Germania. Jaargang 5
(1902-1903)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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nächst zu einer Anzahl OrtschaftenGa naar eindnoot1, die sich auf dem Dünenzuge rechts der Weser im Laufe der Zeiten entwickelt haben. Die Wohnstätten und Strassen in diesen Dörfern deren ehrwürdiges Alter durch altgermanische Gräberfunde sichergestellt wirdGa naar eindnoot2, sind festgeschlossen und zusammengedrängt, die Feldmark ist zusammengewürfelt und besteht aus zahlreichen Gewannen mit unregelmässigen kleineren Ackerstücken. Wer in der vaterländischen Agrargeschichte Bescheid weiss, erkennt sofort dass er hier Niederlassungen ältesten deutschen Typs und sogenannte Gewannfluren vor sich hat. Blickte man alsdann nach Norden, Süden und Osten in das von der Wumme umflossene Marschland hinab so bot sich ein durchaus abweichendeGa naar eindnoot3 Bild dar: unendlich lange parallel laufende Ackerstreifen werden von Bauergehöften begrenzt, die ihrerseits sich eine gute viertel Meile hinziehend, ein Strassendorf bilden. Vier sogenannte Gote umschloss zu jener Zeit dieses Gebiet der freien Stadt Bremen, das Holler- und Blockland, das Werderland, das Nieder- und das Obervieland; hinzu kam noch das Gebiet Borgfeld. Von diesen BezirkenGa naar eindnoot4 interessirt uns hier vor allem das Hollerland, das seinerseits wieder in zwei Kirchspiele und eine ganze Reihe stattlicher Dörfer zerfällt; Osterfeld, Tenever, Ellen, Rockwinkel, Oberneuland, Horn, Lehe, Vahr, Sebaldsbrück und die Wetterung (Wetering) liegen hier dicht bei einander. Im Anfang unseres neuen Jahrhunderts hat sich freilich der Charakter der Gegend bereits längst von Grund aus geändert. Neben den Weide- und Feldkämpen, die von Eichen, Erlen und dichtem Unterholz umsäumt werden, lugen nunmehr an den anmuthigsten ein wenig höheren Stellen der Landschaft die Giebeldächer freundlicher Villen aus dem Grün hervor, die den wohlhabenden Kaufleuten der Hansestadt zur Sommerfrische dienen. Dass eben diese Stätte vor fast einem Jahrtausend der Schauplatz kühnen Ringens mit der Ge- | |
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walt der Elemente gewesen ist und dass grade hier ein Unternehmen durchgeführt wurde das in seinen Folgen von der weittragendsten Bedeutung werde sollte für unsere ganze nationale Entwicklung, das ist eine Thatsache, die wenigen bekannt, eigentlich jedem nationalempfindenden Deutschen geläufigGa naar eindnoot5 sein müsste. Welchen Stammes aber die wackeren Männer waren, die hier zuerst den Kampf mit Sumpf und Bruch aufnahmen, zeugt der Name Hollerland. | |
IEs war im Jahre 1106, da schloss Friedrich von Bremen und Hamburg, kurz zuvor von Kaiser Heinrich IV auf den erzbischöflichen Stuhl erhoben, mit sechs Fremdlingen jenen denkwürdigen Vertrag ab, der allein den Namen dieses friedliebenden und in den WirrenGa naar eindnoot6 jener Tage sich ängstlich zurückhaltenden Kirchenfürsten auf die Nachwelt gebracht hat. Wir Friedrich u.s.w.; so lautet in deutscher Uebersetzung, die Urkunde, wollen dass eine Abmachung, die einige Anwohner des Rheins, die Holländer genannt werden, mit uns getroffen haben, jedermann bekannt werde. Diese gingen unsere Hoheit mit dringender Bitte an, wir möchten ihnen eine in unserem Bisthum gelegene bisher wüste, sumpfige und unbrauchbare Landstrecke zum Anbau übergeben.... Hinsichtlich dieses AnliegensGa naar eindnoot7 ist festgesetzt, dass die Holländer uns von den einzelnen Hufen jener Fläche Jahr für Jahr je einen Pfennig geben. Die Ausmessung der Hufen haben wir, um zukünftigem Zwist vorzubeugenGa naar eindnoot8, hier niederschreiben lassen: sie sollen mit Einschluss der kleineren Gewässer eine Länge von 720 und eine Breite von 30 Königschnitten haben. Die Kolonisten verpflichten sich ferner zur EntrichtungGa naar eindnoot9 eines Zehnten von Lämmern und Schweinen, von Ziegen und Gänsen, von Honig und Flachs; von den Feldfrüchten soll die elfte Gar- | |
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be, von jedem Füllen und jedem Kalb soll statt des Zehnten ein Pfennig oder ein Heller gezahlt werden. Damit aber die Ansiedler kein Unrecht van Fremden erleiden, wird ihnen gegen Zahlung von jährlich zwei Mark von jedem Hundert Hufen erlaubt, die gewöhnlichen Streitigkeiten unter sich zu begleichen. Zum Hochgericht jedoch und zu Zwistigkeiten die sie selbst nicht zu entscheiden vermögen, sollen sie den Bischof als Richter zu sich holen, ihn während seines Aufenthalts verpflegen und ihm den dritten Theil der Gerichtsposteln überweisenGa naar eindnoot10.
Die übrigen Bestimmungen des Vertrags betreffen die kirchlichen Verhältnisse der Kolonisten. Es wird ihnen das Recht zugestanden, in ihrem Bezirk nach Belieben Kirchen anzulegen, die mit einer Hufe Landes und einem Teil der dem Bischof schuldigen Zehnten auszustatten sindGa naar eindnoot11. So viele ihrer auch errichtet werden mögen, sie sollen alle dem Priester Heinrich, der wohl eine Führerrolle den fünf anderen Kolonisten gegenüber einnimmt, als Beneficium auf Lebenszeit, übertragen werden. Die geistliche Gerichtsbarkeit endlich soll nach den allgemeinen kanonischen Vorschriften und nach dem besonderen Brauche der Diözese Utrecht gehandhabt werden. Auf diese Weise erfährt man wenigstens aus dieser sonst so schweigsamen und nur das Notwendigste feststellenden Urkunde die engere Heimat der niederländischen AbwandererGa naar eindnoot12.
Wie schon angedeutet steht dieser Vertrag in der inneren Geschichte unseres Vaterlands insofern einzig da, als er die unendliche Reihe von Kolonisationsverträge eröffnet, die seitens der nord- und mitteldeutschen Machthaber mit holländischen und vlamischen Siedlern im Laufe vieler Jahrhunderte abgeschlossen worden sind. Von Erzbischof Friedrich der den Parteikämpfen jener Zeit fern blieb, berichten die Chroniken nur wenig und man hat daraus folgernGa naar eindnoot13 wollen, dass er eine gar unbedeu- | |
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tende Persönlichkeit gewesen sein müsseGa naar voetnoot(1). Vergleicht man indessen den Inhalt unserer Abmachung mit dem einzigen verwandten Niederlassungsvertrage aus eben jener Epoche, so wird klar, dass der Bremen-Hamburgische Kirchenfürst ein eben so weites Herz wie einen weiten Blick gehabt hat. In diesem undatirten AbkommenGa naar eindnoot14 das Bischof Uda von Hildesheim (1079 bis 1114), der im Gegensatz zu Friedrich nur allzusehr in die politischen Kämpfe seiner Zeit verwickelt war, mit gewissen Fremdlingen aus Flandern trifft, werden nach Art einer alten Gerichtsordnung alle möglichen und unmöglichen Uebertretungsfälle mit den dazu gehörigen Bussen aufgetischt. Im Uebrigen erhalten auch diese Landflüchtigen, die froh gewesen sein werden, überhaupt eine Heimath wiedergewonnen zu haben, an dem durch Rodung nutzbar zu machenden Land erbliches ZinsrechtGa naar eindnoot15. Auch sonst werden ihnen mancherlei Vergünstigungen in Bezug auf Fischfang, Jacht, und Nutzung der gemeinen Waldmark zugebilligtGa naar eindnoot16: indessen stehen sie hinsichtlich des Umfangs dieser Berechtigungen durchaus hinter den hörigen Leuten der Kirche zurück. Wie diese sind aber auch die Kolonisten unliebsamen AbgabenGa naar eindnoot17 unterworfen, die nach der Anschauung der Zeit der vollen Freiheit abträglich waren. So hat der Bischof beim Ableben eines Ansiedlers die Wahl zwischen dem besten Haupt unter dem Vieh, dem besten Gewande oder einem sonstigen Werthstück der Hinterlassenschaft. Wenn endlich der Grundherr auch dem neuen Gatten der Witwe anstandslos die Hufe des Verstorbenen übergeben will, so fordert er doch für seinen Schultheiss bei etwaiger Veräusserung des Rodelands von dem bisherigen Besitzer ein Abzugsgeld. Bei der Beurtheilung der Bestimmungen, unter denen diese Vlamen sich in Eschershausen bei Stadtoldendorf im Braun- | |
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schweigischen niederliessen, wird man, wie schon angedeutet berücksichtigenGa naar eindnoot18 müssen, dass es sich um die SesshaftmachungGa naar eindnoot19 landfremder und, wie man annehmen muss, ziemlich mittelloser Leute handelt; gleichwohl aber leidet es keinen Zweifel dass die so ganz andere, man möchte sagen modernere Auffassung in dem Bremer Vertrage vom Jahre 1106 nur darauf zurückgeführt werden kann, dass beide Theile, fünf Holländer aus Utrecht mit ihrem geistlichen Führer auf der einen, Erzbischof Friedrich und seine Berather auf der anderen Seite, mit grossem und freiem Blick einzig und allein die Hauptsache, die Cultivirung jener bis dahin völlig unwirthlichen Morastflächen ins Auge gefasst hatten. | |
IIObwohl also so manche Fragen, die zu jener Zeit im Vordergrund allgemeinen Interesses standen, bei der Inangriffnahme der Urbarmachung der Weserniederung nicht zum Austrag gebracht wurden, gedieh die neue Kolonie auf das Beste. Den scharfsinnigen Untersuchungen unseres hervorragendsten deutschen Agrarhistorikers, August Meitzens, verdanken wir mancherlei Aufschlüsse über die Besonderheiten dieser AnlageGa naar voetnoot(1). Was zunächst den Umfang der Hufe anbelangt, die jedem Kolonisten zugemessen werden sollte, so stellt er sich auf die stattliche Fläche von nicht ganz 48 HektarGa naar voetnoot(2). Nach der übereinstimmenden Ansicht aller Forscher ist wohl die bereits im Eingang erwähnten nordöstlich von Bremen gelegene Ortschaft Vahr diejenige, die zuerst nach der Abmachung vom Jahre | |
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1106 gegründet wurde. Wie viele Ansiedler sich damals oder in der Folge in einem dieser neuen Marschdörfer niedergelassen haben, wird nirgends in den Verträgen angegeben. Die fünf Holländer, die mit Erzbischof Friedrich abschlossen, wird man jedenfalls nicht als gewöhnliche Kolonisten sondern als Unternehmer ansprechenGa naar eindnoot20 müssen, die etwa nach Art der späteren Lokatoren oder Feldschultzen die Anlage der einzelnen SiedelungenGa naar eindnoot21 in die Hand nahmen. Ob es freilich möglich wurde gleich Hunderte von Hufen zu cultiviren, wie man beim Abschluss des Vertrags gehofft hatte, ist mehr wie zweifelhaft. Sogar die Grenzen der Feldmark von Vahr haben sich nicht mehr ganz genau bestimmen lassen. Immermehr handelt es da sich nur um geringe Fehlermöglichkeiten, so dass man mit ziemlicher Sicherheit annehmen darf, dass im Jahre 1106 sofort dreizehn holländische Kolonisten sich dort niedergelassen haben. Neben dieser Ortschaft tritt aber noch eine andere in dem Hollerland, das schon 1198 Hollandria genannt wird, bedeutsam hervor. Zwischen Vahr und dem Blockland ist das Kirchdorf Horn ausgebreitet, das seiner centralen Lage nach, der ‘von ihm ausgehenden Ackervertheilung und des dort mündenden Entwässerungssystems wegen’ den ältesten Siedelungen hinzuzuzählen ist. (Vergl. Schumacher im Bremischen Jahrbuch Bd. 3 (1868) S. 207). Wie dem aber auch sei die ersten Jahrzehnten der niederländischen Kolonien sind in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt, erst ein Menschenalter später setzen wieder positive Nachrichten ein. In einer Urkunde von 1159 wird der Beschwerden der Bürger von Bremen gedacht, die eine Beschränkung ihrer Vieweiden befürchtenGa naar eindnoot22, well rings um die Stadt alle Bruchländereien zum Ackerbau hergerichtet würden. Zumal die heimischen Gelehrten haben an der Hand der Ueberheferung auf Grund ihrer Kenntnis der Oertlichkeiten das Fortschreiten des Kolonisations- | |
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werkes im Einzelnen nach zuweisen gesucht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden schon um 1142 auch die Marschen links der Weser, von der Gust bis zur Ochtene von niederländischen Einwanderern kolonisirt. Fortan schritt die Kultivirung ziemlich gleichmässig auf beiden Ufern des Stroms vor, bis ungefähr nach einem Jahrhundert das gesammte Marschland der Weser eingedeicht und mit Entwässerungsgräben versehen war. Dass bei dieser stätig wachsenden AusdehnungGa naar eindnoot23 der Marschkolonien die wenigen programmartigen Abmachungen des ersten Vertrages nicht ausreichtenGa naar eindnoot24 um die Rechten und Pflichten der neuen Unterthanen der Herrschaft gegenüber hinlänglichGa naar eindnoot25 genau zu umgrenzen, liegt auf der Hand. Es werden daher in den neuen Verträgen die alten Satzungen nur beiläufig erwähnt, während die immerwiederkehrenden Fragen des Besitzrechts und der persönlichen Freiheit nunmehr fester geregelt werden. Aber auch sonst wird unsere Kenntniss vom Leben und Sein der älteren Siedler in dem einen oder dem anderen Punkte auf das Erwünschteste erweitert. In die Reihen der Niederländer deren persönlichen Stand, wofern sie erst einmal im Lande waren, niemand genauer untersucht haben wird scheinen sich damals schon Hörige oder wenigstens nicht vollfreie Elemente der engeren und weiteren Umgegend nicht selten geschlichen zu haben. Und schon zeigt sich die befreiende Kraft des grossen neuen Kulturwerkes: Freie und Unfreie zahlten Jahr für Jahr denselben geringen Pfennigzins, der nur das Obereigentumsrecht des Erzbischofs zum Ausdruck bringen soll. Was aber die Hauptsache ist Hörige und Nichthörige erwerben durch ihrer Hände Arbeit dasselbe erbliche Anrecht an der ihnen überwiesenen Hufe; da wird der in dem zeitlich zweiten Vertrage (von 1142) vorgesehene Fall, dass ein Kolonist sein Werk - das dann an den Grundhern zurückkommt - verlässt und sich irgend wem zum Hörigen giebt, in Wirklichkeit sich wohl nur selten ereignet haben. | |
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Wohl aber mag es hier und da geschehen sein, dass ein Unfreier, der sich fälschlich als frei ausgegeben hatte, alsbald von seinem Herrn zurückverlangt wurde. Wenn endlich die Verheirathung eines unfreien Mannes mit der unfreien Erau eines anderen Herrn den Verlust des Gutes für die Kinder herbeiführt, so ist diese harteGa naar eindnoot26 Bestimmung keineswegs ein Ausfluss veralteten Standesvorurtheils, vielmehr ist sie offenbar dem Bestreben entsprungen der Einmischung fremder Gewaltherren in die Kolonistengemeinden unter allen Umständen einen RiegelGa naar eindnoot27 vorzuschieben. Es ist daher sehr leicht möglich, dass gerade jene SatzungGa naar eindnoot28 den besonderen Wünschen der ausländischen Kolonisten entsprach. Denn schon begannen diese Werth darauf zu legen, dass bei jeder neuen Gründung sofort einer oder zwei von ihnen zu erblichen Richtern oder Schultzen bestellt wurden. So bedeuten die neuen ZügeGa naar eindnoot29 die sich in den wenigen Verträgen finden, die aus dem zwölften Jahrhundert auf die Nachwelt gekommen sind, nicht UmgestaltungenGa naar eindnoot30 sondern nur ErgänzungenGa naar eindnoot31 der Abmachungen, die seiner Zeit Erzbischof Friedrich mit den Männern aus der Diözese Utrecht eingegangenGa naar eindnoot32 war. | |
IIIWie die erste niederländischen Ansiedlungen an dem unteren Lauf der Weser sehr bald nach ihrer Entstehung die Beachtung und Bewunderung der Norddeutschen Fürsten und sogar Friedrich Barbarossas erregtenGa naar eindnoot33, so blieb ihnen auch die langen Jahrhunderte hindurch die Aufmerksamkeit der Gelehrten zugewandt. Noch heute beschäftigen sich die Schilderer von Land und Leuten in den Marschen mit Vorliebe mit dem Blocklande und seinen Bewohnern. So hat der durch die glücklichste Gabe populärer Darstellung ausgezeichnete Geograph Kohl beschrieben, wie er an einem lieblichen Junimorgen durch die Thore der | |
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alten Hansestadt Bremen gepilgert sei, um diesen stillen Erdenwinkel aufzusuchen. Ein Schiffer alten Schlages habe ihn aufgenommen. Zwischen Kräutern und Blumen der Wiesen gleitet dann das Boot auf dem langgestreckten Kanal dahin. Kleine Fahrzeuge aus dem Blockland kommen ihm entgegen, sie bringen Fische und Geflügel zu Markt oder führen Torf und andere Produkte aus den Haide- und Moorgegenden heran. Zierliche Libellen umtanzen den Reisenden, während Kibitze, Meerschwalben und andere Sumpf- und Wasservögel ihr pfeifendes Geschrei ertönen lassen. Das von uns im Eingang bereits erwähnte dem Blockland benachbarte Viehland hat Allmers in seinem mit Recht so geschätzten Marschenbuch in seiner Eigenart charakterisirt. Von dem Hollerland berichten die Chronisten früherer Zeit mit einer Art von Ehrfurcht, indem sie dabei des Hollerrechts gedenken das ihnen als Inbegriff weitgehender bürgerlicher Freiheit gilt. Das Kolonialland endlich auf dem linken Weserufer, der Sitz der Stedinger, ist von dem Geschichtsschreiber dieses unglücklichen Kolonistenvölkchem mit peinlicher Sorgfalt geschildert worden. Eben dieser Gelehrte, H.A. Schumacher, hat auch ein Bild von dem Zustand entworfen, in dem sich die Uferlande der Weser befanden, bevor das Streitbare Bauerngeschlecht der Stedinger dort seinen Einzug hielt. Mögen die Sümpfe der weiten Flussniederung aber auch noch so ausgedehntGa naar eindnoot34 und unergründlich gewesen sein, mögen Erlen und Röhricht ein noch so undurchdringliches Dickicht gebildet haben schon Erzbischof Adalbert, der hochstrebende, weitblickende, glänzende und in seinen Unternehmungen so unglückliche Kirchenfürst hatte vorahnendenGa naar eindnoot35 Geistes erkannt, dass diese Einöden werthlos seien. Daher ruhte er nicht eher, als bis Kaiser Heinrich IV ihm (1062) das Bruchland in weitem Bogen um seine bremische Residenz zusprach. Neben zwei Inseln im Weser- | |
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delta sind es nicht weniger wie sechs Brüche, die sammt und sonderGa naar eindnoot36 bei Namen aufgeführtGa naar eindnoot37 werden. Adalberts vertrauter Chronist bezeichnet als sein Ideal den Bereich seines Erzstifts frei zu machen von der Gewalt des Herzogs in Sachsen, der seinerseits eifrig darauf bedacht war, eine Macht die in Sachsen seit der Königswahl Heinrichs des Voglers erlöschen war, zu neuer Bedeutung zu erheben. Unwillkührlich fragt man sich, ob er, der den Bischof von Würzburg um seine durch keine Selbstherrlichkeit geschmälertesGa naar eindnoot38 Stammesherzogtum, beneidete, nicht auch von der folgenschweren Entwicklung Kunde gehabt habe, die sich in den Niederlanden seit Beginn des elften Jahrhunderts zu vollziehenGa naar eindnoot39 begann. Freilich fliessen in der Heimath jener. Männer die nacher mit seinem Nachfolger Friedrich I. verhandelten, die Nachrichten über die Trockenlegung der SumpfniederungenGa naar eindnoot40 äusserst spärlich. Weder aus Holland noch aus Flandern ist aus jener Frühzeit ein dem Vertrag vom Jahre 1106 entsprechendesGa naar eindnoot41 Dokument aut uns gekommen. Namentlich für die nördlichen Niederlande versagt die Ueberlieferung völlig, nur einige ganz wenige Urkunden lassen erkennen, dass man dort schon im 11. Jahrhundert mit der Urbarmachung von Mooren und mit Deichbau vorgegangen war. Etwas besser ist man über Flandern unterrichtet, dass dort schon im Anfang des 11. Jahrhunderts solche Kulturaufgaben in Angriff genommen seien. So weiss man von Graf Balduin V. von Flandern, der nach langer ruhmreicher Regierung 1070 starb, dass er von Erzbischof Gervasius deswegen beglückwünscht wurde, weil er Gegenden die bis dahin vollkommen ertraglosGa naar eindnoot42 gewesen, in fruchtbare und von kostbaren HerdenGa naar eindnoot43 bevölkerte Landstriche verwandelt habe. Auch hier zeigte sich die befreiende Macht, die das Meer auf seine Anwohner ausübt. Die vlamischen Pioniere, die in harter Arbeit die Entwässerungskanäle anlegten, die Deiche unterhielten und gegen die Fluthe | |
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schützten sowie das mühsam gewonnene Neuland bestellten, wurden nur mit geringen Abgaben und mit keinerlei hörigkeitlichen DienstenGa naar eindnoot44 behelligt. Wenn man aber auch aus Flandern keine Einzelheiten erfährtGa naar eindnoot45, so kann man doch annehmen dass dort schon im 11. Jahrhundert fest organisirte Genossenschaften von Kolonisten bestanden, die unter der Führung von Moormeistern und Deichgrafen - wie sie einige Menschenalter später in den Urkunden auftauchenGa naar eindnoot46 - den Kampf gegen das Meer und seine Zuflusströme wagten. Bei der Zumessung der zu cultivirenden Flächen aber an den einzelnen Kolonisten verfuhr man hier nach dem Vorbild der alten deutschen Könige die für mühselige Rodungen im wilden Forst bei besonderem Anlass ein ungewöhnliches wahrhaft königliches den Durchschnitt der alten germanischen Volkshufe verdreifachendes Maass anzuwenden pflegten. Diesen Königshufen deren Umfang ungefähr 47-50 Hektar betrug, begegnen wir seit dem neunten Jahrhundert in Mitteldeutschland, in den südöstlichen Marken des Reichs aber auch in den den Niederlanden benachbarten Ardennen. Wie bei den Rodungen des Kohlenwaldes in Brabant so übertrug man erst recht in Flandern und Holland auf das Kulturwerk in Moor, Venn und an der Meerküste dieses Maass, das, wie wir bereits wissen zugleich mit den Holländern aus dem Utrechtschen bis zum Mündungsgebiet der Weser vordrang. Aber abgesehen von dem Ideal der Marschhufe brachten die Niederländer auch ihre sonstigen Anschauungen über Recht und Freiheit sowie über die Vortheile mit, die ihnen aus ihrer Qualitätsarbeit erwachsen mussten. Der Bremer Kirchenfürst dachte frei und unbefangen genug, um auf alle ihre Vorschläge, Wünsche und Anschauungen einzugehen. So entstanden jene Musterkolonien, deren Art uns schon bekannt ist. Wie später den Ruhm der Deicharbeiten und Kanalbauten in Flandern bis nach Italien gelangte und Dantes staunen erregte, so verbreitete sich alsbald die Kunde von | |
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der Trockenlegung der Wesersümpfe weit über ganz Nord- und Mitteldeutschland. Hunderte von Kolonien wurden alsogleich nach dem Muster der bremischen angelegt: damit aber nicht genug, die Holländersiedelungen geben dem Vorwärtsdrängen der lang angestauten deutschen Volkskraft, die eben damals Anstalten trafGa naar eindnoot47, sich planvoll in den ungeheuren Bereich der ostelbischen Slavenwelt zu ergiessen, den entscheidenden Anstoss. So fällt den Niederländern ein reicher Antheil zu an der wahren Grossthat unserer Nation im Mittelalter. Wie sie dann bei der Germanisirung Ostdeutschlands im Einzelnen mitgewirkt haben, in Mooren und im Haideland stets die schwerste Arbeit für sich heischend, darauf wird in der Folge noch manchmal in dieser Zeitschrift zurückgekommen werden, deren schöne Aufgabe es ja ist, der culturellen Annäherung zwischen uns und unseren niederdeutschen Stammesgenossen an Rhein, Maas und Schelde das Wort zu reden. |
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