Germania. Jaargang 4
(1901-1902)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Volksthum und StaatsthumBei den so häufigen Rückblicken auf das verflossene JahrhundertGa naar eindnoot1 und bei den Ausblicken in das eben begonnene, liebt man es, das Kennzeichnende in kurzen Worten zusammenzufassen. Man kann das Wort hören, das 19. Jahrhundert wäre das des Nationalismus gewesen, und man hört im HinblickGa naar eindnoot2 auf unser 20., es werde das des Socialismus sein. Die Gefahr liegt nahe, dass so kurze BezeichnungenGa naar eindnoot3 zu Missverständnissen führen; ein solches könnte das sein, als ob der WettbewerbGa naar eindnoot4, den Kampf zwischen den Völkern nur in gewissen Perioden stattfinde, als ob er gar in einer höheren StufeGa naar eindnoot5 der Entwicklung von selbst aufhören könnte, um angeblich höheren - socialen - Idealen Platz zu machen. Gewiss gibt es Zeiten, wo Gedanken, die Gemeingut aller civilisierter Völker sind, im Vordergrund der geistigen Bewegung eines Volkes stehen, andere, wo die Sorge um die eigene Wohlfahrt, ja Existenz alles andere zurückdrängt; aber auch im ersteren Falle wird der dauernde, geschichtlich werthvolle Niederschlag einer solchen internationalen Bewegung der Geister in der eigenthümlichen Art zu suchen sein, wie jedes Volk mit derselben fertig wird, wie es sie überwindet. Ich meine in dem Sinne, dass beispielweise die sociale Frage bei allen Culturvölkern in absehbarer Zeit gewiss nicht von der Tagesordnung verschwinden wird; das eigentliche weltgeschichtliche Facit wird sich aber doch nur im Völkerkampfe einlassen, insoferne, als diejenigen Nationen, die diese Frage für sich am glücklichsten gelöst haben, die mit dem geringsten Aufwand von KraftGa naar eindnoot6 die socialen GegensätzeGa naar eindnoot7 in ihrem eigenen Volkskörper ausgeglichenGa naar eindnoot8 haben, über den grössten Kraftüberschuss nach aussen hin verfügen und im Wettbewerbe mit ihren Concurrenten siegreich sein werden. Also auch die Zukunft wird ‘nationalistisch’ sein, in dem Sinne, dass der Concurrenzkampf der Nationen den Hauptinhalt der Geschichte ausmachen wird, und dass die GegenwartGa naar eindnoot9 es in hohem Masse ist, brauche ich wohl nicht zu betonen. Das, was aber dem 19. Jahrhundert in so hervorragendem Masse den Charakter des ‘nationalistischen’ gibt, ist natürlich die Einheitsbewegung des deutschen, und in zweiter Linie des italienischen Volkes, die ja zweifellos der Geschichte dieses Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt hat. Wenn Om de vertalingen minder hinderlijk te maken onder het lezen hebben wij deze genummerd en achteraan de bijdrage geplaatst. | |
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man bedenkt, dass von den lebenden Völkern, die unsere gesammte moderne Cultur aufgebaut haben, doch eigentlich nur vier - Deutsche, Franzosen, Engländer, Italiener - in Betracht kommen, wobei ich Vlamen und Holländer unbedenklich zu den Deutschen rechne, die sie ja zur Zeit, wo sie ihre höchsten Culturwerke, insbesondere auf dem Gebiete der Malerei schufen, noch weit mehr waren, als heute - so begreift sich wohl, welche geschichtliche Bedeutung es hat, wenn gleich zwei davon im Einheitsstaat die äussere Form suchen und finden, die ihnen ein volles politisches und culturelles Ausleben erst ermöglichen soll. Die italienische Einheitsbewegung hat weit vollkommener zur Erreichung dieses ZielesGa naar eindnoot10 geführt, indem nur ein kleiner Bruchtheil Volksangehöriger in den neugeschaffenen Staat nicht einbezogenGa naar eindnoot11 wurde; aber anderseits hat dieser Staat selbts in seiner weiteren Entwicklung nicht jene Kraft gezeigt, die manche heroische Züge nationalen Opfermuthes in der Einheitsbewegung selbts hätten erwarten lassen. Jedenfalls hat die Gründung des Königreiches Italien nicht entferntGa naar eindnoot12 die Bedeutung für die ganze europäische Entwicklung gehabt, wie die Gründung des Deutschen Reiches. Dass von dem Tage der Neubegründung des deutschen Nationalstaates ein AufschwungGa naar eindnoot13 des deutschen Volkes beginnt, wie ihn keine vorhergehende Periode seiner Geschichte in gleich kurzem Zeitraum kennt, ist ausser Zweifel. Hier ist es also am deutlichsten zum Ausdruck gekommen, dass, um mit Treitschke zu sprechen, der Staat Macht ist, und dass also ein von Natur mit hervorragenden Eigenschaften ausgestattetes Volk nunmehr eine staatliche Zusammenfassung gefunden hat, die es ihm ermöglicht, seine Kräfte nach aussen geltend zu machen, sei es nun politisch, wirtschaftlich oder culturell. Hat sich also hier zweifellos die Zaubermacht des Staates enthüllt, so liegt die Frage nahe, ob und wie die Form dieses Staates geändert, beziehungsweiseGa naar eindnoot14 verbessert werden könnte, um noch mehr Macht zu entfalten. Um mich etwas schematisch auszudrücken, möchte ich den Staat als eine Einrichtung betrachten, die die naturgemässe Reibung zwischen den Individuen und socialen Gruppen in seinem Machtbereiche auf ein Minimum herabsetztGa naar eindnoot15 und dadurch ein Maximum von Kraft zur BethätigungGa naar eindnoot16 nach aussen freimacht; allgemein naturwissenschaftlich gesprochen soll er so organisiert sein, dass er seine Zwecke nach dem Princip des kleinsten Kraftmasses erreicht. Nun fragt es sich, ob eine Steigerung der nach aussen verfügbaren Kraft des Deutschen Reiches möglich ist, wobei man zwei Wege im Auge haben kann: einerseits eine Aenderung seiner staatlichen VerfassungGa naar eindnoot17, die die Kraftausbeute nach aussen hin steigert, anderseits eine Vergrösserung seines Gebietes, | |
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die ihm neue Kräfte in Bezug auf Menschen und natürliche Hilfsmittel zuführt. Wenn ich nun den ersteren Weg in BetrachtGa naar eindnoot18 ziehe, so will ich jene kleinen Verbesserungen der Organisation des Staates, die neuen zweckmässigen GesetzeGa naar eindnoot19, VerwaltungsmassregelnGa naar eindnoot20 u.s.w. ganz beiseite lassen; schliesslich ist ja jede Weglassung einer Curialie eine Annäherung an das Princip des kleinsten Kraftmasses. Was ich untersuchen möchte, ist die Frage, ob die wesentliche Grundlage des Deutschen Reiches: seine bundesstaatliche Verfassung, diejenige Staatsform ist, die ihm sein Maximum an Kraftentfaltung nach aussen gestattet, ob in dieser Verfassung der Mittelweg zwischen Freiheit und Zwang, zwischen Autonomie und Centralisation richtig gefunden ist. Nicht allein für das Deutsche Reich, auch für andere Staaten liegt an der Beantwortung derartiger Fragen die ganze politische Zukunft. Wenn thatsächlich, wie genaue Kenner behaupten, die allgemeine Wehrpflicht in Engeland mit den Grundlagen seiner auf der weitgehendsten Freiheit des Individuums aufgebauten Staatsverfassung unvereinbar ist, dann wird England auf ein bestimmtes Mass nach aussen hin geäusserterGa naar eindnoot21 Macht verzichtenGa naar eindnoot22 müssen; und die Rolle, die die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik spielen werden, wird davon abhängen, wie viel die Einzelstaaten dort von ihrer Autonomie zu Gunsten des Centralismus zu opfern bereit sind. Man sieht, in beiden Fällen ist die Hingabe eines Stücks individueller Freiheit zu Gunsten des Staates nothwendig, um eine grössere MachtleistungGa naar eindnoot23 desselben erzielenGa naar eindnoot24 zu können. Auch beim Deutschen Reiche könnte der Gedanke naheliegen, durch ähnliche Opfer eine Steigerung der Macht des Staates nach aussen zu erzielen, und der Gedanke könnte dadurch noch bestärkt werden, dass der am straffsten centralistische Staat Preussen durch die Macht, die ihm daraus erwuchs, erst befähigt war, den deutschen nationalstaat zu schaffen, und dass anderseits sich gerade im Begriff dei Kleinstaates in der deutschen Geschichte das Bild der sich keiner Verantwortung bewussten Ohnmacht verkörpert. Es kommt dazu, dass ja die Zahl der Kleinstaaten im Laufe der Geschichte beständig abgenommen hat und so ein allmähliges Verschwinden derselben als eine nothwendige Vollendung eines geschichtlichen Processes erscheinen könnte. Bismarck hat den Gedanken an eine derartige ‘gross-preussische’ Entwicklung stets auf das allernachdrücklichste bekämpft, und zwar nicht etwa bloss deshalb, weil er sich als Reichskanzler verpflichtet gefühlt hätte, sich strenge auf den Standpunkt der VerfassungGa naar eindnoot24 zu stellen, sondern seine ganze Politik war von jeder grosspreussischen Tendenz frei, auch auf Gebieten, wo für dieselbe reichlich Spielraum gewesen wäre: ich erinnere nur an die Frage der Reichseisenbahnen, wo man erst heute aus der | |
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Entwicklung der Dinge sieht, wie weitblickend Bismarck damals gegen eine grosspreussische Entwicklung ankämpfte, ohne bei den berufenen Hütern der einzelstaatlichen Rechte VerständnisGa naar eindnoot25 zu finden. Mochte aber auch vielleicht der eine oder andere nationale Politiker unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Reichs und in frischer Erinnerung an den Jammer der Kleinstaaterei ein Fortschreiten der deutschen Reichsverfassung vom Bundesstaat zum Einheitsstaat für wünschenswert halten, so wird wohl kaum etwas so belehrend auf ihn eingewirkt haben, wie die Zeit nach dem Rücktritte des ersten Kanzlers. Da hat sich erst gezeigt, in wie hohem Masse nicht die dem Volke in der Verfassung eingeräumten Rechte, sondern weit mehr die der Bundesstaaten und die sich von selbst ergebendenGa naar eindnoot26, wenn auch nicht verfassungsmässig festgelegten Rucksichten auf dieselben eine BeschränkungGa naar eindnoot27 absolutistischer Neigungen der obersten Reichsstelle bilden und einen verhältnismässig ruhigen gang des Staatsschiffes gewährleistenGa naar eindnoot28, auch in Zeiten, wo dem deutschen Volke eine Führung durch geniale Staatsmänner versagt ist. Als Wilhelm I. den Tag der Reichsproclamation als den schwersten seines Lebens bezeichnete, so war dies gewiss nicht der Ausdruck einer engherzig befangenen, beschränkt preussischen Gesinnung; mit seinem klaren und gesunden Menschenverstande hatte er sehr wohl erkannt, dass noch nie ein preussischer König so viel an Bewegungsfreiheit und selbständigkeit aufgegeben hatte, wie er, als er die deutsche Kaiserwürde annahm: nun stand er ganz im Dienste der Nation. Was er als eine HemmungGa naar eindnoot29 empfand, hat sich bei der impulsiven Natur seines Enkels als ein wahrer Segen erwiesen. Gewiss ist auch heute noch der Particularismus in mancher Gegend Deutschlands - sowohl nicht preussischen wie preussischen, und der preussische Particularismus ist der schlimmere - noch sehr stark und er bildet einen Barometer der jeweiligen Zufriedenheit mit der Reichspolitik. Aber dieser Particularismus könnte niemals durch eine Aenderung der Vefassung im centralistischen Sinne überwunden werden im Gegentheil! Die Zeit, die Vertiefung der nationalen Idee, vor allem aber jene Völkerwanderung, die seit der Reichsgründung immer mehr die Bewerber verschiedenster Theile des Reiches durcheinandermischt, werden schliesslich den Particularismus überwinden. Auch hier wird sich jene Eigenschaft bewähren, die die ganze deutsche Geschichte zeigt, dass der Deutsche langsam in sich aufnimmt, dann aber um so fester hält. Man kann somit sagen, dass die bundesstaatliche Verfassung des Deutschen Reiches dem Spruche: in necessariis unitas, in ceteris libertas Rechnung trägt, dass sie der Eigenart des deutschen Volkes angepast ist und die Kräfte, die dasselbe nach aussen hin geltend machen kann, am besten frei macht. Wohl- | |
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gemerkt spreche ich dabei nicht von irgend einem Ideaalstaat, den man sich im Geiste in voller Freiheit ausdenken könnte, sondern von dem Staate, der der real gegebenen Grösse, dem deutschen Volke mit all seinen Tugenden und Untugenden, sich anpassen muss. Als Grundlage für die Frage, die ich im zweitem Theil dieses Aufsatzes untersuchen möchte, will ich aber gleich hier einen Gesichtspunkt betonen, der sich meines KrachtensGa naar eindnoot30 aus dem Gesagten ergibt: Die ThatsachenGa naar eindnoot31 lehren, dass aus der natürgemässen ForderungGa naar eindnoot32 nach nationnler Einigung, die jedes lebenskräftige Volk im Laufe seiner Geschichte anstrebenGa naar eindnoot33 muss, für die Form derselben nichts folgt; es muss nicht nothwendig die eines Einheitsstaates sein, wie vielleicht die Geschichte anderer Völker anzunehmen verleiten könnte; die Form ist eine ZweckmässigkeitsfrageGa naar eindnoot34. Man hat sich sehr vernünftigerweise gehütet, im Deutschen Reiche das VerhältnisGa naar eindnoot35 der Einzelstaaten zu Preussen und zum Reiche nach irgend einem Schema zu behandeln. Die Grösse, geographische Lage, Geschichte und wirtschaftliche BeziehungenGa naar eindnoot36 haben ein mehr oder minder grosses Mass von Abhängigkeit dem Gesammtstaatskörper gegenüber bedingtGa naar eindnoot37. Und wie Bismarck das Mass der Reservatrechte, die er Baiern zubilligte lediglich nach der im damaligen Zeitpunkte gegebenen Zweckmässigkeit bestimmte, so würde das auch heute nur unter diesem Geschichtspunkte zu beurtheilen sein, ob eine Beschränkung desselben im nationalen Belange wünschenswert erscheint oder nicht. Würde eine derartige Beschränkung mehr an innerer Reibung erzeugen, als sie aufhebtGa naar eindnoot38, - wobei ich das Wort Reibung im weitesten, nicht etwa bloss im verwaltungstechnischen Sinne brauche - so wäre sie unbedingt zu verwerfen, sie wäre dann eben nicht eine Verstärkung der Staatsmacht nach aussen hin, sondern eine Schwächung. Anderseits wird man aber wohl mit Bestimmtheit sagen können, dass eine Erweiterung der Rechte der Einzelstaaten nicht erwünscht sein kann und selbst, wenn vielleicht ein besonderer Fall ein Dahinzielen der Massregel rechtfertigen könnte, aus dem Grunde unbedingt abzulehnen wäre, weil dies nothwendig im anderen Bundesstaate zu centrifugalen Bestrebungen führen müsste. Also auch in dieser Beziehung wird jener Mittelweg, den die deutsche Reichsverfassung wandelt, als der richtige bezeichnet werden müssen. Als zweite Form einer Verstärkung der Macht des Deutschen Reiches habe ich eine Vergrösserung seines Gebietes und die dadurch bedingte Vermehrung seiner Bevölkerung erwähnt. Dass die Staaten einen Gebietszuwachs stets als Machtzuwachs empfunden haben, beweisen die zahllosen Kriege, die um Gebietserweiterungen geführt worden sind. Nicht immer hat aber die Ge- | |
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schichte diese Auffassung bestätigt, sehr oft hat sich herausgestellt, dass ein Gebiets- und Bevölkerungszuwachs eine Schwächung des Staates ist, wenn dieser nicht imstande ist, ihn organisch dem bestehenden Staatsverbande einzufügenGa naar eindnoot39, oder wenn die Kräfte, die dieser Process in AnspruchGa naar eindnoot40 nimmt, in keinem Verhältnis stehen zu dem sich voraussichtlich ergebenden Kräftezuwachs. Handelt es sich hierbei um die Einverleibung einer fremdnationalen Bevölkerung, so kann der Staat seine Thätigkeit, sich diese zu assimilieren und dadurch seinem Zwecke dienstbar zu machen, überschätzt haben, er kann auch während dieser Thätigkeit gezwungen worden sein, seine Macht nach aussen zu wenden, wobei ihm natürlich die nach innen angespannten Kräfte entzogenGa naar eindnoot41 waren. Gab es Zeiten, wo die Einwohner einfach als Seelen und SteuerträgerGa naar eindnoot42 zählten und die Sprache, die sie sprachen, eine untergeordnete Rolle spielte, so wird gegenwärtig, seitdem das nationalgefühl aller Völker im 19. Jahrhundert eine so mächtige Erstarkung erfahren hat, seitdem die weitgehende Demokratisierung der ganzen VerwaltungGa naar eindnoot43, die allgemeine Wehrpflicht und so vieles andere eine viel weitergehende Mitarbeit des Einzelnen am staatlichen Leben ermöglicht und erfordert, jedem Staate ein Zuwachs fremdnationaler Unterthanen weitaus bedenklicher erscheinen, als vor hundert Jahren. Und doch hat schon damals selbst ein so festgefügter Staat, wie der Friedrichs des Grossen, den übermässigen Zuwachs polnischer Unterthanen nicht vertragen, und sein Zusammenbruch bei Jena ist zum guten Theile sicherlich auch auf die ZerrüttungGa naar eindnoot44 zurückzuführen, die er hierdurch erlitten hat. In der Folge sehen wir, dass sich sowohl Preussen wie auch später das Deutsche Reich bei Neuerwerbungen stets auf jenes Minimum fremdnationaler Unterthanen beschränkt hat, das aus geographischen Rücksichten unerlässlich war. Ein Blick auf die Karte genügt, um zu zeigen, das Preussen Posen als Verbindung zwischen Ost- und Westpreussen einer-, Schlesien anderseits nicht entbehren kann. Die Rückgabe des dänischen Theiles von Schleswig hätte die Preisgabe von tausenden deutscher Volksgenossen und die Zerreissung alter hist rischer Lande bedeutet, die Erwerbung von Metz und des französischen Theiles von Lo hringren endlich erfolgte rein aus strategischen Rücksichten. Aber in Europa leben noch Millionen von Deutschen, die staatlich nicht zum Deutschen Reiche gehören, und es lohnt wohl die Frage zu untersuchen, inwieweit das Deutsche Reich als Instrument der Wohlfahrt des gesammten deutschen Volkes sich zu diesem Zwecke ausserhalbGa naar eindnoot45 des Reiches wohnender Volksgenossen bedienen kaan, beziehungsweise, welche Form einer in Zukunft möglichen oder wünschenswerten AngliederungGa naar eindnoot46 dem nationalen Ge- | |
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sammtinteresse am besten dienen würde. Von den Deutschen Russlands wil ich hier absehen, weil sie zu sehr unter anderen Völkern zertreut leben, und eine Angliederung der von ihnen bewohnten Gebiete auf friedlichem Wege überhaupt nicht in Frage kommt. Die Holländer und Vlamen sind ihrer Rasse nach zwar mit den Niederdeutschen im Reiche identisch, aber die historische Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass ihre culturelle Entwicklung von der deutschen gesonderteGa naar eindnoot47 Wege gieng une ihre Sprachen sich zu besonderen Schriftsprachen entwickelten, die einfach für deutsche Dialecte zu erklären, wie dies mitunter geschieht, nicht angängig, übrigens auch gerade vom Standpunkte einer wünschenswerten nationalen Annäherung nicht zweckmässig ist, da dadurch doch sehr berechtigte EmpfindungenGa naar eindnoot48 verletzt werden. Die politischen Interessen werden zwar zweifellos eine weitere Annäherung Hollands an Deutschland bewirken, die ja in den letzten Jahren schon entschiedene FortschritteGa naar eindnoot49 gemacht hat. Desgleichen wird Belgien in dem Masse, als die vlämische Mehrheit des Landes zu ihren politischen Rechten kommt, eine Abkehr von Frankreich und einen näheren Anschluss an Deutschland bewirken. Ob aber eine Verbindung, die über ein defensiev- und ein Zollbündnis hinausgeht, und die Form einer Einverleibung der beiden Staaten als Bundesstaaten in das Deutsche annimmt, ganz abgesehen davon, wie sich die Vlamen und Holländer selbst dazu stellen, vom Standpunkte des deutschvölkischen Gesammtinteresses aus wünschenwert wäre, möchte ich sehr bezweifeln. Denn kein Beklagen der traurigen historischen Entwicklung, die uns seit dem 16. Jahrhundert Vlamen und Holländer entfremdet hat, hilft über die Thatsache hinweg, dass die Sprachen dieser deutschen Stämme sich zu Schriftsprachen entwickelt haben; würde man diesen Sprachen bei den deutschen Centralbehörden, im Reichstage u.s.w. Gleichberechtigung zugestehen, so müssten sich die Vlamen und Holländer naturgemäss als Reichsangehörige zweiter Klasse fühlen, es würde sofort eine Sprachenfrage und ein nationaler Kampf entstehen, der erfahrungsgemäss dann nicht minder heftig wäre, weil er zwischen nahverwandten Stämmen geführt würde. Es wäre nun allerdings denkbar, dass infolge einer innigen Verkehrsgemeinschaft, wie sie etwa ein Zollbündniss mit sich brächte, das Holländische und Vlämische ganz von selbst und ohne Zwang dem Deutschen als Schriftsprache weichen und bloss zu einem Dialect herabsinken würde. Aber es ist sicher, dass eine derartige Entwicklung durch alles, was irgendwie nach Zwang aussehe, sofort verhindert werden würde, und es ist überhaupt nicht angebracht, auf eine solche entfernte Zukunftsmöglichkeit heute als sicheren Factor in der Politik zu rechnen. Aus diesem Grunde, glaube ich, dass die Art des Anschlusses, die die Kraft des deutschen Volkes wirklich steigert, sowohl für Vlamen wie | |
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für Holländer nur in der Form eines Schutz- und Trutz- und eines Zollbündnisses möglich ist, während die Aufnahme als Bundesstaat - unter der Voraussetzung, das dieser Begriff dieselbe Bedeutung hat, wie gegenwärtig - weit mehr Kräfte durch innere Reibung verzehren würde, als nach aussen hin frei werden. In der Schweiz ist durch die längere Dauer der politischen Unabhängigkeit, die zudem unter Kämpfen gegen eine Deutsche Dynastie errungen und behauptet wurde, der Sinn für politische Selbtständigkeit noch mehr entwickelt wie in Holland. Das Band der gemeinsamen Schrift hat sich hier aber erhalten und die culturelle Gemeinsamkeit findet an der politischen Grenze keine SchrankeGa naar eindnoot50. Drei der grössten Künstler des deutschen Volkes im 19. Jahrhundert waren Schweizer: Böcklin, Gottfried Keller, Konrad Ferdinand Meyer. Man wird von diesen dreien wohl nur Keller einen specifisch schweizerischen Einschlag in seiner Kunst nachsagen können, und auch dieser übersteigt nicht das Mass dessen was wir auch an anderen deutschen Schriftstellern als heimatliche BodenständigkeitGa naar eindnoot51 schätzen. Die Schaffung des Deutschen Reiches hat die Abschliessung der Schweizer, die Betonung ihrer Selbständigkeit und die Abneigung vor irgend einem Anschluss an das Reich eher vermehrt als vermindert; die demokratische Regierungsform, deren Schattenseiten in den kleinen Verhältnissen nicht so fühlbar werden, kommt hinzu, um den Gegensatz.Ga naar eindnoot52 gegen Deutschland zu steigernGa naar eindnoot53. In wirtschaftlicher Beziehung hat sich aber zweifellos die Abhängigkeit der Schweiz von seinem mächtigen Nachbar sehr gesteigert, und dass diese Verhältnisse schliesslich einmal zu einem Zollbündnisse mit Deutschland führen werden, das ja der Schweiz weit mehr Vortheile bringen wird als dem Reiche, ist nicht unwahrscheinlich. Im Auslande bemerkt man auch, dass die Schweizer sich häufig eng an die deutschen Colonien anschliessen, mit denen sie das gemeinsame Interesse an Schul- und Kircheneinrichtungen nothwendig zusammenführt. Dass all dies und insbesondere die mit einem gemeinsamen Zollgebiet verbundene starke Wanderung der Bevölkerung die politischen Vorurtheile mit der Zeit überwinden würde, ist nicht unwahrscheinlich, Das eine ist aber jedenfalls sicher, dass bei einem gewaltsamen VersuchGa naar eindnoot54 die Abneigung der Schweizer gegen einen Anschluss an das Deutsche Reieh zu brechen, das deutsche Volk nichts zu gewinnen hätte und der gewonnene Zuwachs von deutschen Unterthanen in keinem Verhältniss stehen würde zu den Kräften, die aufgewendet werden müssten, um sie in die deutsche Staatsgemeinschaft als verwertbareGa naar eindnoot55 Glieder einzufügen, ganz abgeschenGa naar eindnoot56 davon, dass, wie ich vermuthe, die neutrale Schweiz für Deutschland einen gewissen strategischen Wert besitzt. Es ist also wohl anzunehmen, dass selbst im Falle, wo die europäische Lage | |
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dem Deutschen Reiche eine Vergewaltigung der Schweiz gestatten würde, keinen Staatsmann nach diesem LorbeerGa naar eindnoot57 gelüstenGa naar eindnoot58 würde. (Fortsetzung folgt.) Dr. Paul Samassa. |
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