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Baudin, Antwerpen und Dünkirchen?
Vor mehreren Monaten beschäftigten sich die französischen Zeitungen und vor allem das politisch gut bediente ‘Journal’ angelegentlich mit der schon seit langem für Frankreich brennenden Frage: wie ist es möglich, den völligen Niedergang des französischen Handels in Antwerpen aufzuhalten? Nicht erst die Erinnerungsfeier im August v.J., als Antwerpen das Fest der Wiederkehr des Gründungstages seines stolzen Hafens feierte, und an dem die Augen vieier Franzosen stillen Neides nach Belgien, das vor 100 Jahren aus der Hand Napoleons dieses herrliche Geschenk erhielt, hinüberschauten, hat aufs Neue die Frage ins Rollen gebracht. Schon seit langem ist der bedeutende ehemalige Minister S. Baudin ein eifriger Verfechter der Idee, dass Frankreich alles daransetzen müsse, den französischen Handel, soweit er für das nördliche Meer in Betracht kommt, zu heben, und dass es nur ein Mittel gäbe: dem bedeutungsvollen Hafen von Marseille in Dünkirchen einen anderen zur Seite zu stellen, der durch mustergültige Hafenanlage und einen mit den Ergebnissen moderner Technik aufs trefflichste ausgestalteten Zufuhrwegs zu Lande in den Wettstreit mit Antwerpen treten könne.
In der Tat ist der Rückgang des französischen Handels in Antwerpen seit ungefähr zwanzig Jahren ganz enorm. In der Statistik für Ein- und Ausfuhr des Antwerpener Hafens rangiert augenblicklich die französische Flagge an zehnter Stelle hinter: England, Deutschland, Belgien, Norwegen, Japan, Holland, Dänemark, Schweden und Spanien! Und das Betrübende für Frankreich dabei ist, dass der Handel Frankreichs nicht etwa von Antwerpen nach Frankreich abgezogen wurde, sondern im ganzen bedeutend zurückgegangen bezw. von anderen Ländern
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überflügelt worden ist. Das, was man auf handelspolitischem Gebiete bei der ganzen Politik Frankreichs gegen Belgien herhofft hatte, dass dieses zum grossen Teil französisch sprechende Land unter französischem Einfluss als eine zwar selbständige, aber doch innerlich mit Frankreich verbundene ‘Provinz’ stets dem Nachbarlande aufs engste verbunden bliebe, - dass wie Marseille der Hafen für Afrika und dem Orient, so Antwerpen der grosse, französische Hafen des Nordens werden würde, ist nicht eingetreten. Dass dieses nicht so gekommen ist, daran ist in doppelter Hinsicht der Krieg von 1870 Schuld. Frankreich hatte nach diesem Kriege durch seine immensen Rüstungen die Kraft zu grossen Handelsunternehmungen verloren, und indem es seine Grenzen befestigte, vergass es, dass es hinter ihnen ein kleines Frankreich, ein ‘historisches Frankreich’ zurückliess. Für Deutschland dagegen bedeutete der Krieg das Erwachen eines wagenden Unternehmungsgeistes, das tatkräftige Einsetzen einer überaus rührigen Arbeit auch ausserhalb seiner Grenzen. Esbeginnt für Belgien die vielgeschmähte ‘invasion allemande’. Die französischen Zeitungsstimmen in Frankreich wie in Belgien gehen nicht fehl, wenn sie den rapiden Rückgang des französischen Handels in Antwerpen allein der Einflutung deutscher Elemente zur Last legen. Der französische Generalkonsul in Antwerpen, Carteron, bringt regelmässige und interessante Berichte über das AnWachsen der deutschen Kolonie und fiber die ‘drohende’ Ueberhandnahme des deutschen Handels in diesem, von Napoleon gegründeten Hafen. Von 200 regelmässigen Schiffahrtslinien, die Antwerpen mit der ganzen Welt verbinden, sind 60 von den Deutschen neu geschaffen. Deutscher
Unternehmungsgeist und deutsche Energie haben in kurzer Zeit sich in der vlamischen Hafenstadt nicht nur Ansehen und Achtung erobert, sondern das Uebergewicht in dem gesamten Handelsverkehr Antwerpens zu erlangen gewusst; deutsche
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Handelshäuser stehen in Antwerpen an erster Stelle, deutsche Arbeit wird allenthalben hoch gewertet. Sehr gut beobachtet, wenn auch etwas einseitig dargestellt, ist die Art und Weise, wie sich der Deutsche den Platz erobert, und wovon der französische Generalkonsul in seinem Berichte wörtlich schreibt: ‘Der (deutsche) Employé kommt hier an, wenig Geld in der Tasche, aber ausgerüstet mit einer grossen Willenskraft; seine bescheidenen Ansprüche öffnen ihm bald die Türen eines grossen Handelshauses; allmählich rückt ihn seine Arbeitskraft, sein gesunder Sinn in allen Geschäftssachen, seine sprachlichen Kenntnisse in das richtige Licht, und bald weiss er sich das zu Nutze zu machen, um in die Geheimnisse der Firma einzudringen und sich unentbehrlich zu machen. Hat er das erreicht, dann vertreibt er die belgischen oder englischen Mitangestellten und zieht von Deutschland Landsleute nach sich. Ein neuer Schritt: er tritt in die Familie ein und wird Teilhaber. Will er “mit eigenen Flügeln fliegen”, dann gründet er selbst ein neues Haus, indem er die Beziehungen seines alten Hauses benutzt. Die Banken öffnen ihm reichen Kredit. Er hat erreicht, was er will; ist es nötig, so lässt er sich naturalisieren, aber er hört nie auf, ein Deutscher zu sein, und er arbeitet unaufhörlich im Interesse seines Landes.’ - Nach diesem Berichte klingt die Sache einfacher, als sie in der Tat sich vollzogen hat. Die Deutschen, die nach dem Kriege nach Belgien gekommen sind, haben ihre vielfach jetzt glänzenden Positionen in erster Linie ihrer rastlosen Arbeitskraft, ihrem Unternehmungsgeist, vor dem alles zurückwich, und ihrem Ernst, der sie auf dem Gipfel nicht übermütig und schlaff macht, zu verdanken. Die Politik, die Frankreich durch den grossen Krieg in seine Grenzen zurückgewiesen
hat, hat nicht allein gesprochen, im Stillen hat sich der Kampf hier auf neutralem Boden auf dem Gebiete des Handels fortgesetzt, und wenn auch in Belgien Frankreich vor Deutsch
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land weichen musste, so mag auch hier eine korrigierende Geschichtsschreibung die eigenen Fehler und Versäumnisse streichen, um sie dem Gegner zur Last zu legen - der unbestrittene Erfolg und die unbedingte Hochachtung vor deutschem Fleiss, deutscher Energie und deutscher Tüchtigkeit reden eine zu deutliche Sprache, als dass sie ungehört zwischen dem Stimmengewirr französischer Blätter nicht vernommen würde.
Es ist nur klug von Frankreich, von einem neuen Kampfe auf diesem einst heiss umstrittenen Boden abzusehen. Ob aber die Idee Baudins, Dünkirchen zu dem zu machen, was Antwerpen heute unter den Häfen der Welt bedeutet, durchführbar ist, ist sicher stark zu bezweifeln. Von vornherein aussichtslos muss aber jeder Versuch gekennzeichnet werden, der darauf abzielt, das vlamische Antwerpen zu Frankreichs Vorteil zu schwächen. Selbst die französisch gesinnten Belgier sind sich darüber klar, und in einem bemerkenswerten Schreiben - wenn wir nicht irre gehen, dem eines Mitgliedes der französischen Kolonie Antwerpens an Baudin, - das teilweise in der Sonntagsnummer von 29. November im Journal abgedruckt wurde, fordert dieser den alten Minister auf, auf sein geradezu tollkühnes Unternehmen (‘folle entreprise’) zu verzichten. Dazu fehlt in erster Linie Dünkirchen die vorzügliche, natürliche Beschaffenheit. Antwerpen mit seiner tiefgehenden Schelde, seinen mustergültigen Hafenanlagen, mit seinen festen Schiffahrtslinien und seiner für den Eisenbahnverkehr nach Frankreich, Holland und Deutschland geradezu idealen Lage wild diesem Kampf in Ruhe zusehen; und sollte es wirklich gelingen, Dünkirchens Hafen mit enormem Kostenaufwand ähnlich so auszugestalten, wie Antwerpen, es zum Endpunkt wichtiger Eisenbahnlinien zu machen: der deutsche, holländische und englische Handel würde sich doch nicht nach Frankreich ziehen lassen. Das kleine Belgien, das an schiffbaren Wasserstrassen
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ein Netz von 2180 Kilometer, d.i. 74 Meter per Quadratmeile; besitzt, das im Jahre 1901 einen Eingang von 8569 und einen Ausgang von 8613 Segel- und Dampfschiffen hatte, muss für Deutschland wegen seiner bequemen Lage, seiner vorzüglichen Verbindungen und seiner mustergültigen Vertretung im Lande selbst das bleiben, was es augenblicklich ist. Und das liegt ganz besonders im Interesse des vlamischen Teils Belgiens, der von der französischen Bevölkerung national bedrängt wird.
In Frankreich selbst scheint man auch wenig Neigung zu haben, die Ideen Baudins zu verwirklichen; bedeutungsvoll für uns sind sie, weil sie die französischen Gedanken über das Deutschtum in Belgien rückhaltos wiedergeben. Sie gestehen einen vollkommenen Sieg des deutschen Handels über den französischen zu, aber in diesem Zugeständnis liegt der wirksamste Agitationsstoff, der in die an und für sich nicht deutschfreundlichen französischen Belgier hineingetragen werden kann. Die andere Seite wird freilich verschwiegen, und auf die Frage, was Belgien von Deutschland hat, antworten die französischen Blätter nicht. Belgien kommt bei dem augenblicklichen Stande der Handelsbeziehungen wirklich nicht schlecht weg; seine Ausfuhr nach Deutschland übertrifft augenblicklich die deutsche Einfuhr um nicht weniger als 38 pCt. (415,3 Mill, gegen 299,9 Mill. Frcs.), ganz abgesehen davon, dass nahezu zwei Milliarden Kilogramm deutscher oder für Deutschland bestimmter Waren durch Belgien gehen und den belgischen Eisenbahnen und dem Speditionsgeschäft reichen Gewinn zuführen. Und auch die massgebenden Kreise scheinen eine andere Ansicht über die Gefahren der invasion allemande zu haben, als sie uns gemeiniglich aus den französischen Urteilen und der hiesigen, französisch gesinnten Presse entgegentritt. Noch vor kurzem zeigte die Regierung bei dem projektierten Neubau der direkten Eisenbahnverbindung Antwerpen - Aachen Deutschland gegen- | |
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über das weitgehendste Entgegenkommen, und neuerdings verlautete, sogar von der bestimmten Absicht, nach Ablauf des augenblicklichen, englischen Pachtvertrages (1904) wegen des regelmässigen Schiffsverkehrs mit dem Kongo mit deutschen Gesellschaften in Verbindung zu treten.
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