigen Vergleiche, dass wir diese Gefühle nicht in der Literatur der Griechen und Römer, sondern in der unserer eigenen germanischen Heimat zu suchen haben. Die Gemütstiefe germanischer Völker, das grössere Mass von Freiheit und Selbstbewusstsein, ja überhaupt ein Gefühl für die edleren Beziehungen des Menschen zum Menschen muss man eben nicht in der Literatur von Völkern suchen, die all das selber nicht besassen. Ich kann hier wegen der Kürze Zeit und des umfangreichen Stoffes nicht ins einzelne gehen. Aber doch möchte ich noch fragen, von welchem Belang ist das Lesen von Schriftstellern wie Livius, Cäsar, Sallust und Cicero, Nepos, Tacitus, Ovid, Vergil, Xenophon, Herodot, Demosthenes und Plato, Sophokles und Homer, wenn Geschichte und Geist jener Zeiten uns fremd geworden? Und können wir, frage ich ihre Geschichte und die Wege, welche zu ihrer Grösse und ihrem Verfall geführt haben, nicht im Zusammenhang bei jedem deutschen Geschichtsschreiber besser verfolgen, als wenn wir die schönsten Jugendjahre damit zubringen, die Werke ihrer Schriftsteller in ein schlechtes Deutsch zu übertragen, ohne oft auch nur den Inhalt zu erfassen? Sollten wir heute, wo der Weltverkehr den ganzen Erdball umspannt, in der Jugend unsern Gesichtskreis auf den mittelländischen orbis ter- | |
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rarum der Römer beschränken? Die gedankenlose Hingabe an die Überlieferung führt so weit, dass wir das Weltall betrachten, mehr wie es sich die alten Griechen und Römer in ihrem Wunderund Märchenglauben gedacht haben, nicht aber wie es wirklich ist und nach den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen, geologischen wie astronomischen Forschung sich darstellt. Fragt unsere Gymnasiasten
nach der Verfassung des Lykurg und Solon, und sie werden antworten, fragt sie nach der Verfassung und den verschiedenen Verwaltungen des deutschen Reiches, dessen Mitglieder sie sind, in dem sie leben und wirken sollen, und sie werden verlegen schweigen.
Es liegt mir gewiss fern, die Bedeutung der Griechen und Römer für die Geistesgeschichte der Menschheit irgendwie herabzusetzen. Sie haben sich frühzeitig auf eine hohe Stufe der Kultur empor geschwungen, als unsere Väter noch jedes staatlichen Verbandes ermangelten. Auch hat das Studium der klassischen Literatur und der römischen Rechtsquellen im Mittelalter einen durchaus fördernden Einfluss auf die geistige Entwicklung unseres Volkes ausgeübt, indem es den Bann, den die Alleinherrschaft der römisch-katholischen Kirche ausübte, gebrochen und einer natürlichen und gesunden Denkweise wieder neue Anregung gegeben hat. Aber jetzt muss es des Guten auch genug sein. Wir können nicht ewig die Schüler der alten Griechen und Römer bleiben, sondern müssen den Forderungen und dem Kulturzustande unserer Zeit Rechnung tragen.
Würde in unsern Schulen weniger eine oberflächliche dynastische und militärische Geschichte und mehr Geistes- und Kulturgeschichte getrieben, dann würde auch die Kluft sichtbar werden, die im Grunde doch zwischen dem altklassischen Zeitalter und der Neuzeit gähnt. Die Forschungen eines Galilei, Kepler und Kopernikus, die technische Kraftentfaltung von Dampf und Eisen und der ungeheure Weltverkehr, der alle Völker des Erdballs mit ihren verschiedenen staatlichen, religiösen und sittlichen Anschauungen zusammenführt, haben eine geistige Umwälzung her- | |
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vorgerufen, die ein Hineinpressen des modernen Geistes in den beengten, antiken Vorstellungsbereich auf die Dauer unmöglich macht. Diese Ergebnisse kühnen Forschergeistes und hohen Tatendranges müssen notwendigerweise die ganze Geschichtsschreibung umgestalten, indem sie dieselbe nötigen, die Vergangenheit von der Kulturhöhe der Gegenwart, nicht aber die Gegenwart von dem beengten Standpunkte der Vergangengeit aus zu betrachten. Was in der Gegenwart im Vordergrunde der Beachtung steht, das ist auch in der Vergangenheit wissenswert. Die politischen Eroberungszüge Alexanders von Macedonien und die religiösen Befreiungskriege kreuzfahrender Romantiker haben ihren Heiligenschein verloren. Grössere Teilnahme erweckt das Bestreben der jetzigen europäischen Kulturwelt, ihren Fuss nach Asien hinüberzusetzen und in die Gebiete des Euphrat und Tigris, Indus und Ganges vorzudringen. Kennen doch Welthandel und Weltverkehr auf unserem Planeten keine Grenze mehr. Sie dringen in die Urwälder Amerikas, durch die Wüsten Afrikas und bahnen sich in Asien eiserne Wege bis zu den alten Reichen der Assyrier und Babylonier, Meder und Perser. Ein reger Austausch erfolgt zwischen den Ländern der gemässigten Zone mit ihren Kunsterzeugnissen und zwischen den
Tropenländern mit ihren Rohstoffen. Demzufolge müssen auch die grossen Land- und Wasserstrassen des Weltverkehrs, die Reichtümer, welche Mutter Erde spendet oder noch in ihrem Schosse birgt, den Hauptgegenstand beim Studium der Erdkunde bilden. Was bedeutet dem gegenüber die alte Geographie von Griechenland, was bedeutet die Kenntnis aller möglichen kleinen Flüsse, Meerbusen, Küsten, Kaps und Berge nach Länge, Höhe und Tiefe, wenn sie abseits liegen von dem grossen lebendigen Strome des Weltverkehrs?
Wir kehren von unserer weltgeschichtlichen und geographischen Wanderung zurück zu unserer Heimat in der Mitte Europas und betrachten das wirtschaftliche Leben und Schaffen unseres eigenen Volkes. Auch hier hat sich eine grosse Wandlung vollzogen,
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seitdem Friedrich List durch Hinwegräumung der Sperren und Mauten im Zollvereine die wirtschaftliche Grundlage für die deutsche Einheit geschaffen und seitdem in den Feldzügen von 1866 und 70 die deutsche Kleinstaaterei zertrümmert und eine grössere politische Einheit zusammengehämmert wurde. Dampf und Eisen haben auch auf dem Gebiet unseres innerpolitischen Wirtschaftslebens eine Umwälzung herbeigeführt, die man mit dem Masstabe eines ehrbaren Handwerksmeisters aus dem Mittelalter nicht mehr messen kann. Die Vereinigung grosser Kapitalien in der juristischen Form von Erwerbs-Gesellschaften hat Unternehmungen ermöglicht, deren Ausführung dem Einzelnen unmöglich gewesen wäre. Man wird der ganzen wirtschaftlichen Entwicklung unserer Zeit nur gerecht werden, wenn man ihr mit Unparteilichkeit gegenübertritt, und das, was berechtigt und notwendig ist, von dem unterscheidet, was die Selbstsucht zur Triebfeder und die Vergewaltigung des Nebenmenschen zur Voraussetzung hat. Die rücksichtslosen Interessenkämpfe der Gegenwart, die mein und dein nicht mehr unterscheiden wollen, führen zu keinem guten Ende, wenigstens niemals zum sozialen Frieden. Die Besitzenden wollen die Arbeitnehmer vergewaltigen, indem sie sie der politischen Rechte entkleiden, die Besitzlosen wollen die Arbeitgeber vergewaltigen, indem sie die Enteignung der Enteigner oder den Raub des Eigentums zum Grundsatz erheben. Der Gegensatz zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Grosskapital und Kleingewerbe, Industrie und Landwirtschaft lässt sich in Einklang bringen, wenn nur auf beiden Seiten Einsicht und guter Wille und ein Gefühl für Gerechtigkeit vorhanden ist. Die soziale Hebung der industriellen Bevölkerung steigert die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen, der Wohlstand der Landwirtschaft steigert die Nachfrage nach Fabrikwaren.
Die zweckmässige Verwendung von technischen Erfindungen ist ein Gebot des kulturellen Fortschritts, und die Steigerung der Ertragsfähigkeit des heimischen Grund und Bodens eine Vergrösserung der volkswirtschaftlichen Selbständigkeit und Unab- | |
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hängigkeit vom Auslande. Wo aber die Gegensätze sich nicht heben lassen, da dürfen nicht die augenblicklichen Machtverhältnisse der Parteien, sondern müssen die Grundsätze nationalökonomischer Wissenschaft, die den Wohlstand des ganzen Volkes im Auge hat, den Ausschlag geben.
Von welchem Standpunkte man indessen auch immer die heutige Volkswirtschaft betrachten möge, eins geht aus allem hervor, nämlich dass die Naturwissenschaften sich ein grosses Verdienst um ihren Fortschritt erworben haben. Haben sie auch nicht alles vermocht, so haben sie doch vieles erreicht. Durch die Hebung jener unterirdischen Stoffmassen, durch die Verbrennung der Kohle, Erhitzung des Wassers und Spannung des Dampfes wird jene gewaltige Kraft erzeugt, die das ganze volkswirtschaftliche Getriebe unserer Zeit in Bewegung setzt. Die Dampfmaschine hebt Wasser, Kohlen und Erze aus der Tiefe der Erde, sie hämmert und schneidet, treibt das Stahlross auf eisernen Bahnen durch die Lande und den Schiffskoloss durch die Fluten des Weltmeeres. Die Naturwissenschaften rüsten die Industrie mit neuen technischen Hilfsmitteln aus und steigern dem Landmann die Ertragsfähigkeit des müden Bodens durch Zuführung neuer pflanzennährender Bestandteile. Sie erzählen die Geschichte der Erde von den Zeiten der feurigflüssigen Masse bis zu den Zeiten der Flut, da auch unsere ganze norddeutsche Tiefebene noch unter Wasser stand. Sie lehren, wie der üppigste Pflanzenreichtum und die dichtesten Waldungen durch die Wogen versenkt, mit Erde überschwemmt und durch die Zahl der Jahre in Kohlenflötze verwandelt wurden, aus denen heute noch einzelne Baumstämme als stumme Zeugen einst untergegangener Pflanzenherrlichkeit hervorragen. Sie zeigen, wie Berge geborsten und durch die Spalten und Gänge mit der Lavaflut goldreiche Adern hervorgequollen sind. Ja sie verwandeln das Sternenzelt des Himmels in zahllose neue Welten, zu deren unermesslichen Weiten sich unser Planet verhält wie ein Wassertropfen zum Weltmeer.
Vermöge der in ihm thronenden Geistesmacht ist der Mensch
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aus dem Sklaven der Natur ihr Gebieter geworden, der ihre geheimnisvollen Kräfte beherrscht und ohne Furcht ihr stilles Walten beobachtet. Nicht mehr scheut er des Zornes Gewalt in den donnernden Wolken, an den Fäden lenkt er die Kraft, ein Druck seiner Hand erzeugt Donner und Blitze. Und wie er sieht, ‘wie eines in dem andern wirkt und lebt’, und ‘wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen und sich die goldenen Eimer reichen’, kommt er auch zu der Erkenntnis jenes anderen Dichters, der da spricht:
‘Die Mutter der Natur, die Erd' ist auch ihr Grab,
Und ihre Gruft der Schoss, der ihr das Leben gab.’
Und wie in der Natur die Kräfte selbsttätig sich regen und wirken, so drängen auch in der Menschenwelt die geistigen Kräfte nach Entwicklung und Betätigung. Der Mensch will wirken und schaffen, um im Schaffen höheres Leben zu finden. Hierin liegt der Zweck seines Daseins und sein dauerndes Lebensglück. Um die verschiedensten Kräfte in schönster Zusammenwirkung zu vereinigen, schliesst er sich einer grossen Gemeinschaft, dem Staate, an. Der Staat ist nicht Selbstzweck, sondern wie schon Schiller sagt, nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein anderer als Ausbildung aller Kräfte, d.h. Fortschritt. Hindert eine Staatsverfassung, dass alle Kräfte, die im Menschen liegen, sich entwickeln; hindert sie den Fortschritt des Geistes, so ist sie verwerflich und schädlich, sie mag im übrigen auch noch so durchdacht und in ihrer Art noch so vollkommen sein. Die Art der Staatsverfassung ist für den Fortschritt nicht das in erster Reihe Ausschlaggebende. Es hat aufgeklärte Despotieen gegeben, unter denen Künste und Wissenschaften sich frei bewegen konnten. Es hat Demokratieen gegeben, die dem Weisesten ihrer Söhne den Giftbecher reichten. Das Mass der Anteilnahme des Volkes an der Staatsverwaltung muss sich nach der Einsicht und dem politischen Bildungsgrade der Bürger richten. Bei der Staatsverfassung ist ferner zu berücksichtigen, dass die zentrifugalen
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und zentripetalen oder die einigenden und auseinanderstrebenden Kräfte bei den verschiedenen Völkern verschieden sind und dass bei dem einen das nationale Gemeinschaftsgefühl die Einheit sichert, die bei dem andern nur durch eine starke Einheitsgewalt zu sichern ist. Uns muss vor allem der wahre Zweck des Staates, der in der Förderung des geistigen und wirtschaftlichen Fortschritts liegt, vor Augen schweben, wenn wir an die Betrachtung seiner Verfassung und seiner Gesetze herantreten. Letzteres ist notwendig, damit wir die Formen kennen lernen, in denen und unter denen wir wirken und schaffen sollen und später anknüpfen können an das, was gegeben ist. Die Grundvoraussetzung jeder Reform ist eine gründliche Kenntnis dessen, was zu verbessern ist. Ohne Kenntnis der Verfassung und innern Einrichtung des bestehenden Staates kann man keinen Zukunftsstaat gründen, ohne Kenntnis der geltenden Gesetze diese nicht verbessern und ohne Kenntnis der grundlegenden Rechtsbegriffe einerseits und der wirklichen Lebensverhältnisse andererseits nicht den Gesetzgeber spielen. Darum ist aber auch notwendig, bevor man in das Land hinauszieht, um das Volk zu beglücken, sich selber mit gediegenen Kenntnissen auszurüsten.
Ich bin am Ende einer kurzen Wanderung durch verschiedene Gebiete des Wissens, die uns besonders nahe liegen. Ich kann Ihnen keine Ausführungen, sondern nur Andeutungen geben und lediglich die allgemeine Richtung unseres Strebens kennzeichnen. Ich muss es mir versagen, heute noch die Hallen der Kunst zu betreten, wo der ideale Gestaltungsdrang in edlen Formen redet und Leid und Liebe, Schmerz und Freude durch die Harmonie der Töne spricht. Auch hier wird, wenn der Geist der Germanen überall wieder lebendig wird, der nationale Schönheitssinn mehr und mehr hervortreten und das Wogen tiefsinniger und heldenhafter Leidenschaft seinen deutschen Ausdruck finden. Ich möchte zum Schluss noch einmal zu dem zurückkehren, wovon wir ausgingen und einen kurzen Blick auf die Zukunft unseres deutschen Volkes werfen.
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Die bisher errungene staatliche Einheit bildet zweifellos nur den Ausgangspunkt für Weiteres und Höheres. Das Aufschäumen deutschen Volksgeistes, das erstarkte Gemeinschaftsgefühl eines grossen Volksstammes und der erwachende Gerechtigkeits- und Freiheitssinn werden schliesslich die Schranken durchbrechen, die ein konfessioneller Hader, beschränkter Parteigeist oder sozialer Hass aufzurichten imstande war. Indem das deutsche Volk sich selber endlich wieder findet, muss es auf festem volkstümlichem Grunde auch Schritt für Schritt zu der gebietenden Stellung im politischen und wirtschaftlichen Leben emporstreben, die ihm im Hinblick auf die ihm innewohnende Kraft und auf die Macht des deutschen Geistes gebührt. Ein edler und gerechter Wille wird es hoffentlich davor bewahren, die deutsche Volkskraft im Kampfe für die Eroberung von Weltreichen zu verschwenden, die schliesslich wieder zusammenbrechen müssen, wie die Reiche des Macedoniers, des Spaniers und des Korsen zusammengebrochen sind. Die gewaltige deutsche Wehrkraft als Beschützer einer sich langsam vollziehenden nationalen und wirtschaftlichen Einigung eines grossen Volksstammes, als Hüter deutscher Freiheit, als Förderer deutschen Wohlstandes und als Schirmherr kühn emporstrebenden deutschen Geistes ergiebt ein schöneres Bild, als wenn diese Kraft einseitig im Dienste des Handels oder gar im Dienste jener dunklen Mächte geopfert wird, deren Herrschaft den Völkern noch nie zum Segen gewesen ist. Allerdings ist es notwendig, dass die stolze Germania kommenden Völkerstürmen in voller Waffenrüstung entgegengeht, doch hoffen wir, dass in diesen Stürmen die Tugenden unseres Volkes ihre Brust beleben und das Licht des deutschen Genius ihr lorbeergekröntes Haupt umstrahlt.
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Im Anschluss an diese beherzigenswerten Worte möchten wir unsere Leser auf die Abhandlung von Hueppe: ‘Über Unterricht und Erziehung vom sozial-anthropologischen Standpunkte hinweisen, die kürzlich in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft (VIII, 8/9)
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erschienen ist. Ein vaterländisch gesinnter und kenntnisreicher Mann von freier naturwissenschaftlicher Weltanschauung, ganz auf dem Boden der neuesten Rassenkunde stehend und zudem Professor der Gesundheitslehre, hat hier seine reichen Lebenserfahrungen und die Ergebnisse vielseitiger Forschungen, soweit sie auf leibliche und geistige Erziehung Bezug haben, in einheitlicher und übersichtlicher Weise zusammengefasst. Er schliesst mit den Worten: ‘Der Weg zu diesem (unserm Volk gebührenden) Platz an der Sonne liegt in der Erziehung der deutschen Jugend zu Gesundheit, Arbeit und Wissen.’
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