Germania. Jaargang 3
(1900-1901)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermdVorgeschichte, Bedeutung und Kritik des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche ReichDieser Aufsatz ist einer bedeutenden demnächst zum Abschluss kommenden dreibändigen Darstellung des neuen Deutschen Rechtes von Dr. Kuhlenbeck, die unter dem Titel ‘Von den Pandekten zum Bürgerlichen Gesetzbuch bei Karl Heymann Berlin herausgegeben wird, entnommen. | |
(Fortsetzung)Der so von der Volksvertretung angenommene Gesetzescodex ist mit Gesetzeskraft von 1. Januar 1900 ab durch das Reichsgesetzblatt vom 24. August publizirt worden, nachdem er am 9. Juli 1896 die Sanction des Bundesraths und am 9. Juli 1896 die Ausfertigung des Kaisers erlangt hatte. Zweifellos bildet nun dieses Datum einen bedeutsamen Einschnitt in die deutsche Rechtsgeschichte. Naturgemäss liegt die Frage nah, ob mit demselben Augenblick die alten Wünsche eines Leibnitz, eines Thibaut in Erfüllung gegangen sind, ob wir, um die oben citirten Worte des Hannoverschen Polyhistors und Philosophen zu wiederholen, einen Codex ex evidenti aequitale brevis, clarus, sufficiens erhalten haben, ja ob gar dem deutschen Recht nach Jahrhunderte langer Todtenstarre die Auferstehungsstunde geschlagen hat. | |
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An glänzenden Versicherungen berufener Redner und Schriftsteller fehlt es nicht, die uns diese Frage bejahen. Dem fleissigen Leser und Studirenden, der sich etwa durch meine trockene Darstellung des Stoffes in den vorliegenden drei Bänden bis zu diesem Rückblick hindurch gearbeitet haben sollte, will ich zu seiner geistigen Erquickung einige blumenreiche Sätze nicht vorenthalten, die sich in einer in der Sitzung des Reichstags vom 4. Februar 1896 gehaltenen Rede des Professors Sohm finden. (Vgl. Zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in den Reichstag. Reden des Staatssekretärs des Reichsjustizamts Wirklichen Geheimraths Nieberding, des Geheimen Justizraths Professor Dr. Planck, und des Professors Dr. Sohm [Carl Heymanns Verlag 1896].) S. 40: ‘Niemand weiss genau, wie viel Rechte heute in Deutschland noch gültig sind. Ein bunt gekleidetes Recht, hier schwarz-weiss, da roth-weiss, dort grün-weiss, dort blau-weiss u.s.w. Aus bunten Lappen setzt sich heut das Kleid des deutschen bürgerlichen Rechts zusammen, - ein Narrenkleid, Harlekin! Und jetzt soll durch dieses Gesetzbuch dem deutschen Recht das Königskleid angezogen werden. Welche Umwandlung!’ - ‘Römische Technik und doch deutsch!’ - ‘Bedenken Sie, meine Herren, noch schläft der Entwurf - Dornröschen! In demselben Augenblick, wo ihr Machtwort, das Machtwort des deutschen Reichs den Entwurf zum Leben erwecken wird, in demselben Augenblick - welch' anderer Anblick! Da wird die Dornenhecke in einen blühenden Rosenhaag verwandelt sein, da wird der König erwachen, da wird das Wasser sieden und der Braten schmoren, und der ungezogene Küchenjunge wird - nach der Gesindeordnung- seine OhrfeigeGa naar voetnoot(1) bekommen.’ | |
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In demselben panegyrischen Style preist nicht in einer Rede, sondern in einer 181 Seiten starken SchriftGa naar voetnoot(2) der Rechtsanwalt Dr. Schwering die neue Codification; ich gebe daraus folgende Probe: ‘Unsere Zeit steht unter dem Stern der Naturwissenschaft; die grossartigen Entdeckungen der neueren Zeit wandten dem Naturforscher und Techniker das Interesse der ganzen Welt zu. Neuerdings war es der Jurist, der am Webstuhl der Zeit sass. An Stelle des Narrenkleides, zusammengesetzt aus vielen Lappen, hat er dem deutschen Volke ein “gülden Gewand gewirkt”Ga naar voetnoot(1). Was die Besten der Nation von Thibaut und Görres bis anf die Gegenwart herbeigesehnt haben, ist nun in Erfüllung gegangen; ist doch das gemeinsame Recht, wie der um das Werk der Rechtseinheit hochverdiente Professor Planck im Reichstage hervorhob, nächst der gemeinsamen Sprache die edelste und köstlichste Frucht des nationalen Geistes, zugleich aber auch das stärkste und festeste Band der nationalen Einheit. Dass wir das Bürgerliche Gesetzbuch für eine des Deutschen Reiches durchaus würdige Schöpfung halten, haben wir dargelegt. Die Rechtsbücher des Mittelalters, die “Spiegel” des damaligen Rechtszustandes, waren im Hinblick auf die erreichte Stufe der juristischen Kunst und Technik bedeutende Schöpfungen. So hoch man sie auch schätzen mag, von einer Zusammenstellung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch kann gar keine Rede sein; es | |
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hiesse unsere Rolande mit dem Zeus des Phidias in Vergleich stellen.’ Mit diesen Lobreden contrastiren aber auch anders erklingende Stimmen gewichtiger Autoritäten. Nach damals durch die Tagesblätter, zunächst durch die Hamburger Nachrichten gemachten zuverlässigen Mittheilungen hat der Begründer des neuen Reichs, der grosse Reichskanzler Fürst Otto v. Bismarck, der dem Zustandekommen dieses grossen Gesetzgebungswerks aus seinem Asyl im Sachsenwalde zuschaute, keineswegs eine so überschwängliche Meinung von dessen Werthe gewinnen können. Ja, er hat es gelegentlich - ein starker Gegensatz zum Zeusbilde des Phidias Dr. Schwerings - eine Pandorabüchse genannt, von der mit Ausnahme der Juristen Niemand recht wisse und ahne, wieviel Gifte und Dolche sie berge. Wenn man nun eine solche Bemerkung des grössten deutschen Staatsmanns, der in gewissem Sinne der Erwecker unseres nationalen Gewissens genannt zu werden verdient, da er über seiner Lebensbeschäftigung mit dem öffentlichen Recht, selbstverständlich das Privatrecht vergessen konnte, auch nicht für autoritativ erachten will, so war doch Otto v. Bismarck in einem der hier berührten Punkte kein Laie, nämlich in der Beurtheilung des Werthes einer solchen privatrechtlichen Gesetzgebungsleistung für die Erhaltung des von ihm mit Blut und Fisen geschaffenen Reiches. Unter den buschigen Augenbrauen des Gewaltigen dürfte einer jener sarkastischen Blicke hervorgeblitzt haben, wenn er jemals die kühne Behauptung gelesen oder vernommen haben sollte, das ‘stärkste und festeste Band der deutschen Einheit’ sei von zwei fleissigen Gelehrten-Commissionen auf dem Reichsjustizamt geschmiedet. ‘In Ansehung der deutschen Einheit’, - um einmal im Style des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu sprechen, - wenigstens wie ein Otto | |
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v. Bismarck sie verstand, dürfte doch wohl die privatrechtliche Uniform nicht viel bedeuten, ‘es sei denn, dass’ bewiesen werden könnte, auch das corpus juris, das ja bis zur oben erwähnten Beseitigung durch die Fridericianische und Oesterreichische Codification in Preussen und Oesterreich auch ein derartiges Band um das damalige heilige römische Reich deutscher Nation geschlungen hat, hätte den Zerfall dieser Ruine im Jahre 1806 verhüten können. Andererseits haben wir lebenskräftige Bundesstaaten, z. B. die Vereinigten Staaten Nordamerikas vor Augen, die bislang nach einer privatrechtlichen Uniformität nicht das mindeste Bedürfniss beweisen. Eine lebhafte Warnung gegen die Annahme des neuen Codex veröffentliche noch kurz vor seiner Annahme durch den Reichstag ein gründlicher Kenner deutschen Rechts und deutscher Rechtsgeschichte, Professor Dr. Gierke in einer Reihe von wohl durchdachten Aufsätzen in der Täglichen Rundschau, die als Sonderabdruck in Carl Heymanns Verlag in Berlin 1896 erschienen sind. Da diese Warnung ungehört verhallt ist, nimmt sie jetzt den bleibenden Werth einer Kritik in Anspruch deren zutreffende Wahrheit ich persönlich um so mehr empfinde, als ich von einem ganz anderen Ausgangspunkte aus, nämlich um an den bisherigen Dualismus der Rechtsbildung zu erinnern, in gewissem Sinne vom ‘römischen’ StandpunkteGa naar voetnoot(1) aus mit diesem ‘germanistischen’ Urtheil zusammen treffe. Vielleicht am schärfsten und etwas an die ‘Pandorabüchse’ Fürst Bismarcks anklingend hebt sich aus dieser Kritik folgen- | |
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der Satz heraus: ‘Man hat den unbestimmten Eindruck, dass (im Bürgerlichen Gesetzbuch) auf Grund der verwirklichten Voraussetzungen die verschiedensten Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden können, und den bestimmten Eindruck, dass noch niemals in der Welt ein so verzwicktes, undurchsichtiges, überkunstliches Recht gegolten hat, wie es hier geschaffen worden ist.’ Gierke hat auch zur Characteristik des Geistes des Bürgerlichen Gesetzbuchs den treffenden Ausdruck gefunden: Abstracte Casuistik. Die abstracte Casuistik des Bürgerlichen Gesetzbuchs will offenbar die allwissende Vorsehung spielen, die es dem Richter ermöglicht, falls er in diesem Paragraphenlabyrinth heimisch ist, jeden Fall aus den Paragraphen herauszurechnen, nicht zwar als eine viva vox legis, sondern als juristische Rechenmaschine. ‘Aber jeder Versuch, das Rechtsleben in Formeln zu bannen und die Entwickelung der Zukunft begriffsmässig zu meistern, muss scheitern. Alles Menschenwerk ist Stückwerk. Will es mehr sein, will es leisten was nur göttliche Voraussicht vollbringen könnte, so stiften selbst seine Tilgende Verderben. Ein weises Gesetzbuch muss bescheiden sein. Nicht abgeschlossene Formeln, sondern entwickelungsfähige Rechtssätze muss es bieten. Schlichte, klare kernhafte Rechtssätze, die der Rechtsanwendung eine feste Grundlage sichern, ohne ihre freie Entfaltung zu hemmen. Solche Rechtssätze können nicht gleich mechanischen Vorrichtungen wirken, so dass sich mit ihnen das Ergebniss für jeden Fall im Voraus errechnen liesse’ (Gierke, a.a. O. Sonderabdruck S. 14). Dass das Bürgerliche Gesetzbuch ein für das Volk, auch für die Gebildeten im Volke, soweit sie nicht Juristen sind, ebenso unbrauchbares Buch ist, wie etwa Vega's logarithmischtrigonometrisches Handbuch für einen kaufmännischen Buchhalter, werden seinen kühnsten Verehrer unter den Juristen der Gegen- | |
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wart nicht bestreiten können. Hierin liegt ja auch die natürliche Erklärung für die Theilnahmlosigkeit der Volksvertretung bei seiner gleichwohl mit echt parlamentarischer Unverantwortlichkeit erfolgten Erledigung. Fügen wir uns aber auch in die zur Zeit nun einmal unvermeidliche fachgelehrte Exclusivität der ‘Rechtswissenschaft’ und vergessen wir, dass nach deutscher Affaussung das Recht sein sollte ‘ein gemeines Gut’, - wir thun es nur, quia contra principia negantem disputari nequit - so bleibt doch die Frage unabweislich, ob und wie weit es auch nur für den Juristen verständlich ist. Da glauben wir denn weiter des Zugeständnisses fast allgemein sicher zu sein, dass das Bürgerliche Gesetzbuch vielleicht das erste Gesetzbuch im Verlaufe der Gesetzgebungsgeschichte ist, welches ohne Commentar, in einfacher Textausgabe, auch für den zünftigen Gesetzeshandwerker unbrauchbar ist und anscheinend sein will. Dies beruht auf einer durch zahllose Verweisungen bislang unerreichten Breviloquenz, durch welche post mortem das gute alte Preussische Landrecht mit seinem in flüssiger Paragraphenfülle sanft hingleitenden breiten Strome bei manchem alten Praktiker nachträglich noch zu unverdienter Werthschätzung gelangen möchte. Der Text des Bürgerlichen Gesetzbuchs schickt uns mit solchen Verweisungen sozusagen von Pontius zu Pilatus; der Paragraph, auf den man verwiesen wird, verweist nicht selten wieder auf mehrere weit auseinander liegende andere Paragraphen, und geradezu eine Art logischer Algebra mit Substitutionen, Combinationen, Permutationen und Aufsuchung des Exponenten ist oftmals nöthig, um zu einem Fazit zu gelangen, dessen praktische Brauchbarbeit noch dazu vorher nicht einmal gemuthmasst werden kann; denn wer weiss, welche, und ob überhaupt einer der citirten Paragraphen ihn in dem ihm vorliegenden Falle etwas angeht. Den Praktiker wird es mit dieser ‘Technik’ schwerlich aussöhnen, dass solche | |
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Verweisungen hin und wieder auf Probleme führen, die einem um eine Doctordissertation verlegenen Candidaten ein würdiges Thema liefern können (wie z. B. die bei der sog. Fahrnissklage [Klage aus früherem Besitz beweglicher Sachen] vorliegende Verweisung auf ein landwirtschaftliches Grundstück, B.G.B. § 1007, vgl. § 988, Th. II S. 473 dieses Werks)Ga naar voetnoot(1). ‘Nimmer ruhend
Führt jähen Zugs es mit sich fort die Geister
Zur Qual umher sie schüttelnd und sie schwingend,
Wenn an des Abgrunds Nähe sie gelangen.
(Dante, Inferno, c. V.)
‘Römische Technik!’, sagt Professor Dr. Sohm (S. 509 oben). Dieses Wort und dieser Begriff stammt unseres Wissens von v. Ihering, der uns in classischer Weise in seinem Geist des römischen Rechts, Th. II, § 97 darlegt, mit welcher Virtuosität die römischen Juristen sich ihrer bedienten. Aber v. Ihering verstand unter römischer Technik vor Allem eine principielle Gestaltung, die uns das Nachschlagen und Umblättern im Codex erspart, eine logische Concentration des Stoffes, eine qualitative Vereinfachung des Rechts. Als einigermassen Kenner v. Ihering'scher Geistesrichtung bedaure ich nichts mehr, | |
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als dass es diesem selber nicht mehr vergönnt gewesen ist, sein Urtheil über die uns hier beschäftigende Frage der Technik des Bürgerlichen Gesetzbuchs abzugeben; bei seiner satirischen Veranlagung aber fürchte ich, dass er mit Hinsicht auf das Bürgerliche Gesetzbuch seinen bekannten Juristenhimmel (vgl. v. Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz S. 250 ff.) vielleicht um ein neues Folterwerkzeug vermehrt haben würde; an jener Stelle zählt er nämlich als besonders beliebte Werkzeuge juristisch-technischen Denkens auf: eine Haarspaltmaschine, eine Kletterstange, einen Constructionsapparat, eine Interpretationspresse mit zwei Pumpen, nämlich den Injector, wodurch Gedanken, Voraussetzungen, Beschränkungen, die dem Schreiber der Stelle gänzlich fremd waren, in sie hineingetrieben werden, und einen Eliminationsapparat, wodurch unbequeme positive Aeusserungen des Gesetzes beseitigt werden, eine dialektische Bohrmaschine. Nothwendig hinzuzufügen würden jetzt sein ein Apparat für ‘entsprechende Anwendung’; zwar fehlt es mir selber an thechnischer Erfindungsgabe, seine genauere Construction vorzuzeichnen, doch denke ich mir, dass er aus den Elementen des Fictionapparats, des Injectors und der Eliminationspumpe zusammengestellt werden könnte. Offenbar soll diese ‘entsprechende Anwendung’ dem Juristen des Bürgerlichen Gesetzbuchs ein mit officielier Genehmigung zum Gebrauch verstattetes Surrogat liefern für jene freie logische Operation, die die römischen Juristen gross gezogen hat und die die Lectüre einiger Titel selbst der dürftigen Exerpte, die uns Justinians Compilation in den Pandekten aus ihren Schriften bietet, (z.B. diejenige über die actio legis Aquiliae) zu einem geistigen Genuss macht für Jedermann, die Freude empfinden kann an der fortschreitenden Entwicklung eines nach immer weiterer Ausbildung und Klarheit ringenden Zweckgedankens. Es handelt sich bei jener römischen Art des | |
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juristischen Denkens um nichts anderes als um einen Spezialfall des ewigen Welltprozesses des Fortschritts vom besonderen zum Allgemeinen und umgekehrt. ‘Was ist das Allgemeine?’
‘Der besondere Fall!’, sagt Göthe.
Diese logische Denkbewegung enthält zugleich eine Anwendung der analytischen Methode, sie besteht in nichts Anderem, als in der Ausscheidung des Allgemeinen aus dem Einzelnen, der Zersetzung des Stoffs in seine allgemeinen und partikulären (zufälligen) Bestandteile. Ihr Zweck ist aber nicht etwa möglichste Beseitigung des Individuellen und Ersetzung desselben durch allgemeine Gesichtspunkte, sondern im Gegentheil Klarstellung dessen, was in Wirklichkeit individuell und in Wirklichkeit allgemein ist, sie fördert dadurch ebenso sehr die richtige Auffassung des Einen wie des Anderen. ‘Zugleich verringert sie damit das Volumen des Stoffes, indem sie der mehrfachen Behandlung eines und denselben Gedankens an verschiedenen Punkten des Systems vorbeugt.’ - (v. Ihering, a.a. O.S. 347). Jena Dr. jur. Kuhlenbeck |
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