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[Nummer 4]
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Socialpolitik
Die Zeit ist vorüber, wo noch die Ereichung bestimmter politischer Ideale als der Inbegriff aller politischen und parlamentarischen Weisheit galt. Die Wertschätzung der sog. politischen Freiheit ist problematisch geworden und nur noch heimisch bei der Partei, die politisch am meisten abgewirtchaftet hat. Der Freisinn ist der alleinseeligmachenden politischen Doctrin treu geblieben; aber um Richter haben sich die Reihen so bedenklich gelichtet, dass selbst die botmässigsten Gefolgen dem starren Parteigeist den Gehorsam aufgekündigt haben. Socialpolitik wurde Ende der siebziger Jahre, anfangs noch bescheiden, der Trumpf im politischen Leben und beherrscht es zur Zeit ziemlich unbestritten. Der zweite Kanzler unerfreulichen Angedenkens glaubte den Wert jeder Regierungsmaassregel nur nach der Wirkung auf die Socialdemokratie bemessen zu dürfen, die sich doch die alleinige Vertreterin einer neuen Weltwirtschaft im Volke und in den Parlamenten zu sein brüstet. An der alten Ordnung wurden auch bei den übrigen und rein politischen Parteien nicht unberechtigte Zweifel laut und gegenwärtig ist die Unzufriedenheit mit dem bestehenden Wirtschaftsystem allgemein, es sei denn dass bestimmte Leute allein aus der Aufrechterhaltung des freien Spiels der Kräfte und dem uralten Rechte des wirtschaftlich
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Stärkeren unermesslichen Gewinnst ziehen, dessen Verlust sie freilich peinlich berühren würde. Aber auch der Socialismus scheint schon jetzt das Schicksal des politischen Liberalismus zu teilen, obschon seine Ideale keineswegs erfüllt sind. Eine seinem Dasein gefährliche Müdigkeit innerhalb der gegnerischen Parteien, sich mit ihm weiter in eindringlicher Weise zu beschäftigen, zeigt sich allenthalben, woran auch die Beteuerungen des Gegenteils nichts ändern können, da sie ja nur parteitaktischer Natur sind. Während fraglos das Interes[s]e an den Wirtschaftsproblemen dauernd gestiegen ist und die Parteipolitik in andere Bahnen gedrängt hat, ist der reine Socialismus in der politischen Achtung sehr gesunken. Die radikale demokratische Ausbeutung des Socialismus zur wüsten und gewissenlosen Volkshetze gegen das Eigenthum und die besitzenden Stände überhaupt hat die verständigen Männer des politischen Lebens kopfscheu gemacht und ausserhalb der Socialdemokratie phantastischen Träumern oder gelehrten Theoretikern das Feld überlassen.
Der durchaus berechtigte Wunsch der gewerblichen Arbeiterschaft angesichts der gesteigerten Lebensansprüche der übrigen Schichten der Bevölkerung nach einer Erhöhung der eigenen Lebenshaltung und nach einer grösseren Teilnahme an den materiellen Genüssen des Lebens ist selbst bei armseligen Fabrikanten, deren Einnahmen keine Menschenfreundlichkeit nach der Art von Krupp und Stumm gestalten, kaum auf Widerstand gestossen. Auf dem Gebiet der Gesetzgebung herrscht Arbeiterfreundlichkeit selbst bei den eingefleischten Manchesterleuten, vielleicht mit etwas Angst vermischt, was aber das Ergebnis nicht berührt. Wohlfartseinrichtungen sind und werden allenthalben von den Arbeitgebern und von eigens zu solchen löblichen Zwecken gegründeten Vereinen geschaffen. Diese Richtung gewährt den Vorteil der praktisch en Betätigung
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socialer Gedanken und deren Verwirklichung auf beschränktem, aber erfolgsicherem Arbeitsfelde. Abgesehen von der Zwangsversicherung von Rechtswegen erstreckt sich der Kreis der öffentlichen und geeinten Maassnahmen zur Hebung des sog. vierten Standes lediglich auf die grossgewerblichen Arbeiter, welche zahlenmässig keineswegs die Mehrheit der handarbeitenden Bevölkerung darstellen, die von der Hand in den Mund lebt. Der landwirtschaftliche Tagelöhner, der ohne Gehülfen arbeitende Handwerker und der kleine Handelsangestellte im Krämerbetrieb sind kaum bedacht. Der Zuschnitt der ganzen Strömung und Gesetzgebung geht auf den grossgewerblichen Arbeiter, die lebende Maschine der Industrie. Dort waren auch die meisten und bosartigsten Auswüchse und Schäden und der Fabrikherr an eigener schnöder Gewinnsucht socialen Regungen am wenigsten zugänglich. Niedrige Löhne legten den Grund zu den grossen gewerblichen Vermögen, die mit den zum Theil mühelos im Handel gewonnenen Reichtümern wetteiferten. Diese sociale Teilnahmlosigkeit soll indessen das Verdienst der persönlichen Tüchtigkeit der Gewerbetreibenden nicht schmälern. Ohne Verstand und Kenntnisse lassen sich grosse Unternehmungen nicht gewinnreich gestalten und der eigenen Arbeit und Geschicklichkeit bleibt Raum genug zur Betätigung, soll das Werk gelingen. Der Staat und die Gesellschaft mussten daher selbst mit Gewalt bessernde Hand anlegen, da der Vorteil des Einzelnen das Wohl der Gesammtheit schädigte. Natürlich musste die Verteilung der Lasten bei einer allgemeinen Regelung ungleich wirken. Der Handel blieb fast unberührt; das Gewerbe war in den Betriebsabstufungen freilich absolut gleich belastet; aber der kleinere Unternehmer empfand seine Quote viel empfindlicher, als der grosse Fabrikherr. Hier hätte nur eine
verhältnissmässige Verteilung der Gesammtbelastung Abhülfe gewährt. Das Handwerk blieb von der Ver- | |
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sicherung der Betriebsunfälle ganz ausgeschlossen, was entsprechend der allgemeinen Krankenkassen unbillig überbürdete. Ein Ausgleich ist bisher nicht geschaffen.
Am schwersten traf der Unterschied indessen die Landwirtschaft, die ohnehin schon durch die Lage des Weltmarktes und eine veränderte Zollpolitik den z. Zt. am wenigsten günstig gestellten Erwerbsstand bildet. Die gleiche Versicherungspflicht bedeutete daher für gewisse Schichten der betriebsamen Bevölkerung eine tatsächliche Ungleichheit in der Belastung und in den Leistungen. Die zum Teil glänzend fundierten Fabrikkrankenkassen gewähren bei den hohen Löhnen der Beteiligten und den erheblichen, auserordentlichen Zuschüssen der Unternehmer unverhältnissmässig weitgehende Unterstützungen im Gegensatz zu den allgemeinen ländlichen Einrichtungen dieser Art, woselbst nur das gesetzliche Maass notdürftig erfüllt werden kann und beständig die Gefahr der Leistungsunfähigkeit beim Ausbruch epidemischer Krankheiten besteht, wenn solche auch nur geringen Umfang haben. Die schwachen Schultern können kaum das auf gewerbliche Betriebe zugeschnittene sociale Gebäude tragen. Freilich haben aber die Anhänger solcher Kreis- und Gemeindeversicherungen das gleiche Anrecht auf socialen Schutz, wie die glücklichen Arbeitsgenossen der Industrie. Der kräftige, jugendfrische und unternehmungslustige geht vom Lande in die Stadt zur Fabrik, indem der alte, schwächliche und ungeschickte Taglöhner auf dem Lande bleibt. Letzterer fällt bei der Tätigkeit unter freiem Himmel und den Unbilden des Wetters leichter den Krankheiten zum Opfer, als der junge im geschützten Raume leichtere Arbeit verirchtende Fakrikbesucher. Der Gutsherr und grosse Bauer schleppt nach guter Sitte und auch allerdings leichter, als der Gewerbetreibende, einen alten Arbeiter noch im Betriebe mit, zumal da sich neben schweren Dienstleistungen auch mühelosere
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landwirtschaftliche Verrichtungen darbieten. Der Fabrikherr steht imallgemeinen nicht in einem so gemütlichen Verhältnis zu seiner so oft wechselnden Arbeiterschaft, noch gestattet sein Betrieb die Beschäftigung minderwertiger, verbrauchter Kraft. Es gilt deshalb als ein Zeichen besonderen Wohlwollens, was vielleicht auch oft in die Erscheinung tritt, wenn ältere unnütze Arbeiter Ruheposten als Invaliden der Arbeit erhalten. Auf dem Lande ist es jedoch die Regel. Die Gesetzgebung wollte eben auf diesem Gebiete die erforderliche Abhülfe schaffen und führte den Versicherungszwang ein, um auch dem gewerblichen Arbeiterfreundlichkeit das Recht auf Versorgung im Falle der Arbeitsunfähigkeit bei mangelnder Neigung des Arbeitgebers zu sichern. Freilich auch in der Landwirtschaft bedeutet das staatliche Gebot einen Fortschritt; denn nicht jeder Gutsherr wirtschaftete patriarchalisch, zumal auch die neuzeitliche Gesetzgebung vielfach das alte Band zwischen Herrn und Knecht zerrissen und die Liebe zur angestammten Scholle unterbunden hatte. Unerfreulich war das gegenseitige Abschieben alten, kranken Gesindes von Gutshof zu Gutshof, von Gemeinde zu Gemeinde, um die Armenlast zu vermeiden. Freilich jetzt entscheidet ein klares Recht, früher blos die Billigkeit. Aber die rechtliche Leistung bleibt mit triftigem Grunde hinter der freiwilligen Hülfe der früheren Zeit zurück, sofern sie tatsächlich eintrat. Man könnte einwenden, dass die Lohnunterschiede zwischen Stadt und Land, Industrie und Landwirtschaft die Ungleichheit der Leistungen und der Belastungen bedingen. Aber folgende konkreten, aus dem Leben gegriffenen Fälle beweisen die Hohlheit des angeblichen Vorzugs der Stadt, es sei denn dass dort die sittenlose Genusssucht eine bessere Stätte findet, ohne dass die ländliche Sittlichkeit stets musterhaft zu sein braucht. Aber natürliche
Triebe sind noch nicht schlechtw. unsittlich. Eine ländliche Dienstmagd erhält besonders im
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Osten sicherlich keinen übermässigen Lohn, wenn er auch seit 30. Jahren beträchtlich im Gegensatz zur Einträglichkeit des landwirtschaftlichen Gewerbes gestiegen ist. Nahrung und Tätigkeit sind aber fraglos gesundheitlich zufriedenstellender, als in der Stadt. Vergleichen wir hiermit nicht das städtische Gesinde, welches z. Zt. social bei dem Drange der Mädchen zum ungebundenen Fabrikleben sich in günstigster Lage befindet, sondern die höhere städtische Arbeiterin, das Ladenmädchen, so ist das Ergebnis finanziell, wie social ein betrübendes. Ein bestimmtes Arbeitsverhältnis sei hier angeführt. Eine Kolonialwarenhandlung hat ei e grössere Anzahl von Zweigstellen in einer Grosstadt errichtet und jede mit einem Mädchen als Leiterin besetzt. Zunächst fordert das Geschäft 500. M. Kaution, welche in Baar zu erlegen und mit 3 1/2 o/o verzinst wird. Trotz der Ableugnung der Geschäftsinhaber und der Behauptung, dass der Betrag bei einer Bank hinterlegt sei, dürfte die Annahme hahe liegen, dass die Sicherheitsleistungen lediglich als Betriebskapital dienen oder mindestens als Bankdepot des Geschäfts. Dennoch hat die Arbei erin zunächst eine doch wohl eigenartige Leistung zu gewähren. Als Entgeld erhält sie 50. M. Gehalt und ein leeres Zimmer, dessen leihweise Einrichtung nicht viel weniger kostet, als die Miete einer eingerichteten Stube, und zwar durchschnittlich 10. M. im Monat. Auserdem ist sie auf Tentiemen gestellt, was ungefähr 25. M. monatlich beträgt. Bei neuen Niederlassungen ist der Betrag natürlich niedriger, da die Firma sich erst einführen muss. Dafür muss das Ladenmädchen bei eigener Verantwortung für den sorgsamen Geschäftsbetrieb, insbesondere für den Waatenbestand, von 1/2 8 Uhr morgens bis 10. Uhr Abends
ununterbrochen im Laden sich befinden, also auch ihre Mahlzeiten in dieser Zeit einnehmen, wo eigentlich kein Raum zum Einholen der Lebensbedürfnisse bleibt. Selbstbereitung der
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Speisen ist auch ausgeschlossen, was doch die Beköstigung verteuert. Die Reinigung des Ladens und der blanken Gefässe soll eigentlich ausserhalb der Ladenzeit erfolgen, was wohl kaum zu erfüllen ist. Jedenfalls besteht eine 14 1/2 stündige Arbeitszeit ohne Unterbrechung und Ablösung. Eine Stallmagd hat sicherlich trotz aller und frühzeitiger Tätigkeit häufige Ruhepausen und wenig Verantwortung. Das Ladenmädchen haftet für Fehlbeträge der Kasse und für die Vorräte, die ihr ohne Zuschlag für notwendigen Abgang beim Einpacken u.s.w. genau zugewogen werden. Sie ist also dadurch zu ungenauem Abwiegen gezwungnen. Im gewöhnlichen Leben nennt man solche Handlungsweise einfach Betrug, obschon doch das arme Ladenmädchen nicht die Schuldige ist. Denn niemand kann aus einem Zentner Zucker, Cacao oder Kaffee im Einzelverkauf dasselbe Gewicht geben, so das jeder anständige Händler die erforderliche Zugabe gewähren wird, da doch durch den höheren Verkaufspreis überhaupt ausgeglichen wird. Das weibliche Personal rekrutiert sich auserdem aus den schon besseren Kreisen der kleinen Beamten und Kaufleute, während das ländliche Gesinde doch auf der untersten Gesellschaftsstufe steht. Dieses Bild des städtischen Erwerbslebens ist typisch und kein Ausnahmefall, wie ihn etwa socialdemokratische Volksverführer gelegentlich ausschlachten. Die Dienstmagd kann auf dauernden Dienst rechnen, das Ladenmädchen ist bei dem starken Angebot ständig der Gefahr der Entlassung ausgesetzt und hat auf Gehaltsteigerung nicht zu rechnen, während die Gesindelöhne sich seit langem heben.
Berlin
Kurd von Strantz
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