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Die Lebenswunder
von E. Häckel. (Stuttgart, A. Kröner, 1904.)
Besprochen von L. Wilser.
Die Aufgabe der wahren, einheitlichen und voraussetzungslosen Wissenschaft ist es, die Wunder zu erklären, die Rätsel zu lösen. Darum hat der unermüdliche und streitbare Vorkämpfer einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung, veranlasst durch den grossen Erfolg seiner ‘Welträtsel’, diesen sein neuestes und, wie er meint, letztes Werk folgen lassen. Er glaubt, dies ‘biologische Skizzenbuch’, das, wie er bescheiden sagt, nur Studien ‘von sehr ungleichem Wert und von unvollkommener Ausführung’ bietet und ein ‘ehrlicher Versuch’ bleibt, alle Erscheinungen des vielgestal- | |
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tigen Lebens in einem einheitlichen Bilde zusammenzufassen, Tausenden von Lesern schuldig zu sein, ja er fühlt sich dazu als Erwiderung auf zahllose Anfragen und Bitten geradezu ‘verpflichtet’.
Es gibt nur eine Wahrheit, eine unteilbare Wissenschaft, und jede Lehrmeinung, die mit irgend einer feststehenden Tatsache in unlösbarem Widerspruch steht, ist falsch. Auch der Mensch, das Endglied einer langen Entwickelungskette, die Krone der Schöpfung, bildet mit allen seinen leiblichen und geistigen Eigenschaften einen Gegenstand, und zwar den vornehmsten, naturwissenschaftlicher Forschung, sein Wesen kann nur im Zusammenhang mit der ganzen Lebensentwickelung auf unserm Erdball verstanden werden. Der Verfasser ist daher unsrer unbedingten Zustimmung sicher, wenn er die Frage nach ‘der Entstehung des Lebens’ nicht umgeht und sie für eine zwar ‘schwierige’, aber doch ‘lösbare Aufgabe der Wissenschaft’ erklärt. Wer vor ihr als vor etwas Unerforschlichem halt macht - und dazu gehören Forscher wie Darwin und Helmholtz - dessen Weltanschauung entbehrt der sicheren Grundlage. Seit 1866 (Generelle Morphologie) ist Häckel unentwegt dafür eingetreten, dass auf der Erde eine ‘Urzeugung’ (Archigonia, Generatio spontanea) stattgefunden hat, dass eine unüberbrückbare Kluft zwischen unbelebtem und belebtem Stoff nicht besteht, dass sich dieser aus jenem von selbst aufbaut. ‘Omne vivum ex ovo’, diesen Harvey'sehen Satz erweiterte man später zu ‘omne vivum ex aeternitate e cellula’ oder ‘omnis cellula e cellula’; die heutige Erkenntnis lehrt ‘omnis cellula e vivo’ und ‘primum vivum e materia aeterna’. Eine andere Frage ist die, ob ein solches Zusammentreten der Grundstoffe (Elemente) zu lebenden Urschleimklümpchen (aus Protoplasma bestehenden Moneren) nur in früheren Erdaltern, unter niemals wiederkehrenden Verhältnissen stattgefunden hat, oder aber ob sich der
gleiche Vorgang noch immer wiederholt. Im Gegensatz zu Pflüger gibt der Verfasser diese Möglichkeit ‘selbst bis zur Gegenwart’ zu, wenn ‘die physikalischen Bedingungen für den
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chemischen Prozess’ gegeben sind. Er denkt dabei besonders an den Meeresstrand, wo im ‘feuchten Sande die Molekularkräfte der Substanz in allen Aggregatzuständen, in gasförmigem, tropfbar flüssigem und festem’ auf einander wirken können. Tatsache ist, dass noch heute alle Entwicklungsstufen des Lebens, vom ‘einfachsten Moner’ bis zu den ‘höchstentwickelten’ Tieren, nebeneinander vorkommen, erstere sogar, wie er selbst auf seinen Seereisen beobachtet hat, in ungeheuren Mengen. Hätten sie sich nicht immer wieder neugebildet, so müsste man annehmen, ihre Entwicklung habe in dem ungeheuren, nach Millionen von Jahren zu berechnenden Zeitraume seit ihrer Entstehung keinerlei Fortschritte gemacht und, wie ich hinzufüge, ihre Vermehrung stets die Vertilgung durch Höherstehende, denen sie zur Nahrung dienen, übertroffen.
Nicht nur die Tatsache, dass, sondern auch die Art und Weise, wie Höheres aus Niederem, Verwickeltes aus Einfachem hervorgegangen, wie neue Arten und Abarten sich bilden, ist von der grössten Wichtigkeit für eine einheitliche, überall den ursächlichen Zusammenhang suchende Weltanschauung. In dieser Hinsicht ist vom grössten Gewicht, dass ein so scharfer Beobachter, ein Mann, der sein ganzes Leben der Erforschung der Natur und ihrer Gesetze geweiht hat, in der ‘Vererbung erworbener Eigenschaften’ eine der ‘festesten und unentbehrlichsten Stützen’ der Entwickelungslehre erblickt. Er findet dafür zahllose Beispiele, in der Umbildung der Plattfische, die Weismanns Keimplasmatheorie ‘überhaupt nicht zu erklären’ vermag, in der Entwickelung der Schnecken, der Schmarotzer und vielen anderen Tatsachen der vergleichenden Anatomie und Ontogenie, die uns lehren, ‘dass die unzähligen Umbildungsprozesse, die zur Entstehung der einzelnen Arten geführt haben, durch Anpassungen an die verschiedenen Lebensbedingungen, Gewohnheiten und Tätigkeiten bewirkt sind und in Verbindung mit der Vererbung die morphologische Transformation physiologisch erklären’. Auch in bezug auf den Instinkt, von mir mit ‘Erbübung’ oder ‘Erbgewohnheit’ verdeutscht, tritt Häckel
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mit Entschiedenheit den unhaltbaren Theorien von Weismann und Ziegler entgegen, da nach seiner Überzeugung ‘gerade umgekehrt die merkwürdigen Erscheinungen des Instinkts eine Fülle von schlagenden Beweisen für die progressive Vererbung ganz im Sinne von Lamarck und Darwin’ liefern. Trotzdem sieht aber auch er in der ‘Selektionstheorie’, dem eigentlichen Darwinismus, immer noch die ‘kausale Begründung’, das wahre ‘Fundament’ der Entwickelungslehre. Kein denkender Naturforscher kann den Kampf ums Dasein und seine einschneidenden Wirkungen übersehen, nur sind die Folgen der ‘natürlichen Auslese’, die alles Krankhafte, Lebensunfähige und aus der Art Schlagende ausmerzt, in Wirklichkeit ganz andere, als man sich gewöhnlich vorstellt, nicht umbildend, sondern erhaltend. Dadurch, dass sie die Entwickelungslehre zum Sieg geführt, hat die ‘Selektionstheorie’ ihre Schuldigkeit getan, zur Erklärung der aufsteigenden Entwickelung und der Artenbildung brauchen wir sie nicht, dazu genügt die Vererbung von Anpassung und Gewöhnung, die züchtende Kraft räumlicher Trennung.
Mit freudiger Zustimmung wird es die wirklich wissenschaftliche Anthropologie begrüssen, dass der unerschrockene Jenenser Forscher die Geschichte ganz auf naturwissenschaftliche Grundlagen gestellt wissen will, denn es bleiben für die Historiker ‘stets zahllose Pforten des Irrtums offen, da die Urkunden meist unvollständig sind, und da ihre subjektive Deutung oft ebenso zweifelhaft ist wie ihr objektiver Wahrheitsgehalt’, und die ‘Völkergeschichte - die wir in unserer komischen anthropocentrischen Einbildung Weltgeschichte zu nennen belieben - und ihr höchster Zweig, die Kulturgeschichte, schliesst sich durch die moderne Vorgeschichte des Menschen, die prähistorische Forschung, unmittelbar an die Stammesgeschichte der Primaten und der übrigen Säugetiere’ an. Das lehre ich, fast mit den gleichen Worten, seit Jahren; möchte das Gewicht des Häckel'schen Namens, zum grössten Vorteil für die Wissenschaft, solchen Anschauungen zum Sieg verhelfen. Dass eine die Entwickelungslehre und unsere Abstammung von tierischen
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Vorfahren leugnende Anthropologie ein Unding und ein Hindernis für jeden Fortschritt in der Erkenntnis ist, dieser Ueberzeugung hat Häckel auch in vorliegendem Werk den unzweideutigsten Ausdruck gegeben: ‘Die ausserordentliche Autorität, deren sich Virchow erfreute, und der unermüdliche Eifer, mit dem er alljährlich bis zu seinem Tode (1903) die Abstammung des Menschen von den Wirbeltieren bekämpfte, bewirkten in weitesten Kreisen einen zähen Widerstand gegen die Descendenztheorie.. .. Erst in jüngster Zeit ist in dieser Hinsicht eine günstige Wendung eingetreten.’ Bekanntlich ging vor kurzem infolge einer Bemerkung seines Schwiegersohnes Rabl (Ueber die züchtende Wirkung funktioneller Reize, Leipzig 1904) die Nachricht durch die Blätter, Virchow sei ‘kein Gegner der Descendenztheorie’, sondern nur der ‘Ausschreitungen vieler Anhänger’ derselben gewesen. Dass er gelegentlich eine solche Äusserung fallen liess, wundert mich nicht - hat er sich doch oft genug widersprochen! -, in Wahrheit hat er aber die Entwickelungslehre und die daraus, besonders bezüglich des Menschen, gezogenen Schlüsse bekämpft, und die Dunkelmänner haben sich stets mit Vorliebe auf ihn berufen. Darum hat Häckel vollkommen recht, wenn er ihn unter ‘die ganz besonderen Missetäter’ rechnete.
Mit Einzelheiten der eigentlich anthropologischen Forschung hat sich der Verfasser der ‘Lebenswunder’ wenig befasst. Immerhin berührt es angenehm, dass er jetzt von der ‘gemeinsamen Stammform der Affen und Menschen’ spricht. Von den Affen, wie sie jetzt sind, kann ja der Mensch nicht abstammen, ebenso gut, darin muss ich Boelsche beistimmen, ‘liesse sich für die heutigen Menschenaffen sagen, dass sie vom Menschen abstammen’. Der ‘auffallende Unterschied’, schreibt Häckel ganz richtig, ‘in der Bewegung beider ist durch die Anpassung der Menschen an den aufrechten Gang bedingt, während für die Affen die kletternde Lebensweise auf Bäumen die normale ist. Indessen ist ohne Zweifel die erstere aus der letzteren hervorgegangen.’ Gewiss, aber die gemeinsamen Vorfahren waren noch nicht so ausschliess- | |
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lich ans Baumklettern angepasst wie die Grossaffen, sonst wäre die Umbildung der hinteren Gliedmassen in einen Stand- und Gangfuss nicht mehr möglich gewesen. Ueber den Schauplatz der Menschwerdung, die aufsteigende Entwickelung und allmälige Ausbreitung der Menschenrassen wird nicht einmal eine Vermutung geäussert.
Gewiss ist die Philosophie als Wahrheitforschung die ‘Königin unter den Wissenschaften’, was man aber gewöhnlich darunter versteht, ist etwas ganz anderes, eine durchaus nicht voraussetzungslose, oft recht beschränkte Schulweisheit. Es will mich bedünken, ein Naturforscher wie Häckel hätte sich mit deren Vertretern nicht allzu viel einlassen sollen, dann wären ihm vielleicht manche ‘Entstellungen und Trugschlüsse, Verdrehungen und Sophismen, Verketzerungen und Verleumdungen’ erspart geblieben. Solche Leute mit zwiespältigem (dualistischem) Denken, die nicht überzeugt sein wollen und keinen Ausweg mehr wissen als ‘zurück zu Kant’, d.h. einen richtigen ‘Krebsgang’, überlässt man am besten sich selbst: bringen sie ihre Lehren in Einklang mit den Ergebnissen der Naturforschung, gut, wenn nicht, so stehen sie eben ausserhalb der Wissenschaft.
Wie könnte ich meinen Bericht über ein Buch, das den Leser ‘immer tiefer in die Wunderwerke der Natur’ einführen will, besser schliessen als mit dem schönen, ihm vom Verfasser vorangestellten Dichterwort:
Irrtum verlässt uns nie, doch zieht ein höher Bedürfnis
Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.
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