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Schule und Elternhaus
Von Schulrath Dr. A. Matthias (Koblenz)
(Fortsetzung und Schluss)
Mit dem Fleisse ist enge verbunden unseres Sohnes Aufmerksamkeit in Haus und Schule. Aufmerksamkeit bildet eine Voraussetzung für den Fleiss, sie ist aber auch eine natürliche Folge des Fleisses. Fordern wir Aufmerksamkeit von unserem Benjamin, so verlangen wir, dass er seinen Geist, sein Erkenntnisvermögen bereitstelle zur Aufnahme neuer oder zum Teil neuer Vorstellungen, Begriffe, Regeln, Grundsätze, oder dass er sich bereithalte, alte Vorstellungen, die bereits sein Besitz geworden sind, wieder hervorzuholen zu neuer Verwertung. Dieses aufmerksame Entgegenkommen ist eine Willensthätigkeit, die allerdings nicht immer als bewusster Willensakt verläuft und die, je mehr uns die Sache interessiert, auf die wir unsere Aufmerksamkeit lenken, den Charakter einer Willensthätigkeit fast ganz verlieren kann und in das Gebiet fühlender Teilnahme hinüberspringt. Aufmerksamkeit in ihrem Anfange ist also eine Art von innerem Gehorsam; wer gut gehorchen gelernt hat, pflegt auch aufmerksam zu lernen. Der Wille zum Aufmerken kann nun den verschiedenartigsten Ursprung haben: hier ist es Wissbegierde und Interesse, dort Pflichtgefühl; hier freundlicher Einfluss der Autorität des Erziehers und Lehrers, dort Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Belohnung. Die Jugend ist nun im allgemeinen noch schwach zum Aufmerken; ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt ist in den meisten Fällen von kurzer Dauer und geringer Kraft: eigener bewusster Wille steckt auch nicht viel in der jungen und ungeübten Aufmerksamkeit; sie muss
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deshalb unter dem Einfluss des Erziehers zu guter Gewöhnung herausgearbeitet werden. Das Beste und Meiste werden tüchtige Lehrer in der Schule thun, die willensstark und interessierend den Jungen in ihren Bannkreis und in den Bannkreis der Gegenstände ziehen, die gelernt werden sollen. Aber das Haus kann helfen in verschiedener Weise. Direkt nachzuhelfen bei der Arbeit braucht es nicht, aber es muss - und das ist viel mehr wert als alle Nachhilfe - Interesse zeigen für die Sachen, die in der Schule gelernt und gefordert werden, und nicht für allerhand Schulklatsch, der von der Aufmerksamkeit abzieht. Man kann die Kinder sehr wohl allein schaffen und selbstthätig und selbstständig arbeiten lassen, aber man kann mit ihnen innerlich leben, denken, sich unterhalten beim Ruhen von der Arbeit, beim Spazierengehen und bei anderen Gelegenheiten, wo Gedanken-, Interessen- und Aufmerksamkeitsaustausch ungezwungen und wechselwirkend von statten gehen kann. Wo verständige Väter und Mütter aufmerksam ihren Söhnen gegenüber sind für das, was diese interessieren soll, da wird sich Aufmerksamkeit verpflanzen ohne viel Geräusch und Lamento. Dann aber und hier liegt eine neue kräftige Hilfe der Aufmerksamkeit - kann man den Hindernissen und Ablenkungen der Aufmerksamkeit im Hause mit gutem Erfolge entgegenarbeiten. Es ist eine Thatsache, dass die willkürliche, die gewollte Aufmerksamkeit erst durch unwillkürliche Aufmerksamkeit, durch lebhaftes Interesse für die Sachen geübt wird, dass die gewollte Aufmerksamkeit erst allmählich als gute Gewohnheit in ihre Rechte tritt; diese gute Gewohnheit des Aufmerkens ist dann im Grunde weiter nichts als die Kraft, Hindernisse und Ablenkungen hinwegräumen zu können, welche der Aufmerksamkeit im Wege sind, als da sind zerstreuende Gedanken, Stimmungen und Haften des Geistes an
Aussendingen, die nicht zur Sache gehören. Diese Zerstreuungen fernzuhalten, ist vielfach in erster Linie
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Sache des Hauses, mag dieses Haus nun in einer grossen oder einer kleinen Stadt liegen. In gewissem Sinne hat man recht, wenn man den grossen Städten keinen günstigen Einfluss auf Schulforderungen und Schulpflichten zuschreibt. Die Kinder sehen und hören hier früh schon viel zu viel Dinge, welche ihre Aufmerksamkeit anziehen und von ihrem kleinen Pflichtenkreise ablenken. Knaben vom Lande pflegen im allgemeinen intensiver und konzentrierter zu arbeiten. Aber auch kleine Orte haben ihre Zerstreuungen. Der Knabe hat hier mehr Freiheit in der Natur, er hat meist eine ausgebreitete Personalkenntnis, die Jugend schliesst sich rascher in Massen zusammen; an allem nimmt sie teil, auch an dem kleinen Klatsch des kleinen Ortes. Auch in kleinen Städten findet man recht viel Kinder, die recht zerstreut sind, während man in grossen Städten viele Kinder findet, die wenig zerstreut, die ganz bei und in der Sache sind und eine erfreuliche Aufmerksamkeitskraft besitzen. Nicht die Grösse oder Kleinheit des Ortes, sondern die Art der Familie macht hier den Unterschied. In der häuslichen Erziehung, im Leben der Familie, in der Auffassung der Pflichten, welche die Eltern haben, und vor allem in der Auffassung des Lebens und des Zwecks unseres Daseins liegt der Grund geistiger Zusammenfassung oder der Zerstreutheit. In den letzten vier Jahrzehnten hat sich in dieser Beziehung manches geändert. Die dreisziger, vierziger und auch ein Teil der fünfziger Jahre waren ruhiger und stiller; das ist anders geworden: Unruhe, Hast und eine Fülle von zerstreuenden Momenten ist in unser ganzes Leben eingedrungen. Zurückschrauben im Interesse der Erziehung können wir diese Verhältnisse nicht mehr. Aber wohl können wir uns fragen, ob wir nicht manche schädlichen Dinge, die eingedrungen sind in unser Leben, trennen können von ihrem Einfluss auf unsere Jugend. Das
Leben der Familie hat sich sehr stark veräusserlicht, ist ausserhäusig geworden,
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hat sich verstreut; nicht im Innern des Hauses liegt vielfach unser Schwerpunkt, sondern im gesellschaftlichen Leben. Selbst die Sontagsruhe ist recht ausserhäusig. Gesellschaften, Diners, Soupers, Theater, Konzerte, Kirmes, Karneval, Vereinsfeste, Wirthshausbesuch mit Kind und Kegel, Vergnügungszüge und wer weiss, was noch alles, streut uns nach aussen. Die Gesellschaftsräume sind grösser und stattlicher geworden, die Familienräume und das Kinderzimmer kleiner, bescheidener, armseliger. Oft findet man schon gar keine Kinderstube mehr. Die Abende, die man zu Hause ist, werden als verloren angesehen. ‘Wir haben doch in einer Woche nur dreimal getanzt’, hörte ich jüngst eine Dame sagen, ‘das ist doch nicht viel.’ Das hören die Kinder, und wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen. Müssen diese nicht zerstreut mit werden, wenn sie das nimmerstillstehende soziale Mühlrad herumgehen sehen und klappern hören? Hier soll das Haus alles thun um die Jugend zu schützen vor dem modernen Vielerlei und sie zu ruhiger Aufmerksamkeit zu erziehen zu Nutz und Frommen der Schulforderungen und Schulpflichten. Und gottlob giebts noch eine stattliche Zahl von Familien, die von ihren Kindern all den gesellschaftlichen Unfug fernhalten, besonders Kinderbälle, Kindervisiten, Kinderkorsos und dergleichen Thorheiten mehr, bei denen gesunder Menschenverstand nur im Sinne des alten Volkswortes denken kann: ‘O Aeffin, was sind eure Jungen schön!’ -
Benjamin ist nicht vesetzt. Grosse Aufregung in Haus, Verwandtschaft und Bekanntschaft! Der Zorn des Vaters richtet sich gegen unsern Benjamin; die Mutter nimmt ihn in Schutz; Tante Klärchen meint, die Lehrer seien zu streng gewesen, nach ihrem Urteil sei der Junge für die höhere Klasse reif gewesen. Andere Verwandte und Bekannte sind wieder anderer Meinung: im ganzen und grossen nimmt man Benjamin in
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Schutz und urteilt abfällig über Schule und Lehrer. Aehnliches wiederholte sich alle Jahre in so und so vielen Familien des deutschen Vaterlandes. - Wie steht es nun mit der Frage der Versetzung, mit den Zeugnissen, die die Schule austeilt? Bevor wir diese Frage beantworten, möge eine kurze Geschichte zur Beruhigung aller durch Nichtversetzung heimgesuchten Eltern vorangehen. Der Quartaner Karlchen So und So kommt nach Hause und ist nicht versetzt, und wie das nach den mangelhaften Leistungen, die Karlchen trotz allen Fleisses bei seiner grossen Jugend gezeitigt hatte, nicht anders zu erwarten stand. Vater und Mutter geraten, trotzdem sie schwarz auf weiss sehen, dass es Karlchen nicht geglückt ist, ausser sich über den ‘Schimpf und die Schande’, die dem Hause und der ganzen Familie widerfahren ist. ‘Nun ist's zu Ende; aus Karlchen wird nichts; er geht den Weg des Verderbens; die Schule hat nicht genug gethan, um ihn vor diesem Abwege zu schützen.’ Während unter solchen und ähnlichen Lamentationen Vater und Mutter tobend rasen, hat sich unser Karlchen gemächlich auf einen Stuhl niedergelassen, baumelt mit den Beinen, als wollte er einen Esel zu Grabe läuten, sieht abwechselnd auf Vater und Mutter und bringt schliesslich, als die Wogen der Entrüstung sich gelegt haben, unter treuherzigem Blick auf den Vater die inhaltsreichen Worte über das Gehege seiner jugendlichen Zähne: ‘Vater, wenn wir nur alle gesund sind!’ - Der Junge hatte recht und hatte recht behalten. Er hatte gethan, was er konnte; die noch jugendlich ungeübte Geisteskraft hatte nicht ganz gereicht, die körperliche glücklicherweise nicht gelitten. Ein Jahr weiterer Arbeit in Quarta hat ihn nachher geistig gefertigt und gekräftigt: er hat die Schule mit Erfolg und ohne neue Verzögerung durchgemacht und schliesslich ein gutes
Reifezeugnis sich erworben. Der Vater hat sich inzwischen beruhigt, und in Stunden, wo er in sich geht, und offen äussert, was er
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denkt, gesteht er ein, dass es für Karlchen noch besser gewesen wäre, wenn er bereits in Sexta länger geblieben wäre und wenn man ihn nicht unnatürlich durch Sexta und Quinta forciert hätte.
‘Wenn wir nur alle gesund sind!’ hatte Karlchen richtig gesagt! Wenn doch auch der Eltern Urteil über Schulzeugnisse und Versetzungen immer recht gesund wäre! Die Erziehung würde besser dabei fahren. Thatsächlich sind aber recht verkehrte Ansichten an vielen Stellen vorhanden und wird recht unvernünftig in dieser Beziehung verfahren. Die ersten Zeugnisse werden verhältnismässig zu wenig beachtet; meist bringt es das Zeugnis, das ein Quartal vor der Versetzung in die Hände der Eltern kommt, diese in erzieherische Bewegung. Dreiviertel Jahre lässt man den Jungen bummeln; im letzten Viertel spannt man ihn so über Gebühr an, dass dem armen Schächer Hören, Sehen und Denken vergeht. Dann - in letzter Stunde - beginnt auch das Gelaufe der gefährdeten Eltern zum Direktor, zu dem Klassenordinarius, zu den einzelnen Fachlehrern; Privatlehrer, Hauslehrer, Primaner werden vor den festgefahrenen Karren gespannt. Und kommt dann der Junge nicht heraus aus der Klasse, dann ergiesst sich die Schale des Zornes über Schule, Privatlehrer und den Jungen selbst. Das dreiviertel Jahre gefaulenzt ist von Schüler und Eltern, von jenem am Schulwerke, von diesen am Erziehungswerke, das vergisst man; nur die letzte Zeit hat man im Auge; dass die Bearbeitung und Ueberarbeit in dieser kurzen Spanne Zeit nicht gewürdigt ist, macht man der Schule zum Vorwurf, während man an seine eigene Elternbrust schlagen und sagen sollte: ‘Gott sei uns Sündern gnädig!’ Verständige Eltern beachten schon ernstlich das erste Zeugnis, das die Schule ausgiebt, und nehmen frühzeitig Rücksprache mit den Lehrern, um Lücken zu beseitigen und Fehlerhaftes zu bessern. - Ein weiterer Fehler der elterlichen Zeugnisbeurteilung liegt auch darin, dass diese
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zu viel auf den Klassenplatz sieht, den der Junge in der Rangordnung einnimmt, und zu wenig auf die Prädikate im einzelnen. Der Klassenplatz kann sehr täuschen. Wenn etwa unser Benjamin der zwanzigste unter vierzig Schülern ist, so muss man bedenken, dass die zwanzig letzten aus sehr verschiedenen Elementen sich zusammensetzen: es sind Faule, die begabt sind, also Jungen, die arbeiten können, aber vorläufig noch nicht wollen, und Fleissige, die aber unbegabt sind, die also wollen, aber nicht recht können; eine dritte Gruppe besteht aus denen, die nicht können und auch nicht wollen, die also das Privilegium stets gemessen werden, die untersten Stellen einzunehmen. Rückt nun die Versetzungszeit näher heran, so strengen sich vielfach gerade die bisher Faulen, aber Begabten an, und Bild und Rangordnung verschiebt sich sehr zu Ungunsten unseres Benjamins, der den zwanzigsten Klassenplatz nicht infolge eigener guterPrädikate, sondern infolge der Schlechtigkeit seiner Genossen eingenommen hat. Rechnet man hinzu, dass die Anforderungen am Schlusse des Jahres naturgemäss sich steigern, da alles zusammengefasst werden muss, dass die Schwierigkeiten wachsen, so soll man sich nicht wundern, wenn am Ende des Jahres unser Benjamin etwa auf dem dreissigsten Platz sitzt. Die Eltern thun deshalb gut, den Rangnummern nicht allzuviel Gewicht beizulegen, da sie sehr relativen Wert besitzen; dagegen lasse man die Prädikate für die einzelnen Lehrfächer zu recht voller Geltung kommen bei der Beurteilung des Zeugnisses. -
Auch ist grosse Vorsicht geboten, wenn die Kinder selbst zur Zeugnisbeurteilung ihre Ansichten beitragen wollen. Es kommt leider viel zu oft vor, dass Eltern sich von ihren Kindern, die an Erklärungsgründen so überaus fruchtbar sind, bereden lassen, die Zensur sei ungerecht; der Lehrer habe einen persönlichen Widerwillen gegen ihn (den Jungen). Die Jugend ist mit sol- | |
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chem Urteil rasch fertig, da sie nicht bedenkt und auch nicht bedenken kann, wie gewissenhaft der Lehrer bemüht ist, gerecht zu sein gegen Böse und Gute, gegen Faule und Fleissige, Begabte und Unbegabte. Eltern sollten deshalb aus solchem raschfertigen jugendlichen Urteil ja keine voreiligen Schlüsse ziehen und sollten sorgsam bedenken, was der Schüler noch nicht bedenken kann. Leider geschieht das aber nur in seltenen Fällen. Und selbst wenn im Zeugnis etwas steht, was nach wohlerwogenem Urteil der Eltern nicht ganz stimmen kann, so sollte man eher geneigt sein, Missverständnis oder Irrtum seitens der Lehrer anzunehmen als bösen Willen. Will man ein übriges in solchen Fällen thun, so nehme man in ruhiger Weise Rücksprache mit dem Lehrer und bitte um eine Erklärung des Prädikates, um jedes Missverständnis zwischen Schule und Haus zu beseitigen zum Besten der Erziehung. Auch lerne man früh recht objectiv und nicht mit subjectiver Affenliebe das Zeugnis lesen und aus ihm die richtigen Folgerungen für die Erziehung ziehen; man soll eben nicht in subjektiver Befangenheit nur das Beste aus dem Zeugnis herauslesen und womöglich noch allerhand Günstiges, was gar nicht darin steht, hineinlesen, während man über alles Tadelnde, Negative und Mahnende liebevoll hinwegliest. Es ist geradezu unglaublich, mit welch verliebten Blicken Eltern, besonders Mütter, Zeugnisse zu lesen verstehen, mit verliebten Blicken, denen Fehler
womöglich als Tugenden erscheinen. Besonders soll man das Zeugnis, auf Grund dessen der Junge nicht vesetzt ist, richtig und gerecht beurteilen. Man soll bedenken, wie viel sorgfältige Prüfung des Jungen seitens der Schule im ganzen Verlauf des Jahres vorangegangen ist, wie die Kenntnisse des Schülers doch in zahlreichen Leistungen sich geäussert haben, wie sorgsam die Schule in Erwägung ziehen muss, ob der einzelne Schüler die Fähigkeit besitzt, den Kursus einer höheren Klasse mit Erfolg durchzu- | |
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machen oder nicht; wie oft die Schule mit Wohlwollen noch unter allerhand Kautelen in Hoffnung auf künstige bessere Leistungen einen Jungen ohne sein Verdienst hinüberschiebt in eine höhere Klasse, und wie oft diese Hoffnung getäuscht wird und bittere Erfahrungen seitens der Schule gemacht werden. Die Eltern sollten ferner bedenken, wie gesund oft das Zurückbleiben in der Klasse für den Jungen ist. Bei Kindern, die noch im Heranwachsen begriffen sind, übt das Jahr eine reinigende und stärkende Kraft, und die Zeit ist ihnen oft ein guter Engel. Eltern, die wenig von Schulerziehung verstehen, reden wohl von einem ‘verlorenen’ Jahre, wenn der Jungen sitzen bleibt; der erfahrene Erzieher rechnet solche Jahre zu den gewonnenen und gewinnbringenden. Ist denn ein Jahr nicht ein verlorenes für den armen, künstlich hinaufgeschraubten Schelm, wenn ihm fortwährend nachgeholfen werden muss von Privatkräften allerhand Art beiderlei Geschlechts, ist es nicht ein verlorenes für die Eltern, die Tag für Tag dieses Langen, Hangen und Bangen, diese künstliche Kultur und Dressur mit ansehen müssen, die jeden Morgen ihren Benjamin mit Kummer in die Schule gehen und jeden Mittag mit Kummer heimkehren sehen, weil er zu früh, zu unreif emporgetrieben ist?
Nehme man deshalb Nichtversetzung immer recht verständig hin! Es ist thatsächlich recht unerfreulich und unklug, wie die Nichtversetzung meist angefasst wird. Verständnis ist selten vorhanden und wird auch selten gesucht; in den meisten Fällen fühlt sich die Familie und alles, was mit ihr zusammenhängt, tief verletzt und hat gar keine Empfindung dafür, dass die Nichtversetzung nach reiflicher Erwägung und nach pflichtmässigem Ermessen erfolgt. Elternliebe und Elterneitelkeit geht selbst mit den besten Vätern durch und reisst sie zu unüberlegten Gedanken und gar zu unklugen Aeusserungen hin. Gerade bei solchen Gelegenheiten kann man Urteile über die Schule, die
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sich doch aufs redlichste bemüht hat, hören, die einen traurigen Einblick darein gewähren, auf wie wenig Mitarbeit, Entgegenkommen, Miterziehung und gesundes Zusammenwirken die Schule im allgemeinen bei dieser Art von Familien rechnen kann.
Gesundes Zusammenwirken von Schule und Haus! Wie soll das beschaffen sein?
Man hat dieses Zusammenwirken geschildert als ein Zusammengehen nach einem schönen Ziele, wobei Eltern und Lehrer bei vorkommenden Verschiedenheiten sich zu verständigen, sich gegenseitig zu unterstützen haben, weil es auf die jugendlichen Seelen verderblich wirke, wenn sie nach verschiedenen Grundsätzen behandelt, wenn sie in Zweifel getrieben, zur Kritik gereizt und zu Schiedsrichtern über Dinge gesetzt werden, von denen sie nichts verstehen und über die sie überhaupt noch nichts zu sagen und nicht mitzusprechen haben. Es müsse deshalb ein beständiger Gedanken- und Erfahrungsaustausch stattfinden, die Eltern müssten sich fleissig nach ihren Kindern erkundigen und mit den Lehrern über gemeinsame Erziehungsmassregeln Verabredung treffen; vor allem müssten sich aber die Litern hüten, die Disziplin der Schule zu schwächen, die Achtung vor den Lehrern zu untergraben, ihre Absichten zu vereiteln und zu durchkreuzen. - Leider ist nun dieses Verhältnis nicht immer so, und es braucht auch in manchen Punkten nicht ganz so zu sein. Denn wo im Hause vernünfrige Grundsätze walten, wo gut und tüchtig erzogen wird, da besteht ein stillschweigendes Einverständnis zwischen den beiden Erziehungsmächten, da bedarf es nicht langen, zeitraubenden Gedankenaustausches, da werden verständige Eltern schon von selber wissen, was sie zu thun haben, auch ohne die Schule. Schule und Haus werden gewissermassen getrennt marschieren und gemeinsam schlagen, dann wird die rechte Gemeinschaft rechte Bildung und Erziehung bewirken. Wenn das Haus dem Wis- | |
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sen, Können und Wollen, auf das die Schule hinarbeitet die rechte Theilnahme schenkt, wenn sie den Eindrücken der Schule einen ‘Resonanzboden’ gewährt, in dem sie angemessen ausklingen, dann thut es das Richtige. Dass die Familienerziehung aber der
Schulerziehung voransteht, dass von jener viel mehr abhängt als von dieser, soll bei aller Werthschätzung der Schule nicht vergessen werden. Denn wo im Hause gut erzogen wird, da giebt die Schule an Erziehung nicht viel Gutes mehr hinzu, da empfängt sie vielmehr das Beste. Die besten Schüler pflegen Hauspflanzen zu sein. Es ist noch heute wie zu Luthers Tagen: ‘Das Hausregiment ist das erste, von dem alle Regimenter und Herrschaften ihren Ursprung nehmen. Ist diese Wurzel nicht gut, so kann weder Stamm noch gute Frucht folgen.’ Sorgen wir nur, dass Haus und Familienleben den Geist der Eintracht und Ordnung atme, dass Zucht und Sitte herrsche, halten wir auf Gehorsam, brechen wir den Trotz, wecken wir das Pflichtgefühl, pflegen wir daheim alles Edle, Schöne und Wahre, so wird unser Benjamin mit guten Haustugenden ausgestattet werden und er wird in der Schule keine Last machen, unser Verhältnis zur Schule wird sich angenehm gestalten; es wird an einem verständnisvollen Hin und Wider der mannigfaltigsten Beziehungen nicht fehlen. Nur da, wo uns Zweifel sich erheben, werden wir des Gedankenaustausches bedürfen, und ein solcher Gedankenaustausch wird für beide, Schule und Eltern, erquicklich und für unsern Benjamin nutzbringend verlaufen. Wir werden aber in solchen Fällen, und zwar am besten wir Väter, die Beziehung zur Schule suchen müssen; denn es ist für uns einzelne Väter leichter, den Weg zur Schule zu finden, als den Lehrern die Beziehung zu den hundert oder mehreren hundert Eltern. Anders gestaltet sich das Verhältnis, wo die Erziehung des Hauses nicht die beste ist. Wenn hier nicht ganz verständige Grundsätze walten,
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werden die Beziehungen zu einem versteckten oder offenen Widerspiel; da ist dann Gedankenaustausch sehr erwünscht, ja geradezu notwendig. Aber leider suchen ihn die unverständigen Eltern nicht gern, jedenfalls nicht freiwillig. Findet er statt, so geht er nicht immer in erquicklicher Art vor sich und bleibt meistens erforglos. Der Vater nimmt vielleicht den guten Rat der Schule an, weil er ihn für vernünftig hält, aber wenn er zur Mutter kommt und der Rat soll in That umgesetzt und verwirklicht werden, dann scheitert die Ausführung an der Schwäche des Willens und an dem gedanken-, grundsatz- und erziehungslosen Schlendrian des häuslichen Treibens. Bei manchen Eltern nützt der Rat der Schule gar nichts; sie halten sich für klüger als diese und stimmen wohl in Worten bei, im Herzen aber nicht; sie machen gute Miene zu bösem Spiel, weil die fatale Schule noch das Heft und den Sohn des Hauses in ihrer Hand hat. Schlimmer noch und geradezu unheilvoll wird die Sache, wenn es den Eltern überhaupt an gutem Willen fehlt und wenn diese die ganze Schulerziehung als eine unangenehme Last ansehen, die je eher je lieber abzuschütteln ihr Streben ist. Widerstreben gegen das Erziehungssystem, wie es sich in Frankreich in Schülerkreisen gegen die verhassten Lycees findet, ist in solchen Häusern Grundstimmung und das Losungswort gewissermassen: notre maître est notre ennemi. Die Eltern schätzen den Lehrer gering und äussern sich geringschätzig über ihn und seinen Beruf, heben seine Schwächen geflissentlich hervor, betrachten die Schule gleichsam als ein notwendiges Uebel, als eine Zwangsanstalt, die man nun einmal nicht entbehren könne, sind den Kindern behilflich, die Ordnung der Schule zu umgehen, haben für die offenbaren Unarten und Fehler ihrer Kinder stets Entschuldigungen bereit,
behandeln die Anfertigung der Hausaufgaben mit Gleichgiltigkeit, kurz, entfremden das Kind der Schule immer mehr und mehr. Jede Arbeit die dem Kinde von der Schule
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auferlegt wird, sieht man als eine Art von Unrecht an, derentwege man das arme Geschöpf bedauert. Unerlaubte Hilfe wird ihm geboten, damit es nur ja nicht zu sehr sich zu mühen braucht. Auf Kindergeschwätz hin nimmt man gegen den Lehrer Partei, und man glaubt den thörichsten Behauptungen und den Entschuldigungen der Kinder mehr als den Lehrern. Man sucht zu bemänteln und zu beschönigen und das Kind zu schützen gegen berechtigte Strafen der Schule. Selbst bis zur Unwahrheit versteigen schwache Eltern sich, um Schulstrafen vom Kinde fernzuhalten. Wenn aber der Lehrer, dem wohl einmal die Geduld reisst bei den Ungezogenheiten der Schüler, einen entschuldbaren Missgriff begeht, so stempeln solche Eltern den Knaben zum Märtyrer, und man setzt sein Vergehen überhaupt gar nicht mehr in Rechnung; über den Lehrer aber, der so und soviele Schüler zu regieren und das Verschiedenste zu gleicher Zeit zu thun hat, wird die Schale bitterster Kritik ausgegossen. Irren ist jedem anderen Menschen gestattet, dem Lehrer nicht. Dabei hört man der Erzählung dummer Streiche, durch welche die Schüler den Lehrer geärgert haben, oft mit einer gewissen Schadenfreude zu, jedenfalls nicht, wie es sein sollte, mit der nötigen Zurückweisung. Und nicht nur Eltern, auch andere Personen, als da sind Grossmütter, Tanten, Onkel und Geschwister, wirken bei diesem Widerspiel mit, um das Verhältnis des Hauses zur Schule so zu gestalten, wie es zum Segen der Kinder nicht sein sollte.
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