| |
| |
| |
Socialpolitik
Vorstehende tatsächlichen Arbeitsverhältnisse bekunden den scharfen Gegensatz im Erwerbsleben zwischen Landwirtschaft und Handwerk einerseits und Industrie und Handel auf der anderen Seite. Die Gesetzgebung hat den Fehler der allgemeinen Schablone nicht vermieden. Die Vorziehung des Handwerks bei der Unfallversicherung widerspricht dagegen der Absicht einer umfassenden Socialpolitik. Der am meisten leistungsfähige Handel ist am geringsten belastet, obschon die Lage der kleinen Angestellten ziemlich trostlos ist und daher mit Erfolg die Socialdemokratie in den Grosstädten auch diesen Boden bearbeitet, der doch die stärkste Feste des Kapitalismus sein sollte. Die Zwangserfahrung und die freiwilligen Wohlfahrtseinrichtungen sind blos als die notwendige Abhülfe schwerrer Schäden in der Industrie anzusehen, wo sie auch als Segen trotz mannigfacher Bechwerde für die Unternehmer empfunden werden. Materiell haben diese Maasnahmen wohltätig gewirkt, ideell aber der Socialdemokratie das Feld nicht abgegraben, was doch der klare politische Zweck sein musste und sollte. Die Massen sind fraglos begehrlicher worden. L'appelit vient en mangeant. Auch die gebildeten Mititelstände sind von diesen Taumel ergriffen, der es äusserlich sehr menschenfreundlich erstritt, aber schliesslich doch auch fremde Kosten. Pfarrer mit fetten Pfründen, Professoren mit hohen Collegiengeldern, fette Rentner und unerfahrene Studenten, die nichts verdienen, entrüsten sich wohlfeil über die Ausbeutung anderer Bevölkerungschichten, ohne eigene Sachkunde und eigene Opfer. Sicherlich befinden wir uns erst im Anfange der gemein- | |
| |
nützigen Bewegung. Es giebt noch genug unverschuldetes Leid und schwere Auswüchse der kapitalistischen Wirtschaft. Aber die Hauptschreier sind nicht die Bedürftigen. Die stillen Dulder ertragen den härtesten Notstand und solcher
herrscht nicht in den Kreisen der gewerblichen Arbeiter. Der kleine Handwerker, Krämer, Beamte und auch der höhere Beamte, Gelehrte und Offizier mit ihren Anforderungen äuserlichen Aufwandes sind die wirklicheu Opfer socialer Not, für die herzlich wenig geschieht und auch mit den vorhandenen Mitteln nur wenig geschehen kann. Die Erkenntnis dieser Sachlage dämmert freilich auch in den politischen Kreisen auf. Aber das Anstandsgefühl und die gesellschaftliche Stellung gestatten eine rücksichtslose Geltendmachung wohlbegründeter Ansprüche dieser martervollsten Bevölkerungsschichten nicht. Die Ueberschätzung der Handarbeit gegenüber der Kopfarbeit ist eine förmliche Modesache geworden. Der Assessor wird nicht besser als ein Handarbeiter gelohnt, der nichts gelernt hat und mit 16. Jahren schon seinen Lohn erhält. Diese Gegensätze sind fraglos schlimme Misstände, die den Eifer der besitzenden ungebildeten Stände an der Socialreform erhalten lassen müssen. Es wird so viel von Leuten geredet, die vom Schweiss des Volkes leben. Gehören hierzu nicht vor allem die socialdemokratischen Abgeordneten, Agitatoren, Redakteure und gewerbsmässigen Redner? Trotzdem nimmt tatsächlich kein überzeugter Genosse, wie bitterschlecht es ihn auch gehen mag an solchen Ungeheuerlichkeiten Anstoss und die Aufklärung über solche Verhältnisse macht selten einen Arbeiter dieser falschen Arbeiterpartei abspenstig, obschon deren Führer richts zur Besserung der materiellen Lage der gewerblichen Arbeiter, geschweige denn der ländlichen Tagelöhner und kleinen Handwerker beitragen. Der Undank der Bedachten hat fraglos die Fortführung der Socialreform zum Stocken gebracht. Mit Recht
| |
| |
musten sich die Regierenden fragen, ob die weitere Belastung der besitzenden Klassen zu Gunsten der allmählich emporsteigenden städtischen Arbeiterbevölkerung gerechtfertigt sei angesichts stetig wachsender Verhetzung und Anmassung, während weite Kreise tätiger Menschen in ganz anderer Weise still als gute Untertanen darben. Ehe nicht eine wirtschaftliche Kräftigung des Mittelstandes erfolgt, der die Kraft des Volkes darstellt, erscheint ein Ausbau der Socialgesetzgebung unmöglich, wie sehr auch sonst die noch ausstehende Witwen-Waisenversorgung zu wünschen wäre. Auf dem Lande sind nicht der häufig hochbezahlte Tagelöhner und Knecht, sondern der selbstständige Bauer und kleine Gutsbesitzer, wie in der Stadt der Handwerker und kleine Kaufmann die wahren notleidenden Arbeiter des Volks. Auch die Angestellten des Handels lernen den Goldregen der grossen Banken und Geschäftshäuser nicht kennen.
Schliesslich ist noch des nicht unbedenklichen Zuges zum Socialismus in der Rechtsprechung und im geringeren Maasse in der Verwaltung zu gedenken. Besonders in den Grossstädten enthalten gerichtliche Urteile sociale Anschauungen zu Gunsten des anscheinend schwächeren Streitteils, die mit dem klaren Recht in Widerspruch stehen und den Wunsch erklärlich machen, thunlichst das freie Ermessen des Richters gegenüber den bestimmten Rechtssatzungen einzuschränken. Solche Gefühlsäusserungen stehen richterlichen Entscheidungen schlecht an und untergraben das Vertrauen in viel schärferer Weise, als eine strenge Rechtsauslegung. Die Verwaltungsbehörden, die naturgemäss eine grössere Bewegungsfreiheit in ihren Verfügungen haben müssen, trifft dieser Vorwurf viel weniger. Verfasser hat eine lange Zeit im Gerichts- und Verwaltungsdienst gestanden und auch im Privatleben Musse zu genauer Beobachtung in dieser Beziehung gefunden, glaubt
| |
| |
also ein nicht unerfahrener Beurteiler dieser unerwünschten sozialistischen Richtung zu sein. Fraglos soll der Staatsgewalt der Schutz der Schwachen vorzüglich am Herzen liegen, aber nicht auf Kosten des Rechts und aus Gefühlsempfindungen, die sich jeder Kontrolle entziehen. Im übrigen sind es sicherlich nur edle Verirrungen, die in bester Absicht geschehen. Aber sie sind auch Zeichen der Zeit.
Die geschäftsmässige politische Vertretung der berechtigten und noch mehr der unberechtigten Interessen der gewerblichen Arbeiter steht auf einem andern Brette. Es handelt sich überhaupt nur um den besser gestellten Teil des sog. arbeitenden Volkes, dem Geistesarbeit theoretisch gar nichts gilt. Die Landarbeiter und die selbständigen Handwerker haben mit der socialen Demokratie politisch noch nichts zu tun. Die gewünschte Proletarisirung ist noch nicht gelungen. Die Führer sind freilich auch eigenartige Verkörperungen der Handarbeit. Jüdische Confektionaire, Rechtsanwälte und Privatgelehrte, daneben begabte wirkliche Arbeiter a. D. mit hohen Gehältern. Auf dem letzten Parteitage siegte offenkundig die opportunistische Richtung, die das Gerede vom Zuukunfistaat tunlichst beschränken will und dafür nach politischer Macht mit Hülfe nahestehender bürgerlicher Parteien strebt. Die politisch und die klericale Demokratie sind schon längst zu Wahlbündnissen geneigt gewesen. Hetzkaplan und socialdemokratischer Agitator haben sich noch erst in Bayern gefunden. Wenn freilich der fortgeschrittene Liberalismus darin eine Mauserung der Umsturzparteien sieht, so irrt er gewaltig. Die politische Gleichberechtigung im parlamentarischen Leben ist den socialistischen Leitern sehr angenehm und bequem, Aber die Massen verlangen auf die Dauer andere Kämpfe, als die parlamentarischen, die freilich gefahrloser als Barrikadenbauten und Gewehrfeuer sind. Noch halten aber die Führer die Menge im Zaume, da
| |
| |
die starke Staatsgewalt Ausschreitungen nicht duldet. Selbst der beliebte Zickzackkurs hat seit Aufhebung des Socialistengesetzes das Ansehen des Staates noch nicht erschüttert. Das Machtgebot der alten Staatsordnung ist von offenen Aufrührern noch nicht gebrochen. Die Zahl der zielbewusten Socialdemokraten ist auch verschwindend klein, wenn auch ihre Partei die gröste Anzahl der Reichstagsstimmen erhalten hat. Freilich mit guter Belehrung und wohlwollender Gesinnung wird man diese Zeitbewegung nicht eindämmen können, deren Kern ja berechtigten Beschwerden entsprungen ist. Früher glaubte man durch die Gesetzgebung der Verhetzung das Wasser abgraben zu können. Jetzt hat man mit Recht das anfänglich allzu lebhafte Tempo wesentlich verlangsamt und die Reichsregierung erklärt sich sogar zur Zeit ausser Stande, das Werk durch die Witwen- und Waisenversorgung zu krönen, obschon ohne diesen Abschluss die Reichsversicherung nur unvollständig und gerade an der empfindlichsten Stelle ist. Der Kreis der noch ausgeschlossenen Hinterbliebenen ist der Hülfe der Gesamtheit am bedürftigsten und würdigsten. Das Grossgewerbe kann freilich beim gegenwärtigen Aufschwung die neue Last noch bequem tragen, jedenfalls stöhnt aber die Landwirtschaft schon jetzt unter der Ueberbürdung.
Gefährlich ist der stete Systemwechsel in der Behandlung de socialen Frage und deren politischen Begleiterscheinungen. Weder mechanische Gewalt noch schwächliche Nachgiebigkeit sind die rechten Mittel, aber die Regierungen haben tatsächlich zwischen diesen äusersten Grenzen ziemlich planlos geschwankt, zumal seit Bismarcks Weggang jede Einheitlichkeit fehlte. Der neue Kurs genoss ausserhalb der schwarz-weissen Pfähle nicht das Ansehen um vorbildlich zu wirken. Ein Allerheilmittel giebt es freilich gegen sociale Schäden nicht, da die Welt leider immer unvollkommen ist und gerade die
| |
| |
hochentwickelten Zustände unserer Gesittung lassen die Gegensätze zwischen Arm und Reich viel schärfer hervor treten. Auch bestimmte Regierungsmassnahmen sind schwer in Vorschlag zu bringen, wenn sie nicht blos auf dem Papier stehen sollen. Daher ist es illoyal, einzeln bekannt gewordene Aüsserungen des Kaisers als amtliche Kundgebungen aufzufassen, zumal wenn solche Ansprachen besonderen Gelegenheiten angepasst waren. Die Wiedergabe einer solchen Ansprache durch den Rektor der Charlottenburger technischen Hochschule behufs Belehrung der künftigen technischen Industrieleiter über ihre socialen Pflichten ist sicherlich angemessen, aber die Veröffentlichung bedeutet keinerlei Programm, wie Fortschritt und Socialdemokratie glauben machen wollen. Die Kraft einer einzigen Persönlichkeit, selbst eines Bismarcks, wäre auch zur Lösung der socialen Frage nicht ausreichend, da sie die Mitwirkung aller Volkskreise bedingt und in ihren Auswüchsen eine Zeitkrankheit ist.
Schlimm ist nur für Deutschland der Mangel jedes nationalen Sinnes innerhalb der Socialdemokratie. Franzosen und Engländer, Italiener und Slawen bleiben auch bei mustersocialistischer Bethörung stets ihrem Volkstum treu und in Ryssel (Lille) wurden mit Recht die Deutschen Socialdemokraten von den eigenen französischen Genossen verhönt, als sie von der Weltverbrüderung faselten. Der deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens und vormaliger Grossconfektionair war freilich der deutsche Wortführer. Dieses schmachvolle Weltbürgertum ist uns aber allen ins Stammbuch zu schreiben und mehr eine deutsche, als politische Eigenschaft. Aber gerade bei uns wirkt in der socialen Frage dieser Fehler verhängnisvoll. Bezeichnender Weise sind auch gerade deutsche Juden die Begründer der roten Internationale, deren Hochburg leider Deutschland geworden ist. Unsere unsicheren politischen Verhältnisse,
| |
| |
die bei allem äusseren Glanze eine kraftvolle Steuerung vermissen lassen, haben natürlich das Uebel vermehrt, dessen bester Nährboden eine gewisse Unzufriedenheit ist. Dazu ist der Deutsche kritischer beanlagt und neigt zur politischen Kannegieserei, die ihren Ausdruck in der politischen Erörterung wirtschaftlicher Misstände findet. Die sociale Bewegung hat villeicht hinsichtlich ihrer vollen Machtentfaltung den Höhepunkt noch nicht erreicht, aber die Explosivgefahr hat sich sicherlich vermindert, ohne die Möglichkeit eines grossen Kladderadatsches auzuschliessen. Indessen hat weniger die Unterlassung von Gewaltmassregeln, als vielmehr die Tatsache einer starken Staatsgewalt und einer festen monarchischen Gesinnung ein solches Ergebnis gehabt. National wichtig erscheint die Entfernung des vaterlandslosen Weltbürgertums aus der Socialdemokratie die anderwärs ausgeprochen national empfindet. Der starke Beisatz orientalischen Blutes in der Parteileitung mag die deutsche Fremdenliebe noch unliebsam vermehrt haben. Die Nationalisirung unserer heimischen Socialdemokratie muss die Aufgabe sein, deren Erledigung einen beträchtlichen Bruchteil unseres Volkes wieder dem Vaterlande zuführt. Wir dürfen über diese Abtrünnigen, deren Empfinden leider ihrem Volke verloren ist, freilich nicht die Achseln zucken, sondern müssen mit allen Mitteln ihre erloschene Vaterlandsliebe wieder wecken.
Berlin
Kurd von Strantz.
|
|