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Zur Abrüstungs-Frage in Mittel Europa
Wer den Roman: ‘Die Waffen nieder’ von Frau Bertha von Suttner gelesen hat, wird der Verfasserin seine Bewunderung nicht vorenthalten können für das Talent, die Sachkenntniss, die Ueberzeugung und den Muth, womit sie die Schrecken des Krieges gemalt hat.
Alle Friede-liebenden Bürger sämmtlicher Staaten und Nationen werden ihr dafür, auch in der fernen Zukunft, Dank wissen.
Dennoch braucht man mit dem Inhalte dieses Buches nicht ganz übereinzustimmen und kann man der Meinung sein dass
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das schöne Ziel der Verfasserin in etwas anderer Weise erreicht werden muss, wie von ihr vorgeschlagen.
Der Endzweck kann dennoch derselbe bleiben.
Ein Hauptbedenken gegen den Vorschlag, kurzweg: ‘die Waffen nieder’, ist der, dass demzufolge die gebildete Welt der Gefahr ausgesetzt werden würde, von der weniger gebildeten Welt überrumpelt, besiegt und aus ihrer jetzigen Welt-beherrschenden Stellung verdrängt zu werden.
Die Engländer würden aus Egypten und die Holländer aus Sumatra und Java hinausgeworfen werden, kurzum die Kolonial-Mächte würden ihre Kolonieen verlieren, was ebenso ein Rückschritt der Civilisation bedeuten würde, wie in der alten Geschichte die Verdrängung der Römer aus den Nord-Europäischen Kolonieen.
Der Mahdi würde wieder in Karthum zur Herrschaft gelangen; Russland würde seine Herrschaft in Asien verlieren. Die trans-siberische Eisenbahn würde unvollendet bleiben, kurzum eine absolute und vollständige Abrüstung der gebildeten Völker würde ein Rückfall der Kultur bedeuten, wie man solchen nach dem Falle des römischen Reiches gesehen hat.
Es kann daher nur von einer Abrüstung soweit die Rede sein, dass dadurch die Kultur-Staaten nicht in ihrer Entwickelung gestört werden.
Der einfachste und bewährteste Weg dazu ist die Konfederation der Staaten, wovon die Vereinigten Staaten Nord-Amerika's ein glänzendes Beispiel geben.
Man denke sich mal welche ungeheure Armeen und Heeres-Ausgaben dieser Staaten-Komplex brauchen würde, wenn derselbe nicht ein Ganzes sondern vertheilt wäre in ebensoviele selbständige Nationen. Wie würde dadurch die Bevölkerung belastet sein, wie würde fortwährend der Friede bedroht werden, wie würde die ökonomische Entwickelung dadurch gehindert sein.
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In Europa versteht man leider noch nicht die Vorzüge des Systems der Vereinigten Staaten zu schätzen.
Diese Einheit in politischer und ökonomischer Beziehung, die Zolleinheit, die Spracheinheit, die Münzeinheit, die Zeiteinheit (mit Stunden-Differenz) ist wirklich etwas grossartiges und hat praktisch bereits dasjenige gelöst, zwischen den einzelnen Staaten der Union, was Frau Bertha von Suttner für die ganze Welt bestrebt.
Ein wenig Polizei-Militär genügt dort für die Aufrecht-Erhaltung der Ordnung und Ruhig-Haltung der alten Bewohner, der Rothhäute.
Im Mittelalter kämpfte Ortschaft gegen Ortschaft, Burg gegen Burg, Stadt gegen Stadt, Provinz gegen Provinz.
Mit der besseren Organisation durch die Kultur hörten diese kleineren Kämpfe auf und entstanden die Kriege zwischen den Staaten.
Das Streben der jetzigen Generation muss es sein diese Kriege aufhören zu lassen, damit nur noch die zwischen Welttheilen bleiben.
Auch diese Aufhören zu lassen wird man der Nachwelt überlassen müssen, welches verhältnissmässig eine leichtere Aufgabe sein wird, wie die jetzige.
Wenn man sich überlegt was in Europa in diesem Sinne gemacht werden kann, so wird man leider finden, dass man der amerikanischen Union nicht sofort ganz wird nachfolgen können.
Eine politische Einigkeit zwischen den europäischen Mächten, auch wenn verläufig Russland als asiatische Macht und England als Weltmeermacht davon ausgeschlossen blieben, ist vorläurig undenkbaar.
Eine ökonomische, d.h. eine landwirtschaftliche, kommerzielle und industrielle Einheit gehört aber nicht mehr zu den unerreichbaren Idealen. Bereits Caprivi hat hierauf bei der
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Vertheidigung seiner Handels-Verträge im Reichstage hingedeutet und viele tüchtige französische Ingenieure und Industriellen sind der Meinung dass ein Zollverein zwischen Frankreich und Deutschland in nicht zu ferner Zeit sich als nothwendig heraustellen würde, wenn diese beiden grössten europäischen Industrie-Staaten einen Zollkampf mit der amerikanischen Union auszufechten hätten, worauf man sich vorbereiten müsste.
Ein Zollanschluss an Deutschland wäre auch für die anderen Staaten von Europa ein Vortheil. Dänemark und Holland sollten sich dem deutschen Zollverein anschliessen. Oesterreich-Ungarn sollte sich mit Deutschland über eine Zolleinheit verständigen. Belgien, sowie die Schweiz würden dann nothwendig folgen müssen.
Die Spracheinheit lässt sich zwar nicht erreichen. Deutsch und Französisch müssten neben den anderen Sprachen gebraucht werden und im Zollgebiet gleiche Gültigkeit behalten, doch bietet dieses keine unüberwindliche Schwierigkeit. Sogar im Staatswesen muss man sich in Belgien z. B. mit zwei Sprachen, Französisch und Niederländisch durchschlagen.
Die Münzeinheit sowie auch die Einheit der Patent-Gesetzgebung und überhaupt der industriellen und kommerziellen Gesetze könnten angestrebt werden.
Die Zeiteinheit ist erfahrungsgemäss ganz leicht (wie z. B. in Deutschland), sogar mit derjenigen von England und Amerika in Einklang zu bringen, doch ist dies nur von secundärer Bedeutung.
Wäre erst einmal dieser europäische Staaten-Complex zu einer Zolleinheit und demzufolge zu einem mächtigen OEkonomischen-Gebiete geworden, so würde dadurch die gegenseitige Achtung und Zuneigung am Besten gepflegt werden.
Die Zollfragen, welche sonst am Leichtesten Veranlassung zu Kriegsfällen geben, würden dadurch zwischen den Mittel-Euro- | |
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päischen Mächten vermieden sein. Landwirthschaft, Handel, Industrie, Kunst und Wissenschaft würden in diesem grossen Zollgebiete zu nie geahnter Blüthe gelangen.
Die deutsche Einigkeit hat uns hiervon ein Beispiel gegeben, trotz der enormen Kriegsausgaben, welche sie zu tragen hat.
Spanien, und Portugal, Italien, die Türkei und Griechenland einerseits und vielleicht Schweden und Norwegen andererseits würden begierig werden sich diesem Zollvereine anzuschliessen.
Wie als Vorbereitung zur deutschen Einheit gesungen wurde: ‘Was ist des Deutschen Vaterland?’ und darauf die Antwort lautete: ‘das ganze Deutschland soll es sein’, so würden die Völker von Mittel-Europa anfangen dieses Europa als ihr grosses Vaterland zu betrachten. Ihre gemeinschaftlichen Interessen würden so bedeutende werden, dass sie nicht umhin könnten, sich zu überlegen wie diese Interessen nötigenfalls gemeinschaftlich vertheidigt werden könnten.
Ein Bund, bedeutend stärker wie der jetzige Dreibund, müsste davon die Folge sein.
Die Welt würde sich demzufolge in die folgenden Grossmächte, resp. grosse Zoll-Komplexe zerlegen:
1o | Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika; |
2o | England sammt dessen Kolonieen; |
3o | Der Europäische Zollverein; |
4o | Russland in Europa und Asien; |
5o | China; |
6o | Japan; |
wenn ich letzteren Staat bereits als Grossmacht nennen darf?
Die Folge würde davon sein dass die inneren Kriege in Europa aufhörten.
Was die äusseren Kriege betrifft, so könnten für Europa nur solche mit Russland, England und den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika in Betracht kommen.
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Nord-Amerika würde jedoch vorläufig es wohl unterlassen Europa zum zweiten Male (wie zum ersten Male im unglücklichen Spanien) anzugreifen, wenn Europa einig wäre.
England könnte einem einigen Europa weniger Schaden zubringen wie einem Vertheilten und hätte eine Europäische Union wenig von Brittania zu fürchten.
Umgekehrt würde vielmehr diese Union Britannia genügend Respekt einflössen um es von Bündnissen mit Russland gegen uns abzuhalten, denen wir übrigens gewachsen wären, denn die gesammt-Europäischen Heere und Flotten würde denen von Russland und England überlegen sein können.
Am meisten, und eigentlich allein, wäre für Europa ein Krieg mit Russland zu fürchten. Russland ist jetzt an der Westseite (d.h. Europa) vom Weltmeer, sowie vom Mittelländischen Meere abgeschlossen. Es strebt schon ein Jahrhundert lang darnach Konstantinopel zu erobern.
Es liegt aber im Interesse von Europa, wenigstens nach den machthabenden Ansichten (wie u.a. Napoleon I) dass Konstantinopel nicht in die Macht von Russland geräth. Russlands Grenze vom Schwarzen bis zum Baltischen Meere würde die Europäische auf dieser ganzen Länge berühren.
Die Staatsinstitution (absolute Monarchie), die Religion (griechisches Christenthum), die Sprache (Russisch), das Volk (Slaven) sind verschieden von denen Europa's. Russland wird streben, sich, von seinem Continent aus, auszudehnen nach dem Weltmeere und zwar nach jeder Richtung, sowohl nach Osten (Korea und China mit Peking) wie nach Süden (z. B. Englisch Indien, Afghanistan, Persien und der Asiatischen Türkei), sowie nach Westen (z. B. der europäischen Türkei, Oesterreich, Deutschland, Finnland, Schweden und Norwegen, eventuell auch nach Dänmark).
Es liegt darin für die Zukumft ein Widerspruch der Interessen,
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zwischen Mittel-Europa und Russland wovon man nicht vorhersagen kann ob und wie derselbe anders als durch Krieg zu lösen sei.
Nun darf Europa sich nicht derselben Gefahr wie China aussetzen, dass andere Grossmächte (wie Russland, England und die V.S. von Nord-Amerika) nach ihrem Bedünken über ihr Schicksal verfügen.
Diese Gefahr ist bereits nahe herangerückt.
Dieses geht hervor aus dem Verlust, welchen Spanien durch die V.S. v. A. erlitten hat, aus der Behandlung von Frankreich durch England bei Fashoda, aus der Macht Russlands in Bulgarien, aus der Aufhebung der Konstitution in Finnland (mit Schwedischer Sprache) durch Russland, aus dem eigenmächtigen Vorgehen Englands in Egypten, aus dessen Besitz Gibraltars, aus dem Verkauf der Delagoa-Bucht durch Portugal an England, aus dem im Stiche lassen Transvaals durch Holland und Deutschland, u.s.w.u.s.w., alles das sind Zeichen das Europa jetzt, besonders durch das fatale Bündniss Frankreichs mit Russland, in sich vertheilt und schwach ist, wie es früher Deutschland war.
Vereint wäre Mittel-Europa stark, könnte dieses wenigstens sein und zwar selbst nach einer bedeutenden Abrüstung.
Den Zahlen des Herrn Professor Johann von Bloch (Der Krieg) sind die Folgenden entlehnt:
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Heeres-Stärke |
Männl. Bevölkerung von 20-50 Jahr. |
Procent-Satz. |
Deutschland |
3,600,000 |
9,508,000 |
37,8 |
Oesterreich |
2,062,000 |
7,683,000 |
27,8 |
Frankreich. |
3,600,000 |
8,013,000 |
45,8 |
Mittel-Europa |
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Zusammen ohne die kleineren Staaten |
9,262,000 |
25,204,000 |
36,5 |
Russland |
4,556,000 |
22,669,000 |
20,1 |
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Für Europa's Vereinigte Staaten würde derselbe Prozentsatz von rund 20% ausreichen. Man würde dann erhalten:
Europa |
5,040,800 |
25,204,000 |
20% |
Rechnet man die kleineren Staaten hinzu und zwar für
Belgien |
1,300,000 |
Dänemark |
500,000 |
Holland |
1,000,000 |
Rumänien |
1,100,000 |
Schweiz |
600,000 |
so erhält man total für Mittel-Europa rund
Mittel-Europa |
4,800,000 |
30,000,000 |
18% |
d.h. Mittel-Europa würde um 18/36,5 oder etwa die Hälfte abrüsten können, wenn es unter sich einig wäre.
Man braucht kaum auseinander zu setzen wie unendlich gross die gesegneten Folgen einer solchen Abrüstung sein würden. In diese Richtung müsste gesteuert werden.
Streitfragen in Mittel-Europa müssten von Mittel-Europäischen Schiedsrichtern entschieden werden und weder von russischen, noch von englischen oder amerikanischen Männern, welche andere Interessen haben wie wir, und es leider mit Schadenfreude ansehen, dass Europa durch Zwietracht getheilt und geschwächt wird.
Der erste Schritt auf diesem Wege sind Zoll-Bündnisse.
Ein Mittel-Europäischer Zoll-Verein sei zunächst das Schlagwort. Um den jetzt kräftigsten und blühendsten der europäischen Staaten, um Deutschland müssen die Völker Europa's sich schaaren, die Kleinen sowohl wie die Grossen. Die übrigen Europäischen Staaten werden nachher nur zu glücklich sein, wenn sie sich ökonomisch an den Mittel-Europäischen-Zoll-Verein anschliessen und sich darauf politisch stützen können.
Was wäre eine solche Stütze nicht Spanien werth gewesen?
Aus diesem Zoll-Verein wird sich naturgemäss schliesslich
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ein defensiver Bund entwickeln, der die so heiss ersehnte Abrüstung (etwa um die Hälfte) bringen wird und zwar ohne Schwächung, vielmehr mit Stärkung der Mittel-Europäischen Machtstellung in der Welt.
In diesem Sinne, doch auch nur in dieser, werden praktische Männer dem Schlachtrufe ‘die Waffen nieder’ zustimmen können.
Auf das zunächst erreichbare, den Mittel-Europäischen-Zoll-Verein sollten die Bestrebungen der nächsten Zukunft gerichtet werden.
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Nachtrag
Diejenigen, welche in Deutschland von Abrüstung ueberhaupt nichts hören wollen, weil sie behaupten, dass der Wohlstand Deutschlands, trotz der kolossalen Rüstungen, im Wachstum begriffen sei, sollten daran erinnert werden, dass das nationale Vermögen sowohl wie das persönliche Besitzthum in den Vereinigten Staaten Nord Amerika's bedeutend rascher wächst wie in Deutschland und dass demzufolge die Kapital-Macht Nord-Amerika's in wenigen Jahren die Deutsche soweit ueberflügeln wird, dass sie geradezu Deutschland beziehungsweise Europa bedrohen wird, (wie bereits Spanien dieses in unangenehmer Weise erfahren hat,) ebenso wie England jetzt Europa (speziell Frankreich) durch seine Flotte bedroht, welche es in so kurzer Zeit nur mit Hülfe seines enormen Kapitals hat herstellen können.
Mittel-Europa wird in der Zukunft weiter von England und Amerika an die Wand gedrückt werden, wenn es nicht baldigst anfangt grössere Ersparnisse durch eine theilweise Abrüstung zu erzielen.
Anderen, welche ein Zollbündniss zwischen Frankreich und Deutschland nur als ein Ideal betrachten wollen, möge die Frage gestellt werden, ob sie einen besseren Weg anzugeben im Stande
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wären, um Frankreich über den schmerzlichen Verlust von Elsass-Lothringen zu trösten? Politisch werden diese Provinzen für Frankreich verloren bleiben, doch würden die alten gelockerten Geschäftsverbindungen zwischen dem jetzigen Frankreich wieder hergestellt werden können.
's Gravenhage.
H.-P.-N. Halbertsma.
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