Germania. Jaargang 5
(1902-1903)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermdDie deutsche und niederländische Dichtung im 16. und 17. Jahrhundert
| |
[pagina 31]
| |
BildnerGa naar eindnoot56 dieser Formen waren seit dem 15. Jahrhundert und im 16. Jahrhundert, sieht man von einzelnGa naar eindnoot57 stehenden dichterischen Talenten wie der Anna Bijns, oder Marnix von St. Aldegonde ab, zunächst und vor Allem die Rederijker, die Kamers van Rhetorica: bürgeruche Genossenschaften, die sich im Grunde zu Dichtung und Gesang ähnlichGa naar eindnoot58 stellten, wie die binnendeutschen Meistersängerschulen. Nur das bei ihnen, wie sie zunächst in Flandern vorkamen, das augenfreudige, repräsentative Wesen der Vlamen auf andere Ausdrucksformen hindrängte, als die in binnendeutschland gebräuchlichen. Diese Brüderschaften dichteten nicht blos, im Wesentlichen zur Uebung der Form, Sinnsprüche, Balladen, Refereinen; sie zogen auch in den grossen ProzessionenGa naar eindnoot59 einher, versammelten sich zu gemeinsamem WettstreitGa naar eindnoot60 in festlichem EinzugGa naar eindnoot61 und kamen so allmählich zur Krone ihrer Anstrebungen, zur Thätigkeit auf der Bühne. Freilich darf man bei ihren schauspielerischen Bestrebungen nicht an das moderne Drama denken. Selbst der binnendeutsche Schwank, den sie übrigens auch entwickelten und der so derbfröhlicheGa naar eindnoot62 Stücke aufzuweisen hatte, wie Everaerts Stout ende Onbescamt, war nicht das für sie eigentlich Charakteristische. Dies war vielmehr das Sinnspiel: ein erbaulicherGa naar eindnoot63 Dialog personifizirter und als Personen körperlich dargestellter Eigenschaften (Sinnekens) über irgend ein Thema moralischen oder religiösen Inhalts, eine ‘stichtelijke vermakelijkheit’ (frommes Vergnügen), wie es Hooft einmal genannt hat. So unterreden sich z. B. in dem Boom der schriftueren, der 1539 zu Middelburg aufgeführt wurde, die Medicijn der zielen, womit Christus gemeint war, mit Elc-Bijsonder, einer Frau im Nonnengewande, und neben ihnen tritt ausser anderen Figuren Menschelijke Leeringhe mit ihren Dienern Eyghen Wijsheit und Natuerlijcke Begheeren auf. In diesen Sinnsprüchen spricht sich gewiss ein uralter germanischer ZugGa naar eindnoot64 auf's Symbolische und Allegorische aus, der sich | |
[pagina 32]
| |
zur selben Zeit, nur minder auffällig, auch im inneren Deutschland beobachten lässtGa naar eindnoot65. Aber eine Zukunft hatten diese VeranstaltungenGa naar eindnoot66 nicht mehr. Und mit ihnen gingen zugleich, im Süden zudemGa naar eindnoot67 in der Freiheit ihrer religiös-moralischen Aussprache durch die Regierung bedrängt, die Kamers van Rhetorica ihrem Verfall entgegen; ihre letzte grosse Versammlung hat zu Antwerpen im Jahre 1561 stattgefunden. Es war urn die Zeit, da Vlamland überhaupt aus der entschiedeneren Entwicklung der niederländischen Dichtung, ja Litteratur so gut wie auszuscheidenGa naar eindnoot68 begann. Noch fünfundzwanzig Jahre, und man stand vor der VerödungGa naar eindnoot69 von Antwerpen; wie die kommerziellen so zogen sich die künstlerischen und geistigen Kräfte nach dem Norden, vor Allem nach Amsterdam zurück; selbst die Pflege der Sprache ging an den Norden über: der Schat der nederduytscher Spraken von 1573 und noch Kiliaans berühmtes Etymologicon theutonicae linguae von 1583 sind in der Plantin'schen Druckerei zu Antwerpen erschienen: der Kort begrip leerende recht Duidts spreken von 1584 ging aus Amsterdam hervor. Pflegerin der weiteren Entwicklung wurde im Norden zunächst in Anknüpfung an ältere Erscheinungen die Amsterdamer, erst im Jahre 1516 gegründete Rhetorikerkamer de Eglentieren (zum wilden Rosenbaum); ihr VorsteherGa naar eindnoot70 Roemer Visscher bildete einen Gesellschaftskreis, in dem sich Alles traf, was der reicheren Entfaltung vaterländischer Dichtung und reineren Denkens zustrebteGa naar eindnoot71, das ‘zaligh Roemers huis’, wie es Vondel einmal genannt hat. Und nun, in der zunehmend vergeistigten Atmosphäre einer reissendGa naar eindnoot72 zunehmenden Hauptstadt, kam es auf Grund der alten Rederijkerthätigkeit zu ganz neuen GestaltungenGa naar eindnoot73. An Stelle der alten blassen Allegorien trat, freilich erst im Laufe der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und schon durch klassische Einflüsse mitbedingtGa naar eindnoot74, ein ernstes kirchlich-politisches Dra- | |
[pagina 33]
| |
ma: eine Erscheinung ausserordentlicher Art,die erst mit dem politischen Verfall der Republik zu Grunde ging. Da hat Coster in seiner Iphigenia (1617) die Grausamkeit der orthodoxen Kirche gegeisselt, da Vondel in seinem Palamedes den Prinzen Moritz gegenüber der ‘ermordeten Unschuld’ Oldenbarnevelds angeklagt; hier durfte Vondel in seinen Leeuwendalers den Frieden von 1648 feiern und im Lucifer sogar seiner gepressten katholischen Seele Lult machen. Allein weit fruchtbarer entwickelte sich, aus einer Wurzel, welche die Rederijkers nur nebenherGa naar eindnoot75 gepflegt hatten, das einfache Drama und die Posse. Es war eine Bewegung, die etwa der binnendeutschen in den Zeiten Hans Sachsens entsprach, und wie dort, so schoss auch hier die Posse den Vogel ab. Auf diesem Gebiete haben Coster und Brederoo das Eigenste ihres Talentes entfaltetGa naar eindnoot76. Vor Allem nahm der joviale, liebesfrohe, schliesslich freilich als Melancholicus endende Brederoo diesen Weg; und sein Moortje (die Mohrin), eine Nachbildung des Plautinischen Eunuchus von ausgelassener Freiheit (1615), bezeichnet den Höhepunkt dieser Entwicklung, sowie sein Spaanscher Brabander (1617), jene prächtige Karikatur des Typus eines armseligen Brabanter Junkers, der in Amsterdam mit leerem Geldbeutel und schlechtem ‘Faseldeutsch’, aber unersättlichen Ansprüchen flüchtlingsweise lebt. Denn nach Brederoo und Coster sank die GattungGa naar eindnoot76a wieder gänzlich auf das Durchschnitts-niveau etwa der dialogischen SchwänkeGa naar eindnoot77 herab, das wir aus der binnendeutschen Entwicklung als Grundlage für das höhere Aufsteigen Hans Sachsens kennen. Grund hierfür war, dass inzwischen für die holländische Entwicklung ein Moment eingetreten war, das sich im inneren Deutschland bis dahin niemals mit vollster und erfolgreichsterGa naar eindnoot78 Energie geltend gemacht hatte: der Humanismus hatte auf die nationale Produktion zu wirken begonnen. | |
[pagina 34]
| |
Zum Verständnis dieser Wendung bedarf es einer näheren Charakteristik dessen, was auf nationalem Gebiete erreicht war. Da ist denn zunächst auch bei den besten Stücken eines Coster oder Brederoo der Zusammenhang mit der alten Kunst der Rederijker noch keineswegs unterbrochen. Die Personen sind in der Regel noch Marionetten; sie sprechen noch, wenn sie nicht Helden sind, in den alten, unbeholfenen Versen; von abgerundeter Handlung ist keine Rede, dagegen für grobe Effekte weidlichGa naar eindnoot79 gesorgt; das ganze ist noch mehr episch als dramatisch, und der lehrhafte Zweck tritt in grober Tendenz zu Tage. Aber daneben zeigen sich doch neue Züge. Der Geschmack ist zwar noch nicht geläutert, aber doch auf dem Wege zur Besserung; die Darstellung strebt aus dem DerbenGa naar eindnoot80 in's fröhlich Ausgelassene. Der Inhalt hat mehr persöhnlich liebenswürdigenGa naar eindnoot81 Geist. Im Einzelnen sind die Personen zwar nicht tief gezeichnet, aber doch scharf, nicht selten noch karikaturenmässig umrissenGa naar eindnoot82; dazu kommen in der Führung der Handlung mehr lustspielmässige als possenhalte Neigungen, vor Allem wird die Situationskomik gelegentlich schon durch Charakterkomik ersetzt. Freilich: die Technik des psychologischen Dramas auch nur in seinen entscheidendenGa naar eindnoot83. Anfängen ist noch keineswegs erreicht. Die Stücke bilden noch, wie bei Hans Sachs, eine Gruppe von Scenen, nicht einen geschlossenen Ring zusammenhängender Handlung; und die Personen charakterisiren sich noch weniger von innen heraus, als dass sie durch äusserliche Mittel andeuten, was sie thun und leiden. Demgegenüber war nun in Holland gerade seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts steigende Gelegenheit gegeben gewesen, die ganz anderen Ideale der Alten, sei es in den psychologischen Meisterwerken eines Sophokles, sei es nur in den bluttriefenden und massiven Dramen des sogenannten Seneca, auf sich wirken zu lassen. Und diese Gelegenheit bot sich nicht | |
[pagina 35]
| |
von Weitem, wie im inneren Deutschland, denn der hölländische Humanismus war weit davon entfernt, zur Philologie verknöchertGa naar eindnoot84 und den nationalen Strömungen fern getreten zu sein. Vielmehr der Nation auf's Entscheidenste nahe tretend durchdrang er damals die weitesten SchichtenGa naar eindnoot85 auch der Massen, wie er staatlich im höchsten Grade gepflegt ward: die Amsterdamer Lateinschulen zählten zu Vondels Zeiten nicht weniger als sechshundert Schüler; Jedermann lass lateinische Schriftsteller, alte wie neue; Vondel glaubte noch um 1650 versichern zu müssen, dass es keine Schande sei, in der Muttersprache zu dichten; und die Philologen Leidens empfingen von Staat und Volk fast fürstliche Ehren. So wurde es möglich, dass sich, während Adel und oranischer Hof mindestens theilweis der französischen Bildung anheimzufallenGa naar eindnoot86 begannen, hier an den Gestaden der Nordsee eine obere Schicht des Bürgerthums als Träger einer ernsten grossen, nationalen Renaissancedichtung jenseits der Alpen zu bilden begann. Und diese Schicht war nur wenig von derjenigen verschieden, die bisher trägerin der nationalen Dichtung gewesen war. Roemer Visscher, der 1620 starb, hat sich den Renaissancebestrebungen keineswegs ablehnendGa naar eindnoot87 gegenübergestellt, wenn auch sein Nachfolger in der gesellschaftlichen Vereinigung der litterarischen Kreise, der hochgebildete und vornehme Muidener Drost Hooft, der Berührung mit den eigentlich gelehrten Zirkeln noch viel näher trat; und die Dichter der Renaissance selbst sind nicht minder wie Coster oder Brederoo rein bürgerlichen Charakters gewesen; Krul war wohl Schmied, De Decker Krämer, Vos Glaser, Vondel Strumpfhändler. Neu war nur, dass diesen Kreisen nunmehr über ihre altnationale dichterische Technik hinaus die Technik, und mit ihr auch ein Schimmer der höchsten dichterischen Auffassungsweise des Alterthums vermittelt zu werden begann. Es geschah das theilweis lehrhaft, | |
[pagina 36]
| |
namentlich die den Alten entnommene dichterische Theorie des Vossius, die freilich vielfach auf Scaligers ebenfalls den Alten verdankte Poetik zurückgeht, hat hier eingewirkt; theilweis liess man sich aber auch in unmittelbarer erwärmung der Einbildungskraft durch die Lektüre der Alten beieinflussen, und hier spielten die zehn Trauerspiele, die unter Senecas Namen gehen, eine entscheidende Rolle. Zu alledem kam dann noch eine neue Rhvthmik des gezählten Silbenmaasses, die zwar französischen Ursprungs ist und theilweis schon früher eingeiührt war, sich aber mit der klassischen Auffassung der Harmonie als einer kontinuirlichen Erscheinung so gut vertrug, dass sie als klassisch empfunden wurde. MitGa naar eindnoot88 der früheste Vertreter dieser neuen Dichtung ist nun Hooft (1581-1647) selbst gewesen; und es ist bezeichnend, dass er, obgleich von der Natur mehr für die Lyrik geschaffen handle es sich nun um den Minnesang oder die dem Holländer besonders theure Poesie des häuslichen Herdes, seinen Ruhm dennoch vor Allem im Drama gesucht hat. Denn dem Drama gehören in dieser Periode alle wesentlichen Probleme des FortschrittsGa naar eindnoot89 an. Nirgends aber blühte dies Drama mehr emporGa naar eindnoot90 als in Amsterdam; denn hier fand sich allmählichGa naar eindnoot91 in jedem Betracht einGa naar eindnoot92, was an äusseren Voraussetzungen dramatischer Blüthe damals sonst keine Stadt germanischen Wesens darbot: stärkstes öffentliches DaseinGa naar eindnoot93, hauptstädtisches Publikum von einheitlichGa naar eindnoot94 bewegtem Leben, Reichthum, künstlerisches Interesse. Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, wie rasch und in welch andauerndem Aufschwung sich Amsterdam eine ständige Bühne erwarb und sicherte; an Stelle des primitiven Vorstellungsraumes der nunmehr verfallenden Kammer der Rhetorika trat bereits 1617 der Bühnenbau einer von Coster gestifteten litterarischen Akademie; dessen Stelle wurde dann schon 1639 durch die Schouwburg des Ouden Mannenhuises eingenommen, und | |
[pagina 37]
| |
an dessen Platz tret wiederum bereits 1664 jenes grosse Amsterdamer Theater, das durch einen Brand des Jahres 1772 vernichtet worden ist. Hooft war der erste Dichter, der ganz, soweit er es vermochte, den dramatischen idealen der Alten nachstrebte; nach einigen anders gearteten Jugendwerken zeigte schon sein Drama Theseus und Ariadne, kurz nach einer italienischen Reise geschrieben, den Uebergang; vollends den Sinn der Antike glaubte Hooft in dem Gheeraardt van Velzen (1613) und in dem Baeto (1615) erreicht zu haben. Später wandte er sich dann mehr der Geschichtschreibung zu, - seine niederländischen Historien sind 1642 erschienen, - und an seine StelleGa naar eindnoot95 trat, ihn weit überstrahlend, der Held der grossen holländischen Renaissancedichtung des Dramas, der grösste Dichter der Niederlande überhaupt, Joost van den Vondel (1587-1679). Vondel ist zunächst ein überaus bedeutendes lyrisches Talent; von inniger Natur, die namentlich nach seinem Uebertritt zum Katholizismus (1639) in's Mystische zu spielen begann, dabei dennoch, besonders in politischer und kirchlicher Satire, nicht ohne beissende Schärfe, hat er die Liebe mit gleichem Glück besungen, wie die stillen Freuden der HeimatGa naar eindnoot96; und auch, wo es den Ruhm des Vaterlandes zu künden galt, vor Allem in seinen herrlichen Admiralsgedichten, wusste seine freudige, festlichelastischen Schrittes daherschreitende Muse begeisterte Töne zu finden. Vor Allem aber ist Vondel doch Dramatiker; nicht weniger als zweiunddreissig Dramen hat er hinterlassen. Und sieht man von den darunter enthaltenen sleben Uebersetzungen aus dem Lateinischen oder Griechischen ab, so ergiebt sich in dieser Reihe, deren Entstehung sich über ein halbes JahrhundertGa naar eindnoot97 ausdehnt. ein nicht unbedeutender Fortschritt. Das Pascha vom Jahre 1612 hat noch fast den Rederijkerton; rauh und holperigGa naar eindnoot98 sind | |
[pagina 38]
| |
Sprache und Verse. Aendert sich das schon in den nächsten Dramen, so kommt hierzu seit den zwanziger und dreissiger Jahren eine dramatische Auffassung im Sinne Senecas und der nach dessen Vorbild verstandenen Alten. Und dabei bedeutete sogar die spätesteGa naar eindnoot99 Produktion Vondels wenigstens nach der Meinung des Dichters selbst noch immer einen AufstiegGa naar eindnoot100; seinen Jephta von 1659 hat er den jungen Dichtern ausdrücklich als ‘Bühnencompass’ empfohlen. Was hat nun Vondel in seinen besten Stücken erreicht! War in ihnen wirklich das SchicksalsdramaGa naar eindnoot101 der Alten zu ganzem, neuem Leben erstanden? Sah man in ihnen thatsächlichGa naar eindnoot102 die LeidenschaftenGa naar eindnoot103 grosser Männer und Frauen, meisterhaft geschildert, mit fatalischer Naturgewalt unvermeidlichen Abgründen zustürzen? Ward das Herz des Zuschauers durch tragische Grösse zu dem Mitleid der antiken Kunstlehre gerührt? Es wäre ungerecht, diese Grösse bei Vondel zu suchen. In einer Zeit, da einer der berühmtesten holländischen Theoretiker, Daniel Heinsius, in seiner Abhandlung De tragoediae constitutione (1611) die Katharsis des Aristoteles noch dahin erklärte, dass durch häufigesGa naar eindnoot104 Sehen des SchaudererregendenGa naar eindnoot195 unsere EmpfindungGa naar eindnoot106 dafür abgestumpft werde, konnte der Dichter nicht nach dem tieferen Sinne der antiken Vorbilder schaffen. Vondel blieb innerhalb der Schranken seines Zeitalters. Das Trauerspiel als höchste dramatische Gattung - und nur ihm fast wandte er sich zu, weit über die niederen GefildeGa naar eindnoot107 der Posse hinausstrebend - blieb ihm die dialogisirte Darstellung eines schicksalsschweren Vorfalls; und inhaltlich erschien ihm derjenige Stoff als der erhabenste, der am meisten Unglück darbot. So ergab sich, bei aller äusserlichen Wahrung der Aristotelischen Anforderungen der Zeiteinheit u.s.w. ein Drama, das noch wenig von dem an sich trägt, was im psychologischen Drama Leben bedeutet: die Personen reden mehr, als dass sie handeln; | |
[pagina 39]
| |
lang ausgedehnte Schilderungen, oft ganz in Episodenform, häufig übrigens im Einzelnen von berauschenderGa naar eindnoot108 dichterischer Schönheit, durchziehen den dramatischen Bau; das, was von Handlung vorhanden ist, erscheint nicht leidenschaftlich geschürztGa naar eindnoot109, sondern bedächtig ausgebreitet; die Umstände sind wichtiger als die Charaktere; die Personen sind äusserlich fein umrissenGa naar eindnoot110, aber nicht aus der Tiefe ihres Wesens dargestellt: das Ganze ist nach unserem Begriff mehr dramatische Paraphrase, als Drama, Gewiss ist damit eine Höhe erreicht noch über den Leistungen eines Hans Sachs, eines Brederoo und Coster und weit sogar über denen der Rederijker: wir stehen auf einer neuen StufeGa naar eindnoot111 der Entwicklung: der Moment ist da, wo die dramatisirte Erzählung im Begriff ist, in die Anfangsformen des psychologischen Dramas überzueehen. Aber dem durch das Vorbild der Antike geweckten Wollen fehlt die Möglichkeit der Vollendung. Und so tritt das Bestreben auf, den mehr gefühlten als erkannten MisserfolgGa naar eindnoot112, das mehr Gemachte als Gewordene der Lage durch äussere Wirkungen zu verdecken. Es ist der geheime Zug gerade aller höchsten Leistungen der Renaissancekunst überhaupt; und er offenbart sich bei Vondel in demselben Fehler, wie sonst, im SchwulsteGa naar eindnoot113. Da lässt der Dichter auch Marktweiber in erlauchtemGa naar eindnoot114 Tone reden; und Worte, die in diesem Zusammenhange nicht anders als komisch wirken können, kehren dann im Munde der Helden bombastisch wieder. Auf Stelzen schreitet schliesslich diese oft so schöne Sprache einher, seideumrauscht, flittervergoldet: es ist bezeichnendGa naar eindnoot115, dass die Zeitgenossen vor Allem Vergil und Tacitus als Klassiker des neuen Stils verehrten. Konnte aber das grosse Publikum der Zeit selbst nur dieser Höhen-Entwicklung folgen? Gewiss verehrte man in Vondel schon bei Lebzeiten den Genius des Dichters; aber es ist bestimmt überliefert, dass die Vorstellungen seiner Dramen wenig | |
[pagina 40]
| |
besucht waren. Auch dies so gut vorgebildeteGa naar eindnoot116 humanistisch durchtrëinkte Publikum Hollands versagteGa naar eindnoot117 sich schliesslich dem Drama einer blosse Renaissance. Vondel hat darum wohl mitstrebende Genossen, nicht aber zahlreiche und bedeutende Nachfolger gehabt. Ja fasst kann man sagen: die Renaissancekunst ging mit ihm zu Grunde. Es blieb, was das Publikum schon längst vornehmlich gefesseltGa naar eindnoot118 hatte: die raffinirte Entwicklung der Bühne zur Schaustellung blendender Theatereffekte; der theatralische Prunk; der Spektakel vieler Morde und sonstiger BegebenheitenGa naar eindnoot119, die gröblich auf die Nerven schlagen. Es blieb, was zu gleicher Zeit sich in Hamhurg im regen Besuch des ersten deutschen musikalischen Dramas bemerkbar zu machen begann: der opernhafte Geschmack in einem nach unseren Begriffen schlechten Sinne des VVortes. In ihm hat dann vor Allen Jan Vos sein reiches komisches und plastisches Talent bethätigtGa naar eindnoot120. Vörüber aber war die grosse Zeit der holländischen Dichtung. Freilich waren neben den Dramatikern auch noch andere grosse Dichter und Schriftsteller aufgetreten: der Vornehme Huygens z. B. und der platte und darum vielen Generationen so überaus theure Cats: aber auch ihre lyrische, epische, didaktische Dichtung fand keine ebenbürtigenGa naar eindnoot121 Fortsetzer. Vielmehr verwässerte sich mit dem Verfall der kommerziellen und politischen Macht des Landes auch die litterarische Bewegung; Versicherungsgesellschaften auf gegenseitiges Lob, am frühesten die Vereinigung Nil volentibus arduum zu Amsterdam vom Jahre 1688, traten auf; die sogenannten Behutsamkeitspoeten liessen sich hören, hübsch klug und aufgeklärt und von lackartig glatter Form gleich einem Gemalde Adriaen van der Veldes; und nur wenig wurde die schwächliche Idyllik ihres Sanges allenfalls durch die rauhen Naturtöne der friesischen Gebrüder van Haren gestört: bis das Zeitalter des Subjektivismus mit der zweiten Hälfte des 18. Jahr- | |
[pagina 41]
| |
hunderts auch für die Niederlande eine ganz neue Entwicklung aus anderer und tieferer Wurzel brachte. Für die deutsche und die allgemeine Litteraturgeschichte aber war die Geschichte der holländischen Dichtung im 16. und 17. Jahrhundert von grosser Bedeutung. Während in Binnendeutschland die nationale Dichtung die Einflüsse des Humanismus im Grunde frühzeitig abschüttelte und einer Eigenbewegung folgte, der schliesslich bei der unglücklichen Entwicklung des sozialen Trägers dieser Dichtung, des Bürgerthums: voller ErfolgGa naar eindnoot122 nicht erblühen konnte, war der geschichtliche Gang im niederländischen Nordwesten, vor Allem in Nordniederland, der umgekehrte. Hier leben sich die Rederijker echt mittelalterlich aus; wesentlich erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzten neben ihnen humanistische Einflüsse ein, und unter deren Einwirken kam es vornehmlich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur ersten grossen Renaissance einer nationalen Dichtung überhaupt auf dem Eoden Centraleuropas: einer Renaissance, der dann in freilich gewaltiger Steigerung der LeistungenGa naar eindnoot123 noch die französische Renaissance unter Ludwig XIV. und die binnendeutsche hellenische Renaissance im Zeitalter Schillers und Goethes gefolgt sind. |
|