Germania. Jaargang 7
(1905)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Schiller in den Niederlanden.Ga naar voetnoot(1)
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Ereignisse erklärt dies zur Genüge. Obwohl zur germanischen Rasse gehörig, neigte der Niederländer mehr zum französischen Wesen als zum deutschen. Corneille, Racine, Rousseau und Voltaire beherrschten den Geschmack der gelehrten und gebildeten Klassen, Klopstock, Wieland und selbst Lessing kannte man kaum dem Namen nach, und ebensowenig findet man, dass Goethe einen irgendwie nachhaltigen Einfluss ausgeübt hätte. Dem stand schon die mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache im Wege, während der gebildete Niederländer das Französische ebenso gut und manchmal noch besser beherrschte, als seine eigene Muttersprache, und dann darf man nicht vergessen, dass Paris damals das geistige Zentrum Europas war, wo sich jeder Fremde, der zu den Gebildeten gerechnet werden wollte, den notwendigen gesellschaftlichen Schliff holen musste, und von wo er sein unerschütterliches Urteil über Geschmack, Theater und Literatur mit nach Hause nahm. Noch ungünstiger für die Beurteilung und Wertschätzung deutscher Geisteserzeugnisse lagen die politischen Verhältnisse. Preussen hatte im Jahre 1787 wegen der bekannten Behandlung der Gattin des Statthalters, der Schwester Friedrich Wilhelms II., seine Truppen in die Republick einrücken lassen, in raschem Fluge wurden die Provinzen besetzt, und das stolze Amsterdam musste dem Sieger die Tore öffnen. Die erlittene Schmach zeugte einen dumpfen grimmigen Hass, der sich nicht nur gegen Preussen, sondern gegen alles was den deutschen Namen trug, richtete und gegen den die Anhänger des oranischen Hauses nichts in die Wagschale zu legen hatten. Wie hätte hier auch nur der Schein eines Interesses für die deutsche Literatur und ihre glänzenden Träger festen Fuss fassen und irgendwie zur Geltung kommen können? War doch selbst Klopstocks Verherrlichung der Niederländer als der besten Eisläufer und der kühnen Streiter gegen die spanische Tyrannei in Amsterdam und im Haag beinahe geringschätzig aufgenommen worden. Und wie hätte der nüchterne und auf das Geldverdienen und Geschäftemachen gerichtete Sinn des Niederländers den wenigstens in der ersten Periode überschwenglichen Idealismus Schillers begreifen können? Ich erinnere | |
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mich, vor vielen Jahren bei einem Bekannten eine holländische Zeitung oder was es gewesen sein mag, aus der Mitte der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts gesehen zu haben, in welcher Schillers Lieder an Laura abgedruckt waren, auch die Kritik dazu fehlte nicht und was die von ihr verwendeten Ausdrücke betrifft, so geben sie jenem russischen Zensor nichts nach, der zu Schillers Worten: ‘Unser Schuldbuch sei vernichtet’ und ‘Alle Menschen werden Brüder’ die Randbemerkungen: ‘Was? Schulden hat der Lump und will sie nicht bezahlen!’ und ‘Fort mit dem Kerl nach Sibirien!’ gemacht hat. Freilich die holländischen Verse, die damals geschmiedet wurden, waren um ein gut Teil nüchterner. Die französische Revolution, welche auch in den Niederlanden ihren Einzug gehalten hat, brachte Schillers Namen plötzlich zu Ehren. Die blutdürstigsten Republikaner, wie der Haarlemer Haan, der von nichts als von den paar hundert Köpfen träumte, die den Aristokraten in Amsterdam abgeschlagen werden müssten, feierte ihn wiederholt als den Dichter der Freiheit, Gleichheit und Brüderschaft. Es fragt sich indessen, ob die Anerkennung, welche hier der deutsche Dichter auf niederländischem Boden gefunden hat, ihren Ursprung darin hatte; dass man seine Werke wirklich gelesen hatte, oder ob diese Bewunderung nur der Widerhall dessen gewesen ist, was man aus Frankreich vernommen hatte, die Kunde von der Verleihung des französischen Bürgerrechts, für welche Schiller dann in der ‘Glocke’ quittierte, wird wohl auch in die Niederlande gedrungen und von den dortigen Freiheitsschwärmern in ihren Klubs zur Sprache gebracht worden sein. Denn jene Zeit und auch die auf sie folgende Periode war wahrlich nicht dazu angetan, dass man sich viel mit deutscher Literatur beschäftigte. Die batavische Republik war ein willenloses Anhängsel der französischen geworden, scheinbar frei und unabhängig, gehorchte ihre innere und äussere Politik dem Worte der Machthaber in Paris, und es verstand sich dann von selbst, dass französische Sprache und Literatur noch mehr, als bis jetzt der Fall gewesen war, das geistige Leben beherrschten. Niederländische Dichter besangen um die Wette die Taten Napoleons, dem | |
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sich auch der bedeutendste niederländische Dichter, Bilderdyk, bewundernd zu Füssen warf. Zwar war die Zahl der oranisch Gesinnten, namentlich unter den unteren Volksmassen, sehr ansehnlich, aber über die nächste Umgebung wagten sich die Äusserungen der Anhänglichkeit nicht hinaus, vielleicht dass der eine oder andere im stillen Kämmerlein an Schillers ‘Jungfrau von Orleans’ oder ‘Wilhelm Tell’ den gesunkenen Mut wieder aufrichtete und auf bessere Zeiten hoffte. Dies werden aber nur wenige Auserkorene gewesen sein, denn, wie mir von vielen, deren Jugendzeit in jene Periode fiel, versichert wurde, war die Kenntnis der deutschen Sprache, selbst unter den Gebildeten, mehr und mehr zur Seltenheit geworden; denn auch der Handel, der in dieser Hinsicht eine gegenteilige Wirkung ausgeübt hätte, lag infolge der Kontinentalsperre vollständig darnieder, die ‘holländischen Boutiquiers’ waren in den Augen Napoleons gerade gut genug, um Geld und Soldaten zu liefern. Es konnte aber doch nicht ausbleiben, dass in einem Lande, in welchem man seit den Zeiten von Salmosius und Scaliger stolz darauf gewesen war, die Heimat und Pflegestätte des Studiums und des Verständnisses der alten Klassiker zu sein, auch Schillers ideale Verherrlichung des klassischen Altertums Beachtung finden musste. Schillers Übersetzung der zwei Bücher der Aeneis erregte in wissenschaftlichen Kreisen Aufsehen, nicht nur wegen der genauen Wiedergabe der Erzählung, sondern wegen der modernen Form, in welche das klassische Heldengedicht gegossen war. Auf den ersten Anblick ist dies eine befremdende Erscheinung, denn man brauchte nicht in die Ferne zu gehen, da schon der nationale Dichter Vondel in seinem ‘Gysbrecht van Amstel’ die Einnahme und Vernichtung Troja's in ein niederländisches Gewand gesteckt hatte, in dem die Einnahme der Stadt Amsterdam durch den Grafen von Holland eine teilweise wörtlich aus Virgil genommene Schilderung der Katastrophe war; allein Vondel lag im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts dem Geschmack und dem Verständnis viel zu ferne, als dass man ihm die Beachtung geschenkt hätte, die er später, aber nicht unter der Masse | |
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des Volkes, sondern hauptsächlich in literarhistorischen Kreisen, genoss. Ich habe einen alten holländischen General gekannt - er war 1800 geboren, - der die in seiner Jugend auswendig gelernten ‘Die Götter Griechenlands’ im hohen Alter noch vordeklamieren konnte. Der abschreckend hohe Preis, der während der Herrschaft des Cottaschen Monopols für Schillers Werke bezahlt werden musste, stand auch in den Niederlanden einem tieferen Eindringen der Schillerschen Poesie in die gebildeten Kreise im Wege; durch die in den Schulen eingeführten deutschen Lesebücher wurden einzelne Gedichte von Schiller in weiten Kreisen bekannt, fast jeder Schüler, der deutsch gelernt hatte, konnte ‘Das Mädchen aus der Fremde’ auswendig, auch der ‘Alpenjäger’ gehörte zu den Gedichten, die sich besonderer Beliebtheit erfreuten. Noch günstiger war die allmählich zur Herrschaft gelangte Romantik. Schillers Balladen waren für diese Richtung wie geschaffen, und da die Rederykerskamers, eine Art holländischer Deklamations- und Vortragsgilde, auch mit den unteren Volksklassen Fühlung hatten, ja gerade in der Bildung des Volkes eine ihrer Hauptaufgaben sahen, so wurde auch der gemeine Mann, zuerst durch Uebersetzungen, mit dem deutschen Dichter bekannt. Dazu gehörte in erster Linie ‘Der Gang nach dem Eisenhammer’ (de gang naar de ijzersmeltery), ‘Der Kampf mit dem Drachen’, ‘Der Handschuh’, ‘Ritter Toggenburg’ und der ‘Taucher’; dann folgten grössere Stücke, namentlich Monologe aus den Dramen, besonders beliebt war Johannas Abschied von den heimatlichen Fluren, auch die Kapuzinerpredigt errang sich einen bleibenden Platz auf dem Repertoire und ‘Tells’ Monolog an der hohlen Gasse erfreute sich der besonderen Gunst des Publikums. Es folgten bald Uebersetzungen ins Holländische; mit Bewunderung nenne ich hier, obwohl sie in eine spätere Zeit fällt, die Wiedergabe der ‘Glocke’ durch den Dichter ten Kate, der an manchen Stellen den Schwung und die Kraft des Originals erreicht hat. Die ‘Räuber’, ‘Kabale und Liebe’, ‘Maria Stuart’ waren bald erklärte Lieblingsstücke des Publikums; ich erinnere mich, wie einmal in einer Provinzstadt, wo die angekündigte Vorstellung der | |
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‘Räuber’ wieder abgesagt wurde, weil, wie man erzählte, die nervöse Tochter des Bürgermeisters das Schiessen auf der Bühne nicht ertragen konnte, das dafür eingelegte Ersatzstück mit sehr deutlichen Zeichen des Missfallens aufgenommen worden ist. Ja, diese Stücke waren derart öffentliches und nationales Gemeingut geworden, dass man sie oft kurzweg für ein holländisches Geistesprodukt ausgeben hörte oder dass man den Namen des Uebersetzers dem Dichter selbst substituierte. Besonderer Bewunderung erfreute sich, vor allem bei Dienstmädchen, die ‘Kindsmörderin’, eine holländische Kellnerin erklärte laut, dass dies das herrlichste und schönste Gedicht in der ganzen Welt sei, und dass sie es nie lesen könne, ohne dass ihr die Tränen in die Augen kämen. So kann eben jeder bei dem Dichter nach seiner Art und seinem Bildungsgrad zu Gaste gehen, wie der holländische Makler, der Goethes Worte ‘der Mensch, der spekuliert’ als Warnung vor gefährlichen Börsenspekulationen auffasste; der Mann hatte von seinem Standpunkt aus ganz recht. ‘Bei Schiller’, sagte ein Holländer, ‘findet jeder etwas, was ihm zusagt und was recht eigentlich persönlich auf ihn zugeschnitten ist’ (wat van zijn gading is). Es war eine trübe, jammervolle Zeit, als in Deutschland am 10. November Schillers hundertjähriger Geburtstag gefeiert wurde. Zwar war der freiheits- und geistesmörderische Druck, den Russland auf Deutschland ausgeübt hatte, durch den Krimkrieg einigermassen gebrochen, auch hatte die österreichische Konkordatspolitik bei Solferino gänzlich Bankerott gemacht, aber im grossen Ganzen gab es der Lichtpunkte im deutschen Vaterlande Schillers nur wenige. Deutschland in seiner Zersplitterung schien zur Ohnmacht verurteilt, und weite deutsche Kreise nahmen das Wort Klopstocks, dass die Zeit politischer Grösse und Macht für Deutschland unwiderbringlich dahin und dass ihm nur das Gebiet des Idealen für die Betätigung seiner Kräfte übrig geblieben sei, als ein unabänderliches geschichtliches Gesetz hin. Mit Recht sagte damals Thorbecke, der spätere grosse Staatsmann, Schiller hätte in seinem Gedichte ‘Die Teilung der Erde’ an Stelle des zu spät | |
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gekommenen Poeten ebenso gut und mit demselben Rechten den Deutschen setzen können; es stimmt dieses Urteil vollständig mit dem später gesprochenen, aber ebenfalls aus holländischem Munde stammenden Mitleid ‘mit dem lächerlichen, von Professoren und Junkern regierten Deutschland überein’. Aber merkwürdig, fast überall in Deutschland, wo den Manen des Dichters die Huldigung des Volkes dargebracht wurde, klangen die Festreden in den laut ausgesprochenen Wunsch und die Hoffnung aus, dass die schönste Erfüllung des von dem Dichter seinem Volke hinterlassenen Vermächtnisses nichts anderes, als die politische und staatliche Wiedergeburt Deutschlands sein könne. Diese Hoffnung ist, wie man weiss, in Erfüllung gegangen. Wenn aber Friedjung in seinem bekannten Werke den Satz ausspricht, dass die Deutschen von der Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an angefangen hätten, ihrer Begeisterung für Schiller und Goethe einen Dämpfer aufzusetzen, ‘besonders aber Schiller weniger zu lieben’, so ist dies nur richtig, wenn man statt des Wortes ‘weniger’ die Worte ‘nicht mehr ausschliesslich’ setzt, denn die Verehrung, welche das deutsche Volk für Schiller unmittelbar vor und nach dem politischen Aufschwung hegte, ist dieselbe geblieben. Im Novemberhefte des ‘Gids’ vom Jahre 1859 veröffentlichte E.J. Potgieter eine tief empfundene, von Begeisterung sprühende Ode auf Schiller, in welcher der eben genannte politische Hintergrund ebenfalls eine bedeutsame Rolle spielt. Potgieter war ein hervorragender Dichter und ein äusserst scharfsinniger und darum in literarischen Kreisen auch äusserst gefürchteter Kritiker, der in dem von ihm mitbegründeten ‘Gids’ - wegen des blauen Umschlags, in dem er erschien, von jungen Dichtern und Schriftstellern oder solchen, die es zu sein glaubten, nur der ‘blauwe beul’ (der blaue Scharfrichter) genannt - mit beinahe diktatorischer Gewalt über alle literarischen Erscheinungen zu Gericht sass. Aus solchem Munde hat die beinahe dem Reiche der Überschwenglichkeit angehörende Verherrlichung Schillers ein ganz besonderes Gewicht; einer wörtlichen Übersetzung im Versmass stellen sich fast unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen, und so mögen hier nur | |
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die bezeichnendsten Stellen folgen. Nachdem er den Dichter der Menschheit und ihrer Ideale, den Priester der erhabenen Schönheit gefeiert und die drei skandinavischen Reiche, ‘Svea. Nore und Danas Eilandsgruppen’ aufgefordert worden sind, ihm den verdienten Tribut darzubringen, während selbst Englands Stolz vor dem deutschen Dichter sich beugt, heisst es: ‘Soll Holland allein fehlen in der Schar derer, die Blumen um den heiligen Altar winden? Ja, es schliesst sich dem grossen Zuge an, denn ist er es nicht gewesen, der es in seinem tiefsten Schmerze vor Verzweiflung bewahrt hat? als leider sein zweiter Vondel (gemeint ist Bilderdyk) das entsetzliche Urteil unterschrieb, dass keine Rettung möglich sei, wenn nicht das Wrak des Pfeilbündels (d.h. der Provinzen) in französischem Fahrwasser treibe, da wurde seine Schilderung der Vergangenheit durch ihr hohes himmliches Licht für uns die beseelende Leuchte, um die Gegenwart zu schaffen; Tränen der Dankbarkeit sind es, die wir auf Schillers Asche fliessen lassen!’ Dann aber wirft Potgieter einen Blick auf die Gegenwart: ‘Du Dichter der kühnsten Träume des menschlichen Geschlechts - noch ist die Nacht nicht verschwunden, wird bald der Morgen anbrechen, den Du herbeigesehnt? Deutschland blitzt von Diademen, aber der Fürsten Schar weiss nichts von Dillenburg (Geburtsort Wilhelm des Schweigers, der die deutschen Fürsten so oft zur Einigkeit ermahnt hat), mag auch die Mutter alles, was deutsch spricht, liebevoll in ihr Herz schliessen - dennoch schmäht der Bruder den Bruder und der Hader zwischen Nord und Süd lässt beide die Beute fremder Herrschsucht werden.’ Das Gedicht schliesst mit den Worten: ‘Aus deutschem Stamm gesprossen, fühlen wir uns in jedem Stand, dem Deutschen in Lieb und Leid verwandt! Du Kämpfer für die höchsten Güter, trotz des Grabs, das dich umschliesst, gebietet dein Geist: Vorwärts! möge dein verklärtes Auge den Sieg des geeinigten Volks erblicken, von dessen Pflicht und Recht dein Gesang für uns das hohe Lied gewesen ist.’ Solche Wünsche für die politische Einigung Deutschlands standen freilich in Holland vereinzelt da, schon sieben Jahre später waren sie beinahe vollständig verstummt, | |
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und auch nach 1871 konnten sich weite Kreise nur schwer in die neuen europäischen politischen Verhältnisse finden; man war eben in der Zeit aufgewachsen, in welcher man gewöhnt gewesen war, dem Vaterlande Schillers gerade wegen seiner politischen Bedeutungslosigkeit das Almosen der Sympathie zu schenken, denn ein anderes Deutschland als ein solches, welches das natürliche Schlachtfeld für Europa abgab, das sich für alle möglichen idealen Ziele, mochten sie ihm auch fremd oder selbst schädlich sein, erwärmte, und das schliesslich gut genug war, um als Ausgleichungsobjekt für andere Staaten zu dienen, konnte man sich eben nicht denken. Desto dankbarer muss uns die Gesinnung eines so hervorragenden Mannes wie Potgieter stimmen. Im Haag wurde bei der Schillerfeier am 9. Mai diese Ode vorgetragen. Um so gewaltiger war aber der Einfluss Schillers auf das niederländische Theater. Ihr erstes Heim fanden die Dramen des Dichters in dem 1852 gegründeten ‘Grand Théâtre’ des Herrn van Lier in Amsterdam. Dieser um das deutsche Schauspiel in den Niederlanden hochverdiente Mann hätte sicher, auch bei den in genannter Stadt ansässigen Deutschen, etwas mehr Würdigung und Anerkennung verdient, als ihm während seines mühevollen, an Enttäuschungen reichen Lebens zu teil geworden ist. In dem genannten Theater in der Amstelstraat wurden die Schillerschen Dramen zuerst in deutscher Sprache vorgeführt, ‘Die Räuber’, ‘Kabale und Liebe’, ‘Don Carlos’, ‘Maria Stuart’, ‘Die Jungfrau von Orleans’, ‘Wallensteins Lager’ und ‘Wallensteins Tod’ gingen wiederholt über die Bühne, und dass dabei auch die verwöhntesten Feinschmecker volle Befriedigung fanden, geht aus der Liste der Künstler und Künstlerinnen hervor, die in den Hauptrollen aufgetreten sind; es wird genügen, wenn wir die Namen Emil Devrient, Davison, Ludwig Barnay, Ernst Possart, Mitterwurzer, Klara Ziegler, Marie Seebach, Laura Ernst und Elmenreich nennen, von denen die meisten, ermutigt durch den ersten Erfolg, wiederholt dem Grand Théâtre ihre Kunst zur Verfügung gestellt haben. Am 10. November 1859 fand auch hier eine Schillerfeier durch Aufführung von ‘Wallensteins Lager’ und leben- | |
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der Bilder zum ‘Lied von der Glocke’ statt. Kaum braucht ausdrücklich gesagt zu werden, dass die meisten der hier genannten Stücke auch in holländischer Sprache dem Publikum vorgeführt worden sind, der jetzt noch lebende hochbetagte Schauspieler Veltmann und die unvergleichliche Künstlerin Frau Kleine Gartman haben in Schillerschen Rollen die grossartigsten Triumphe gefeiert. Der Vollständigkeit halber sei hier noch erwähnt, dass auch die Meininger, welche im Jahre 1881 im Stadttheater von Amsterdam während einiger Wochen Vorstellungen gaben, durch die wunderbare Szenerie in ‘Fiescos Verschwörung’ sowie im ‘Tell’ und den ‘Räubern’ sich den warmen Dank des kunstie benden Publikums verdient haben. ‘Die Räuber’, ‘Kabale und Liebe’ und ‘Maria Stuart’ bildeten heute noch einen wesentlichen Bestandteil der Spielpläne in den Theatern, welche im Verband des Nederlandsch Tooneel stehen; die Übersetzung dieser Stücke ist indessen hinsichtlich ihres Wertes von sehr ungleichem Gehalt, am besten scheint mir ‘Maria Stuart’ gelungen zu sein. Der ungeheure Erfolg, dessen sich die Schilleraufführungen des Grand Théâtre in deutscher Sprache rühmen konnten, ist auch der Aufführung übersetzter Stücke zu gute gekommen, denn, wie aus einem mir von dem Sohne des Gründers des Grand Théâtre freundlichst zur Verfügung gestellten Register hervorgeht, ist nach dem Gastbesuche von Klara Ziegler, Seebach, Barnay u.s.w. stets eine ziffernmässige Steigerung der holländischen Aufführungen festzustellen. Endlich möge hier noch der Aufführung der ‘Räuber’ in Utrecht und Amsterdam durch deutsche Studenten gedacht werden, die vor ein paar Jahren einiges Aufsehen erregten, wiewohl die Hauptrollen sämtlich von Berufsschauspielern gegeben wurden. Nach den Bestimmungen des Gesetzes über den Unterricht an Mittel- d.h. Realschulen und Gymnasien ist zur Ablegung der Abgangsprüfung, welche zum Studium an einer polytechnischen Schule, beziehungsweise an einer Universität ermächtigt, nicht nur die Kenntnis der deutschen Sprache, in welcher ein nicht gerade geringer Grad der Fertigkeit im mündlichen und schrift- | |
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lichen Gebrauch vorgeschrieben ist, sondern auch der deutschen Literatur erforderlich. Was die letztere betrifft, so wird es zu einem guten Teil vom Lehrer abhängen, ob die Schüler bei der Lektüre der deutschen Klassiker sich für diese auf die Dauer erwärmen oder nicht. Dass hier Schillers Gedichte und Dramen in erster Linie in Betracht kommen, lässt sich denken, und aus eigener Erfahrung kann ich versichern, dass viele holländische Abiturienten hier zum mindesten ebenso gut zu Hause sind, wie ihre Altersgenossen in Deutschland, ja Beispiele, dass ein Einzelner sämtliche Dramen von Schiller gelesen hat, sind nicht selten, während sich ein Holländer, der sich durch den ganzen Vondel den Nationaldichter hindurchgearbeitet hat - es sei denn, dass er niederländischer Literaturhistoriker wäre oder sich für die Lehrtätigkeit vorbereiten wollte - sich beinahe für Geld sehen lassen könnte. In spezifisch katholischen Schulen fehlt der ‘Gang nach dem Eisenhammer’ in keinem Lesebuch, und aus naheliegenden Gründen wird an den höheren Bürgerschulen und Gymnasien in Nordbrabant und Limburg mit ihrer vorherrschend streng katholischen Bevölkerung ‘Maria Stuart’ das Lieblingsdrama sein. Es mag hier nicht unerwähnt bleiben, dass der in Deutschland während des Kulturkampfes von ultramontaner Seite gemachte Versuch, Schiller für die katholische Kirche in Beschlag zu nehmen und ihn als überzeugten Katholiken sterben zu lassen, bei den Ultramontanen in den Niederlanden, wo man doch sonst mit gierigen Händen nach allem greift, was aus fremden Arsenalen zu Kampfzwecken verwertet werden kann, sehr wenig Verständnis gefunden hat; denn wenn Schiller auch den katholischen Kultus verherrlicht hat, so hat er doch auch Rousseau gepriesen, ‘der leidet, fällt durch Christen, Rousseau, der aus Christen Menschen wirbt’, von der Unterredung Domingos mit der Prinzessin Eboli über das Verfügungsrecht der Kirche über die Körper ihrer Töchter gar nicht zu reden. Es versteht sich von selbst, dass ‘Don Carlos’ in denjenigen Anstalten, welche unter mehr oder weniger gut katholischen Aufsichtsbehörden stehen, ebenso auf dem Index steht, wie Lessings ‘Nathan der Weise’. | |
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Was man in der Schule gelesen und in sich aufgenommen hat, wird in späteren Jahren noch sorgsam gepflegt. Die gemeinnützige Gesellschaft (Maatschappij tot Nut van 't Algemeen), welche über das ganze Land verbreitet ist, veranstaltet während der Wintermonate an zahlreichen Plätzen des Landes öffentliche Vorlesungen, in welchem auch literarische Gegenstände behandelt wurden. Es verging aber in früherer Zeit fast keine Saison, in der nicht ein Drama von Schiller oder das ‘Lied von der Glocke’ das Thema des Vortragsabends bildete; noch vor wenigen Jahren ist eine solche Vorlesung in Amsterdam gehalten worden. In einer Zeit, in welcher den alten Klassikern mit ihrer idealen Lebensanschauung von den jungen Aposteln des Realismus oder Materialismus häufig mit Erfolg das Terrain streitig gemacht wird, ist ein solches Symptom der Geschmacksrichtung sicher nicht ohne Bedeutung. Zum Schlusse noch eine Bemerkung, die in gewisser Hinsicht ethnographischer Natur ist. Es ist eine auffallende Erscheinung, dass der Niederländer in seiner ganzen Litteratur das, was wir Zitatenschatz nennen, fast gar nicht besitzt, und dass er mit Ausnahme einiger weniger, allerdings zum Allgemeingut gewordener Reime aus Jakob Cats und den ‘Gedichten van den Schoolmeester’ - von letzterem ist am weitesten wohl verbreitet der Vers: ‘Der Unterschied zwischen Eseln und gelehrten Doktoren sitzt manchmal nicht im Kopf, sondern in den Ohren’ - stets bei einer fremden Literatur eine Anleihe machen muss, wenn er ein geflügeltes Wort ins Treffen führen will. Und in dieser Hinsicht steht Schiller sicher nicht an letzter Stelle, wenn auch der Löwenanteil der französischen Literatur zukommt. ‘Auch ich war in Arkadien geboren’, muss bei Hochzeitstoasten häufig herhalten, ‘der ist besorgt und aufgehoben’ wird auf den glücklichen Gewinner eines hohen Preises in der Lotterie angewendet, ‘mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens’ ist ein sowohl von geplagten Lehrern, wie von enttäuschten Politikern viel gebrauchtes Wort, und dass ‘die Weltgeschichte ist das Weltgericht’ sich bei passender oder auch nicht passender Gelegenheit einstellt, wird den, der den hier | |
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allgemein verbreiteten Hang zu Zitaten kennt, nicht befremden. Kaum wird es nötig sein, noch besonders auf das ‘Lied von der Glocke’ aufmerksam zu machen, welches für den Niederländer eine fast ebenso reiche Fundgrube ist und eine ebenso ergiebige Ausbeute bietet, wie für den Deutschen. Und es soll noch ausdrücklich hervorgehoben werden, dass diese geflügelten Worte in der Ursprache und nicht etwa in der holländischen Uebersetzung gebraucht werden. An den Feierlichkeiten, die in Holland von den Deutschen im grossen Stile zur Schillerfeier veranstaltet wurden, nahmen auch Niederländer einen hervorragenden Anteil; jedenfalls aber wird es den Deutschen mit Stolz und Genugtuung erfüllen, wenn er Namen, wie Israels und Mesdag auf der Liste derer findet, welche die Ehrung des grossen Toten leiten. |
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