Germania. Jaargang 3
(1900-1901)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermdSchule und ElternhausGa naar voetnoot(*)
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mancher Beziehung Behaglichkeit und Ruhe auf; bisher hatten wir die Alleinherrschaft über Haus- und Erziehungsordnung; jetzt müssen wir unsere Herrschaft theilen, andere Mächte greifen in unseren Erziehungsbereich ein. Dieses Eingreifen wird für Benjamin nützlich und segensreich sein, wenn wir Eltern uns richtig zu den Forderungen der Schule stellen. Bei dieser Stellungnahme zeigt sich vor allem der Unterschied zwischen guter und schlechter Erziehung. Empfinden wir die Schulforderungen und Schulpflichten als eine unangenehme Last, so werden wir uns so oder so abwehrend, abgeneigt, unsympathisch, sogar feindlich zur Schule stellen in diesem oder jenem Fall; sehen wir die Forderungen als erziehungsberechtigt, nützlich, segensreich an, so werden wir Freunde derselben werden, und sie kräftig auf unseren Benjamin einwirken lassen; wir werden das Unsere nach besten Kräften leisten, um die Schulwirkungen zu verstärken. Und das sollten wir doch ja thun, denn es geht viel Segen und viel Gutes von der Schule aus. Die häusliche Erziehung ist abgerissen, lückenhaft oft planlos und deshalb unwirksam oder doch ungleichartig und einseitig. Die Schule arbeitet planvoll, zusammenhängend, umfassend, als ein historisch gewordener Organismus, dessen Wirkungskraft nicht allein von diesem oder jenem Lehrer, von diesem oder jenem Direktor ausstrahlt, sondern von einer Gemeinsamkeit der Kräfte, an denen die historische Entwicklung ganzer Generationen gearbeitet hat, und an deren Stärkung eine sorgsame Schulverwaltung täglich weiter arbeitet. Die häusliche Erziehung geht oft von Personen aus, die weder Beruf noch Vorbildung zum Erzieheramte haben, denen auch wohl jeder gute Wille zum Erziehen fehlt; Gottes Wasser läuft vielfach über Gottes Land, ohne dass stützende Dämme von Menschenhand das Land vor Schaden bewahren. Die Schule verlangt - und zwar heute mehr denn je - von ihren Lehrern erzieherische Vorbildung vielseitiger und gründ- | |
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licher Art, und den erzieherischen Willen macht sie den Lehrern einfach zur Pflicht. Die Eltern haben vielfach wenig psychologische Einsicht und wenig Ahnung von dem Seelenleben und der Geistesentwicklung ihrer Kinder; von den Lehrern verlangt man diese psychologische Einsicht; besitzen sie sie nicht, so sind es eben Stundengeber und geistlose Handlanger im pädagogischen Weinberg. Eltern haben auch wohl, weil man über nichts sich mehr aufregt als über die Thorheiten und Dummheiten des eigenen Fleisches und Blutes, nicht die nötige Ruhe, Geduld und Ausdauer, die nun einmal mit durchgreifender Zucht und guter Erziehung unzertrennlich verknüpft sind. Dem Lehrer würde man es sehr übel nehmen, wenn er nicht Ruhe und Geduld als seine erste und beste Tugend ansähe; und sollte ihm auch einmal die Galle überlaufen, wenn Jugendübermut und Jugendeseleien zu konzentriert und ungemütlich an ihn herantreten, er hat amtlich kein Recht dazu; denn er ist der berufene Vertreter der Geduld. Die häusliche Erziehung leidet auch in anderer Beziehung an Einseitigkeit: Standes-und Berufsvorurteile, Familienegoismus und Familienstolz, Protzentum und Beamtendünkel im bunten Gemisch üben dort schlechte Wirkungen aus; die Schule als grosse einheitliche Genossenschaft, als Gesamtheit drängt das einzelne Kind zurück, das es dasitzt, in seines Nichts durchbohrendem Gefühle, wenn auch der Vater Oberregierungsrat, Oberstleutnant oder Geheimer Kommerzienrat ist; reich und arm, hoch und niedrig gilt hier gleichviel: nicht Herkommen, Stand und Reichtum wird hier eingeschätzt, sondern Wissen und Können und Leistungen, kurz der Mensch, so wie ihn Gott geschaffen, die Familie erzogen hat und er sich selber zu bilden und zu erziehen bemüht ist. - Die häusliche Erziehung vermittelt ja auch Wissen und Können, aber dieses bleibt doch meist etwas unbewusst, ungeordnet, dilettantisch, absichtslose Beschäftigung und | |
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Spiel; die Schule schafft Bewusstsein, System, festen Lebensinhalt und Belohnung, indem sie ideelle Güter als Vorbedingung des Lohnes hinstellt und nicht materielle Güter, die den Eigennutz fördern. Zu Hause kommen allerhand hilfreiche Hände unserem Benjamin zu Hilfe; Nachgiebigkeit, zärtliche Sorgfalt von Mutter und Mutterstützen wirken zusammen, um zu pflegen und zu hätscheln. Die Schule stellt unseren Benjamin auf eigene Füsse; hier muss er sich selber helfen, nicht nur der Lehrer, auch die Schulkameraden sind da, unter denen sich der junge Erdenbürger zurechtfinden muss in selbständigem und selbstthätigem jugendlichem Kampfe ums Dasein; hier heisst's leiden oder triumphieren, Ambos oder Hammer sein. Zu Hause kann der junge Herr oft machen, wass er will, besonders wenn er gewohnt ist, unter Dienern und Dienerinnen und schwachen Angehörigen zu dominieren; in der Schule hat er zu gehorchen und im Dienste der Pflicht zu thun, was ihm geboten wird. - Es ist leider notwendig, dass man alles dieses einmal betont; denn es wird gerade in unseren Tagen an der Schule viel herumgenörgelt, weil man nur das sieht, was sie nicht leistet, nicht aber das, was sie Positives schafft, weil man die stillen Wirkungen, die von ihr ausgehen, nicht schätzt, da man an laute Wirkungen daheim sich allzusehr gewöhnt hat. Es muss denn doch einmal gesagt werden, das gerade da, wo laut geklagt wird, der Balken nicht gesehen wird, wohl aber der Splitter in des andern Auge. Stellenweise sind die erzieherischen Wirkungen des Hauses doch erbärmlich gering; sie beschränken sich in manchen Häusern auf Erziehungsausstrahlungen höchst zweifelhafter Wirkung, nähmlich auf Jammern und Klagen der Mutter über die ungezogenen ‘Bengels, Rangen oder Blagen’ und auf eine impulsive Tracht Prügel, die der Vater, der just schlechter Laune ist, über den armen Benjamin zu unrechter Zeit und Stunde und bei möglichst unpassender Gelegenheit herabhageln | |
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lässt. - Mit solchen Betrachtungen wären wir Eltern nunmehr in die nötige bussfertige und erziehungsbereite Stimmung gelangt, um mit Erfolg zu beobachten, welche segensreichen Forderungen im einzelnen von der Schule ausgehen, und um mit Bereitwilligkeit diesen Forderungen gegenüber uns empfänglich und zu Gegenleistungen bereit zu erklären. - Vor allem ist es ein unschätzbarer Segen der Schule, dass sie zu Gehorsam erzieht, - da Gehorsam die Grundlage aller Tugenden ist. - Den Segen der Schule für den Gehorsam werden besonders die Eltern empfinden, die Gehorsam nicht ihren Kindern anerzogen haben, die bisher nicht gewusst haben, was sie aus eigenem Antrieb hätten thun sollen. Kommt der Junge in die Schule, so ‘muss’ er, und sie müssen mit; halb zieht die Schule solche Eltern, halb sinken sie schliesslich hin in Selbstzerknirschung ob eigener Erziehungssünden, oder aber - Benjamin wird an die Luft gesetzt. Denn denjenigen Eltern, welche sich den Bestimmungen der Schulordnung nicht unterwerfen, oder deren Beziehungen zur Schule sich so gestalten, dass auf ein gedeihliches Zusammenwirken von Schule und Haus nicht gerechnet werden kann, werden ihre verzogenen Schlingel schliesslich von der Schule zurück- und anheimgegeben. Und das ist auch gut so. Denn Gehorsam ist des Christen Schmuck. Und ohne diesen kann weder Schule noch Leben mit Benjamin etwas anfangen. Sodann übt die Schule einen erfreulichen Einfluss auf den Ordnungssinn unseres Benjamins aus. Darin sollen wir ihr nach Möglichkeit helfen. Denn alle Unordnung ist Zeitvergeudung. Wer nicht weiss, was er zunächst beginnen soll, nicht weiss, wo er seine Sachen liegen hat, um zu beginnen, wer sich keinen Arbeitsplan und keine Arbeitsordnung macht, verliert Zeit. An alle Ordnung knüpft sich der rechte Segen der Arbeit. Denn Aeusseres und Inneres hängen miteinander zusammen, äussere | |
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geregelte Thätigkeit und innere Gesinnung laufen vielfach parallel. Man gewöhne deshalb schon früh den Knaben, dass er ordentlich forträumt, was er zu Spiel oder Arbeit gebraucht hat, dass er am Abend zuvor die Bücher für den anderen Tag zusammenlegt und nicht erst tumultuarisch am Morgen beim Sturm in die Schule; man gewöhne ihn, dass er ein ordentlich geführtes Aufgabenbuch der häuslichen Thätigkeit zu Grunde legt; man gewöhne ihn auch daran, dass alles an bestimmter Stelle liege; alles an seinem Ort und nicht hier und dort; dann erspart man sich und dem Kinde viel Mühe und noch mehr Zeit. - Dazu bedarf's gar nicht einer Menge von Vorschriften, sondern Konsequenz und guter Gewohnheit von Fall zu Fall, sowie beständigen Anregens, Einlenkens und Achtgebens auf das Kleine und Kleinste. Wer das Kleine nicht acht't, hat zum Grossen nicht Macht; darin ist Ordnung mit Sparsamkeit verwandt, die ohne den Satz, dass viele Pfennige einen Thaler machen, nicht bestehen kann. Auch an Pünktlichkeit gewöhnt die Schule und soll das Haus unsern Benjamin mitgewöhnen. Pünktlichkeit ist nicht nur die Höflichkeit der Könige, sie sollte jedermanns gute Sitte sein. Aber leider ist heutzutage vielfach das Gegenteil der Fall. Manche Leute suchen gerade etwas darin, unordentlich zu sein, d.h. zu spät zu kommen; das soll interessant machen und soll fein sein. Unserm Benjamin wollen wir aber königliche Tugenden und nicht die Untugenden beschränkter Unterthanen angewöhnen. Die Schule thut das ihrige; unterstützen wir sie darin, damit Benjamin schon frühe an den richtigen Gebrauch der Zeit sich gewöhne und den Grundsatz beherzige: Gebraucht der Zeit, sie flieht so schnell von hinnen! Doch Ordnung lehrt uns Zeit gewinnen. Eine andere Schultugend und Schulpflicht ist Fleiss und Selbstthätigkeit. Wir sollen, um diese zu erzeugen, ja nicht | |
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ängstlich und unablässig gängeln; dann hält man zu leicht den Willen in Schwachheit darnieder, man hindert fröhliches Wagen und mutiges Tragen schwerer Arbeitslast. Man gewähre deshalb so viel freien Spielraum als möglich. Selbst wenn Benjamin sich einmal zu viel getraut, schadet's nicht; denn misslungene Versuche sind lehrreich; wohlgelungene Versuche aber auf eigene Hand kräftigen den Willen und heben die Selbstthätigkeit und den Fleiss. Ist nun unser Benjamin gut beanlagt, hat er Interesse für das, was zu lernen ist, und dazu einigen guten Willen, so wird er schon arbeiten mit Selbstvertrauen und einigem Erfolg. Schule und Haus haben dann wenig oder gar nichts zu thun. Wenn aber eines oder das andere fehlt, dann muss geholfen werden, dann gilt's Mut, Selbstvertrauen und Selbsttätigkeit zu schaffen und arbeiten zu lehren. Wohl uns, wenn eine gute Schule und tüchtige Lehrer neben massvollen Forderungen an das Arbeitsquantum rücksichtslose Forderungen stellen an die genaueste Erfüllung der Pflicht, wenn die Lehrer oder dieser und jener unter den Lehrern nicht der Bequemlichkeit huldigen und Aufgaben geben, ohne deren Lösung genügend vorbereitet und sorgsam überdacht zu haben, wenn sie es nicht dem Hause überlassen, sich selbst zu helfen. Ist aber trotz guter Schule, trotz guter Lehrer, kein rechter Fleiss da, so gilt's zu ergründen, woher das kommt. Liegt Langsamkeit oder Denkmüdigkeit vor, so forsche man nach, ob das Uebel körperlicher oder geistiger Natur ist. In jenem Falle ist Schonung nötig; in diesem pflegt mangelhafte Uebung, Verwöhnung und Verhätschelung der Grund zu sein. Die Verwöhnung rührt vielfach her von zu starker häuslicher Hilfe, die dem Kinde die Mühe des eigenen Nachdenkens zu viel abgenommen und ihm eine gewisse Scheu vor eigener Thätigkeit geradezu anerzogen hat. Ist Interesselosigkeit und Gleichgiltigkeit der Grund der Faulheit, | |
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so wird man versuchen müssen, das Interesse zu wecken von irgend einer Seite her; vor allem wird man an irgend einem Punkte das Können anregen müssen. Bei gutwilligen Jungen wird das gelingen, wenn auch nicht beim ersten Versuch. Dass es - abgesehen von wirklich Schwachsinnigen - Kinder geben sollte, die auf nichts eingehen, ist kaum wahrscheinlich. Die Erfahrung lehrt vielmehr, dass irgend ein springender Punkt für geistige Arbeitslust in fast jedem Kinde vorhanden ist. Hat man diesen Punkt erst gefunden, so hat man gewonnen Spiel.-Wo aber Flatterhaftigkeit, Nachlässigkeit und Denkfaulheit vorliegt, greife man frühzeitig energisch ein; feste Arbeitseinteilung und rücksichtslose Konsequenz im Fordern des zu Leistenden ist hier geboten; man zeige in solchen Fällen unüberwindliche Geduld, lasse nicht nach, immer wieder den Trägen aufzurütteln durch strenges Fordern, und bitte Lehrer und Schule mitzuhelfen am Werke. Sieht der Junge, dass ihm seine Nachlässigkeit immer neue Unbequemlichkeiten verursacht, das Faulheit ungemütlicher ist als der Fleiss, so wird er sich ganz allmählich gleichmässiger Arbeit zuwenden, wenn wir nur Geduld behaupten. ‘Geduld frisst den Teufel’, sagt der Volksmund; weshalb sollte sie Faulheit nicht treffen? Selten befinden sich auch die Kinder auf die Dauer wohl in ihrer Faulheit; wohler wird ihnen, wenn sie an irgend einem Punkte Freude bereiten und selber Freude empfinden. Verstehen wir solche Freudenanfänge und solche erste Regungen innerer Befriedigung im richtigen Augenblicke auszunützen, so werden wir schliesslich doch Sieger bleiben im Kampfe gegen die Faulheit. Vor allem sollen wir uns hüten, sofort zu den letzten Zufluchtsmitteln zu greifen, zu Strafen, möge es nun Freiheitsentziehungen, irgendwelche Beschränkungen an Freundlichkeiten oder Prügel sein. Der Faule ist meist phlegmatisch und dickfellig; er wird gern seinen Körper exponieren, wenn er geistige Arbeit | |
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dadurch abverdienen kann. Ebensowenig werden Belohnungen besondere Wirkung thun, die etwa als Lockmittel vorgehalten werden. Zuckerbrot und Peitsche wirken nur die ersten Male; sie verlieren bald ihre lockende Wirkung, falls nicht Steigerung eintritt. Und totschlagen und aufhängen können wir unseren Benjamin ebensowenig, als wir ihn mit Schlagsahne und Chocoladecrême zu nudeln im Stande sind. Ganz anders liegt die Sache, wenn es sich um eine ausserordentliche Ueberwindung fehlerhafter Neigungen und um ausserordentliche Fleissesleistungen handelt: dann sollen wir mit Belohnungen nicht geizen. - Auch den Ehrgeiz allzu stark zu erwecken, ist vom Uebel. Wer fleissig ist, um Bewunderung und äussere Ehrung einzuheimsen, um sich vor anderen hervorzuthun, leidet trotz seiner Fleissestugend sonst soviel Schaden an seiner Seele, dass man ihm Faulheit anwünschen möchte; dass wir schlichtes Ehrgefühl wachrufen sollen, bleibt selbstverständlich; diesem ist es aber nur zu thun um die Achtung und Liebe der Eltern und Lehrer und um den Frieden, der aus Selbstachtung entspringt. Dies Gefühl sollen wir also ja wachhalten und erwecken mit schlichter. Anerkennung und freundlichem Blick, Wort und Zuspruch. Diese Fingerzeige mögen uns auf den richtigen Weg führen, um unseren Benjamin zu helfen; wir werden noch sicherer auf diesen Weg kommen, wenn wir davor warnen, gleich mit Privatunterricht und Nachhilfe einzugreifen. In der pädagogischen Apotheke der meisten Eltern ist aber dieses Mittel das einzige, das Haupt- und Universalrezept, wenn der Junge nicht vorankommt, so wie Wienertrank und Kamillenthee das Universalmittel in der vormärzlichen Hausapotheke unserer Alltvordern war - in möglichst grossen Dosen verabreicht. Die meisten Eltern greifen zum Privatunterricht und nehmen sich Hauslehrer ohne Not, ohne die nötigen Vorfragen zu stellen, ohne den Versuch gemacht zu haben, die Krankheiten zu verhüten, zu deren | |
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Heilung die Wundermixtur des Privatunterrichts angewandt wird. Ich deute einige Vorfragen an, die jeder Vater und jede Mutter je nach den besonderen häuslichen Verhältnissen vermehren kann: Hat unser Benjamin ein stilles und wohlbeauf-sichtigtes Arbeitsplätzchen im Hause? Es ist ja durchaus nicht nötig, dass Vater, Mutter oder sonst jemand vor dem jugendlichen Arbeiter sitzt und ihm beständig aufpasse; aber - besonders in der ersten Zeit seiner Schulthätigkeit, wo er arbeiten lernt, - ist Beobachtung gut, die sich möglichst wenig aufdrängen, die unsern Benjamin selbsthätig schaffen lassen soll und auch vom Nebenzimmer aus geschehen kann. Eine weitere Vorfrage: Liegt der Arbeitsplatz fern von dem Raume, wo die anderen Kinder spielen? Stört nicht etwa alle Augenblicke eine polternde Dienstmagd den Arbeitsfrieden oder laute Arbeiten und allerlei Geschwätz der erwachsenen Töchter des Hauses oder gar die klappernde Nähmaschine der Mutter oder eines anderen weiblichen Wesens? Liegt das Zimmer nicht etwa an belebter Strasse, so dass Benjamin verführt wird, alle Augenblicke hinauszuschauen und seine berechtigte Neugierde zu befriedigen? Ist früh genug gesorgt, dass er solche Ablenkungen heroisch abwehrt? Ist auch für gute Arbeitsdiät gesorgt, d.h. hat sich unser Benjamin genügend erholt nach der Schularbeit, und hat er andererseits nicht zu lange sich zerstreut, so dass er nicht wieder in die Arbeit sich hineinfinden kann? Es kommt ja leider vor, dass Kinder ganze Nachmittage an Arbeitstagen spielen, spazieren gehen, lesen und erst Abends, wenn sie verspielt und müde sind, an die Arbeit sich setzen müssen. Ist ferner Essen, Schlafen und Trinken dem Alter angemessen? Sind die Speisen nicht zu mächtig und gewürzt, so dass heisses Blut und schwerer Bauch eingenommene Köpfe machen. Bekommt Benjamin nicht zu viel Bier und Wein? Nötig hat er derartiges ja gar nicht. Ein saftiger Apfel würde bessere Dienste thun, wenn | |
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es war ist, was Aerzte versichern, dass er Stoffe enthalte, welche die Gehirnsubstanz kräftigen. Schläft der Junge auch genug? Oder lasst ihr ihn abends zu lange mit den Erwachsenen autbleiben? Denn dass ihr den kleinen Burschen mit ins Konzert und Theater schleppt, ist doch kaum anzunehmen, da ihr Verstand habt. Eine weitere Vorfrage: Bringt Benjamin Ernst, Trieb und Eifer zur Arbeit aus der Schule mit? Ist er wohl aufmerksam dort gewesen? Oder scheint er geschlafen zu haben oder mit seinen Gedanken ausserhalb der Schule spazieren gegangen zu sein, während er mit ihnen in der Schule sein sollte? Was hat er für Umgang? Liest er zu viel, vielleicht gar Bücher, die für sein Alter durchaus ungeeignet sind? Eine andere Frage ist auch die, ob von Eltern immer das richtige Mass gehalten wird in betreff der Anforderungen an den Privatfleiss ihrer Kinder. Diese Anforderungen gehen oft zu weit, weil man glaubt, unablässige Arbeit sei unbedingt nötig. Auch setzen sich die Eltern nicht zu richtiger Zeit und in richtiger Weise mit der Schule in Beziehung. Wenn der Sohn um Rat, Hilfe und Aufschluss über dieses und jenes bittet, denken Eltern sofort, nur ein Privatlehrer könne helfen, während Rücksprache mit den Klassenlehrern manches klären könnte. Vielleicht giebt unser Benjamin schlecht acht in der Schule, vielleicht versteht er den Lehrer nicht immer ganz und bittet nicht immer ganz in angemessener Weise um Erklärung und Aufklärung. Vielleicht liegt auch an der Art, wie in der Schule dieses oder jenes zu rasch und zu wenig eindringlich behandelt wird, der Grund mangelnden Mutes und mangelnder Selbsttätigkeit des Schülers. Aussprache des Vaters mit dem Lehrer wird hier klären. - Verlangt ferner nicht in manchen Fällen das Haus zu schnelles Fortrücken des Schülers, überschätzt es nicht seine Begabung, liesse es nicht besser den Jungen ein Jahr länger in dieser oder jener Klasse, anstatt mit gewaltsamen Privatmitteln auf ihn loszuar- | |
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beiten? Hat man diese und ähnliche Fragen sich ernstlich gestellt und gewissenhaft beantwortet, hat man alle Schwierigkeiten, Störungen und Hemmnisse des Fleisses und der Selbsttätigkeit beseitigt, dann wird in den meisten Fällen Privatunterricht sich als unnötig erweisen; nur dann, wenn der Junge etwa dumm ist, dass er allein nicht denken und ohne Privatstunde nicht fertig werden kann, mag solcher Unterricht als Notbehelf eintreten. Gesunder wäre es in diesen Fällen, man liesse dem Knaben überhaupt keine höhere Bildung geben, sondern liesse ihn sich begnügen mit der Elementarbildung; aber, wie die Dinge liegen, werden Familienwünsche, Standesfragen und Berechtigungswünsche hier stärker sein als die Frage nach Begabung und Beanlagung des zu höherer Bildung zwangsweise gepressten Jungen. Der Not der Verhältnisse gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, muss er sich höhere Bildung aneignen, und da die Schule dicht in der Lage ist, dem Beschränkten einen Nürnberger Trichter darzubieten, so muss eben Privatnachhilfe hinzukommen. Wo diese aber nötig ist, da sei man nicht ungerecht gegen den armen Privatlehrer. Er kann nicht im Handumdrehen den Faulsten fleissig, den Dümmsten klug, den Langsamen hurtig im Denken, den Unordentlichen ordentlich und den Zerstreuten aufmerksam machen, zumal ihm ja auch in vielen Fällen die Macht und Freiheit arg beschränkt ist. Recht durchgreifend zu wirken giebt man ihm selten die Machtvollkommenheit. Wirkliches Erziehen erfordert jedoch meist kraftvolle Strenge und wuchtiges Auftreten. Beides ‘lieben’ aber viele Eltern nicht; sie verlangen für ihr Geld absolute Glätte: die Heiterkeit und Ruhe soll ihnen nicht gestört werden. Zum eigentlichen Erziehen ist ja auch der Privatlehrer nicht genommen, sondern zum Unterrichten und zum möglichst raschen Einlernen dessen, was der Junge in der Schule wissen muss. Gelingt dem Lehrer das nicht schnell genug, so pflegt er die | |
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Schuld zu tragen, pflegt man ihm die Vorwürfe zu machen; der dumme Junge aber ist unschuldig an allem, er ist das Opfer schlechten Unterrichts. So pflegt's in vielen, in den meisten Fällen zu gehen. Und da so vieler Privatunterricht nutzlos ist, sollte man ihn beiseite lassen. Nur dann ist er angebracht, wenn etwa beim Uebergang in eine höhere Klasse in einem einzigen Unterrichtsfache ein bedeutsames Manko vorhanden ist, das rascher Ausfüllung bedarf, wenn längere Krankheit Lücken erzeugt hat, wenn der Junge in eine neue Anstalt eintritt, die schon weiter vorgeschritten ist, oder aber - und das ist ein trauriger Fall - wenn der arme Junge lernen soll, weil er aus einer Familie stammt, in der höhere Bildung zum guten Ton gehört, wenn er aber vor Dummheit nicht allein lernen kann und des Surrogatverstandes eines anderen absolut bedarf. Ehe wir die Erörterungen über den Fleiss verlassen, noch eine Frage im Vertrauen an die Eltern: Seid ihr selber fleissig? Gebt ihr den Kindern ein gutes Vorbild? Sollte das nicht der Fall sein, faullenzt der Vater in verhältnismässig jungen Jahren, schliesst sich die Mutter ihm darin an, so hat der Junge nichts Gutes zur Nacheiferung vor sich. Sieht er aber den Vater in tüchtiger Arbeit, sieht er bei diesem rechte Lust an freudigem Schaffen, und ist auch die Mutter eine arbeitsame, freudig schaffende Hausfrau, dann ergiebt sich aus dem Zusammenleben, Zusammenwirken und der Wechselwirkung der Fleiss als etwas Organisches; er ist eine selbstverständliche gute Sitte und Gewöhnung des Hauses. ‘Wie der Acker so die Ruben, wie der Vater so die Buben’. Wehe aber dir und deinem Benjamin, wenn du in frühen Jahren ein Rentner bist, der nichts zu thun hat und nichts zu thun weiss. Von der faulen Haut, auf welcher du liegst, wird der Sohn zu eigener Ruhestätte auch bald ein Zipfelchen für sich ergattern. - (Schluss folgt.) |
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