Germania. Jaargang 5
(1902-1903)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermdDie klassische Periode der niederländischen Literatur
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schon im Geiste der neuen Zeit. Wie Pol de Mont studierte auch er die deutschen Dichter, und man findet tatsächlich Einflüsse dieser bei ihm, doch in viel geringerem Masse als bei Pol de Mont. Dieser eigenartige Jüngling hatte seinen Stil schon gefunden, wenn andere noch nach ihrem Ich im Dunkeln tasten. Er schrieb ganz persönlich. Darum ist er auch niederländischer als Pol de Mont. Man wird von manchen seiner Sonette geradezuGa naar eindnoot2 an die alten holländischen Meister erinnert, an den kräftigen Bauernbreughel, an Teniers, Ostade, auch wohl an den feineren Mieris. Man lese nur das Sonett ‘Dorftanz’: Die Fiedel singt, wo Wein und Rosenranken
Verliebt das Bauernhaus umschlingen, ganz
In Glut getaucht vom Abendpurpurglanz.
Von Tisch und Bänken, die, entlastet, schwanken,
Steh'n alle auf (sie assen da und tranken),
Zehn Paare, froher Jugend munt'rer Kranz;
Die flinken Füsse reihen sich zum Tanz
Der Arm legt um die Hüften sich, die schlanken.
Sie tripplen nach dem Takt und stampfen gut,
Wobei die Gläser aneinanderklingen,
Und fröhlich in die Wangen steigt das Blut.
Der Alte auf der Schwelle blickt ins Fest,
Sein Auge leuchtet bei der Paare Schwingen,
Zufrieden, dass er lebt und leben lässt.
Die ersten vier Zeilen seiner Sonette sind schon Meisterstücke aussergewöhnlicher Schilderungskunst. Jacques Perk beobachtetGa naar eindnoot3 mit scharfem Auge alle die VorgängeGa naar eindnoot4, an denen wir meist achtlos vorübergehen. Wohl jeder sah schon die ‘Kerben’ am Regenhimmel, aber noch kein Dichter hat, soviel mir bekannt, vor Perk weder in Versen noch in Prosa sie für seine Schilderung verwendet. Perk beginnt sein Sonett ‘Regentag’: | |
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Die Wölbung, deren rote Gluten blenden,
Ist rauh von starren Kerben grau und blass, -
Die weinen, weinen ohne Unterlass,
Weinen, bis hunderttausend Jahre enden.
In einem anderen Sonett schildert er die Nacht: Still! - Tausendaugig spiegelt sich die Nacht
Im Meer und lässt ihr bleiches Leuchten beben
Und ibre glühendvveissen Schimmer schweben
Hernieder auf des Meeres Klippenwacht.
Als drittes Beispiel führe ich die ersten Zeilen des Sonettes ‘Das Lied des Sturmes’ an: Der Wind, der mächtig alle Kronen schwingt.
Weht seufzend durch der Fichten Zweiggefieder
Und streut manch schweren Schuppenzapfen nieder,
Der übers dürre Nadelwirricht springt.
In allen diesen Strophen ist kein Wort überflüssig; man könnte sie, losgelöst von den übrigen Strophen des Sonetts, mit jenen japanischen Utas vergleichen, die in einunddreissig SilbenGa naar eindnoot5 ein ganzes Landschaftsbild geben. In den Niederlanden fielen Jacques Perks Gedichte durch ihre Kürze ganz besonders auf. Man war gewöhnt, alle Vorgänge, auch die kleinsten, in breitspurigerGa naar eindnoot6 BiedermeierartGa naar eindnoot7 zu bedichten; nun kam ein junger Poet, der nicht mehr Worte machte, als unbedingt nötig war. Es ist wohl möglich, dass Jacques Perks Sonetten-Dichtung die in der deutschen Literatur nunmehr so wenig geachtete und gepflegte Form so beliebt machte, dass ausser Herman Gorter jeder Dichter sich ihrer zu vielen seiner Schöpfungen bediente. Die Sonetten-Dichtung der Holländer dieser Zeit ist eine so bedeutende, dass sie jener der Italiener zu Dantes Zeiten, jener der Engländer zu Shakespeares Zeit und jener der französischen Plejade, deren Häupter Ronsard und Du Bellay grosse Sonetten- | |
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zyklen schufen, wohl an die Seite gestellt werden kann, wenn auch nicht der Zahl nach, so doch dem Werte nach. Dabei ist die holländische Sonettendichtung viel individueller als jene der Italiener, Engländer und Franzosen, unter deren Vertretern nur Dante und Shakespeare scharf umgrenzte Dichterpersönlichkeiten sind. Jacques Perk starb zu früh, um mehr sein zu können als ein Pfadbereiter; er gelangteGa naar eindnoot8 nicht zur vollen EntfaltungGa naar eindnoot9. So Schön und vollendet seine Gedichte sind, man muss doch immer daran denken, wieviel noch Schöneres er seinem Volke hätte geben können, wenn er die eigentliche Bewegung von 1885 erlebt hätte.
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Neben Pol de Mont und Jacques Perk muss Helene Swarth (geb. 1859) genannt werden. Auch sie bereitete die neue Literaturepoche vor, aber sie nahm auch in ihr selbst eine hervorragende Stelle ein. Helene Swarth ist die harmonischte Dichterpersönlichkeit der jungen Holländer. Ihre Sprache ist bewunderenswürdig. Wir haben in unserer um so viel reicheren Literatur nur weniges, das an sprachlicher Vollendung an ihre Schöpfungen heranreichtGa naar eindnoot10. Man erkennt, selbst wenn man ihren Werdegang nicht kennt, unschwer die französische Schulung. Nur in der französischen Sprache findet man diese feinziselierten Verse. Theophile Gautier und die Parnassianer identifizierten ja die Dichtkunst mit Wortkunst. Ihre SchülerinGa naar eindnoot11 ist Helene Swarth. Sie schrieb in der That erst französisch und veröffentlichte schon mit zwanzig Jahren eine Gedichtsammlung Fleurs du Rêve (Paris, 1879). Pol de Mont gewann sie durch seinen Enthusiasmus für ihre Muttersprache, die sie nun erst gründlich zu studieren begann. Sie war ganz französisch erzogenGa naar eindnoot12 worden. Wir haben in der neuesten deutschen Literatur eine ähnliche Erscheinung an Isabelle Kaiser, der Schweizer Dichte- | |
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rin, die auch anfangs französisch schrieb und erst allmählich alle Feinheiten der deutschen Sprache beherrschen lernen musste. Pol de Mont überwachte die Lektüre der jungen Dichterin und verwies sie namentlich auf die deutsche Literatur. In gleicher Weise lernte sie die englische Literatur kennen. Aber Helene Swarth ist viel zu selbständig, als dass man stärkere Beeinflussung durch einen ausländischen Dichter nachweisen könnte. Nur Lenaus schwermütige Naturschilderungen findet man bei Helene Swarth, ins holländische Land übertragen, wieder. Aber nicht in diesen weichen, zartfarbigenGa naar eindnoot13 Stimmungslandschaften hat sie ihr Bestes geboten, sondern in der Liebeslyrik. So wie sie, hatte vor ihr kein holländischer Dichter von Liebe gesungen, und sie sang nicht nur von Liebe, sondern aus Liebe. Alle ihre Gedichte sind erlebt, sind Gelegenheitsgedichte im Sinne Goethes. Ihr Herzensroman ist einfach. Der junge Dichter, den sie liebt, von dem sie sich geliebt wähnt, bietet ihr endlich - seine Freundschaft an. Nun verwandelt sich ihre Liebe in Hass, aber als der geliebte dann stirbt und sie sein Grab besucht, erkennt sie, dass auch ihr Hass Liebe war. Ihr Gefühl für ihn wird ein fast mütterliches, sie möchte ihn wieder warm wiegen in ihren Armen, ihn mit ihrem Kusse beleben. Charakteristisch für Helene Swarth ist, wie sie die Bilder der Bibel für ihre Lyrik verwendet. Sie erzieltGa naar eindnoot14 dadurch wunderbare Wirkungen, erweckt jenen SchauerGa naar eindnoot15, der Faust beim Klange der OsterglockenGa naar eindnoot16 ergreift. Ich übersetze eines dieser Lieder: Bei des Frühlingsmondes erstem Schein
Ging in die Fremde der Liebste mein.
Er hat gegessen das Liebesbrot,
Das der Meister den gläubigen Jüngern bot.
Er hat genommen den Wanderstab,
Den der leidende Christus ihnen gab.
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Sein Gewand war schneeig wie dessen Kleid,
Der neu sich dem Dienst der Mysterien weiht.
An Vater und Schwester, an Freund und Lieb
O dass er noch immer an sie nicht schrieb.
Dass kein Gruss aus der Ferne, kein Wort seiner Hand
Uns sagt, ob ihm wohl ist im Ewigen Land.
Echt fraulich in Helene Swarths Wesen ist, dass sie erst nach dem Tode des Geliebten all ihren Jubel, all ihren Schmerz zu gestehenGa naar eindnoot17 wagt. In der Erinnerung lebt sie noch einmal, was sie erlebte. Sie bekennt selbst: Nun sind mir alle die Erinnerungen
Eine beseelte Bildergalerie.
Und singen muss ich wie ich einst gesungen,
Geh'n meinem Fenster still vorüber sie.
Manchmal erreichen ihre Schmerzenslaute eine tragische Höhe, manchmal schmilzt ihre Seele ganz dahin in Wehmut. Sie singt immer wieder ein und dasselbe SchicksalGa naar eindnoot18, aber alle die ähnlichen Lieder werden zu einer grossen Sinfonie, die doch auch auf nur ein Hauptthema aufgebaut ist. Helene Swarth gehört zu jenen Dichtern, die mit Augen sehen, was sie sagen. Ihre Symbole sind plastisch, ja körperlich, ihre Worte schliessen sich stets zu einem klaren Bilde zusammen. So erfüllt sie alle die Forderungen, die von den Präraphaeliten, den Maler-Dichtern, an die wahre Poesie gestellt wurden. Wer daher ihre Sonette mit denen von Dante Gabriel Rossetti vergleicht - seine überaus berühmte Sonettenfolge ‘Das Haus des Lebens’, eines der Meisterwerke der englischen Literatur, liegt auch in deutscher Ausgabe vor (Eugen Diederichs 1900) - wird viele Parallelen finden, selbst eine ähnliche Terminologie. Auch hier kann von Beeinflussung nur insoweit die Rede sein, als der grosse | |
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Kulturstrom, der von England ausging, auch in Holland seine Spuren zurückliess. Bewusst oder unbewusst huldigen alle grossen holländischen Dichter jenen Kunstanschauungen, die in Ruskin, dem Aesthetiker, Dante Gabriel Rossetti, Burne-Jones und Walter Crane, den Malern, Dante Gabriel Rossetti und Algernon Charles Swinburne, den Dichtern, ihre HauptvertreterGa naar eindnoot19 fanden. Auch Goethe suchte stets plastischen Ausdruck, nicht anders Shakespeare und Dante vor ihm. Ja, Dante legte sogar das ästhetische Prinzip für das plastische Symbolisieren mit voller Klarheit dar. Man liesst im 25. Kapitel der Vita nuova: ‘Es konnte hier jemand irreGa naar eindnoot20 werden, der Aufklärung verdiente, dass ich von der Liebe spreche, als wenn sie ein Ding für sich wäre, nicht nur ein geistiges, sondern auch ein körperlichesGa naar eindnoot21 Wesen. Das ist an sich nicht der Wahrheit gemäss, da die Liebe kein selbständiges Wesen, sondern der Zustand eines Wesens ist. Dass ich von ihr spreche, als ob sie körperlich, ja als ob sie ein Mensch wäre, erhelltGa naar eindnoot22 aus drei Sachen, die ich von ihr sage. Ich sage, dass ich sie von ferne kommen sah; daraus, dass Kommen eine örtlicheGa naar eindnoot23 Bewegung ist (und einer örtlichen Bewegung ist, wie der Philosoph sagt, nur ein körper fähig), erhellt, dass ich die Liebe als körperlich darstelle. Ich sage auch von ihr, dass sie lachte und sprach, diese Lebensäusserungen, besonders das Lachen, sind speziell dem Menschen eigen; daraus erhellt, dass ich sie als Mensch darstelle.’ Aus diesen, in ihrer Form ein weinig scholastischen Sätzen erkennt man den Unterschied zwischen Symtolik und Allegorik. Dantes Amore ist nicht mit dem Amor der Lateiner zu identifizieren, wohl aber ist Rossettis und Swinburnes Love diesem ‘Amor’ Dantes nahe verwandt. Ebenso persönlich ist Helene Swarths ‘Liefde’. Ich gebe ein Beispiel: | |
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Ermordete Liebe
Dornengekrönt, von Mörderhand getötet,
Schläft meine Liebe nun den tiefsten Schlaf,
So bleich, so rührend schön, von Blut gerötet
Das Kleid, wo grimm das Schwert sie traf.
Tritt still zu ihrem Schmerz- und Sterbenspfühle,
Beug' über sie zum letztenmal Dich hier!
Ist nicht ihr Mündchen kalt wie Stein? O fühle!
Küss noch einmal die Hände ihr!
Leg' zwischen sie die Lilie hier, die Palme,
Streu' weisse Rosen auf ihr Kissen sacht!
Nimm Abscheid nicht von ihr mit einem Psalme,
Sag' ihr nur weinend Gutenacht!
O Lieb', wie schmerzt, wie schmerzt dies herbe Scheiden!
Wer schliesst die Laden? Sie die Hände dort!
Stütz' Dich auf mich, das stärkre von uns beiden,
Dann gehn wir still zusammen fort!
Nein, schluchz' nicht so! will Dir die Schuld nicht geben.
Ich kann nicht sagen, wer der Mörder war.
Die, Herz des Herzens mir, des Lebens Leben,
Ist nun dahin für immerdar.
In Helene Swarths beiden Sammelbänden ‘Poesie’ (1892) und ‘Verzen’ (1893) liest man wahre Meisterstücke weiblicher Lyrik. Eine Auswahl der schönsten Gedichte den deutschen Lesern vorzulegen, ist seit Jahren mein Wunsch. Eine grössere Anzahl von Gedichten Helene Swarths findet man bereits in meiner Anthologie ‘Die niederländische Lyrik von 1875 bis 1900’ (Leipzig, Verlag von Baumert u. Ronge), auf die ich auch in bezug auf Jacques Perk, Pol de Mont und die übrigen holländischen Dichter verweisen kann. Die in dieser Studie zitierten Stücke findet man jedoch mit wenigen Ausnahmen nicht in | |
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jenem Werke, sie erscheinen vielmehr hier zum erstenmal in ihrer Vedeutschung. |
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