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Fritz Reuter und Belgien.
Unser grösster niederdeutscher Dichter Fritz Reuter hegte viel Interesse für Belgien; eins seiner Erstlingswerke trägt den Titel ‘De Reis' nah Belligen’ (1854), worin die Bauern Swart und Witt beschliessen, ihre Söhne Fritz und Karl über Berlin nach Belgien zu bringen, um sie dort ‘Kultur der Welt’ und ‘höhere Wirtschaft’ lernen zu lassen. Und in der 1860 erschienenen ‘Vagel- un Minschengeschicht: Hanne Nüte’, antwortete der auf die Wanderschaft ziehende Bursche seinem Pastor auf die Frage, wohin die Reise gehe: ‘Je, Vadder meint, in't Reich herin un denn nah Belligen un Flandern.’
Reuter selbst ist nie dorthin gekommen, hat aber mannigfaltige Beziehungen und Sympathien zu der vlämischen Bewegung und Litteratur offenbart. In meinen Büchern ‘Fritz Reuter-Studien’ (Wismar, Hinstorff'sche Hofbuchhandlung 1890) und ‘Aus Fritz Reuters jungen und alten Tagen’ (ebenda 1899) habe ich mehrfach darüber gehandelt und werde in einem jetzt in Vorbereitung begriffenen neuen Werke weitere Mitteilungen machen. Damit diese nun möglichst vollständig
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werden, möchte ich das Interesse der betreffenden Kreise wachrufen und Winke geben zur Auffindung verlorener oder verschollener diesbezüglicher Dokumente.
Bereits im Jahre 1856 war Reuters Ruf auch nach Belgien gedrungen. In Antwerpen sollte am 15. und 16. August der fünfte niederländische Sprach- und Literatur-Kongress stattfinden. Leider musste der Dichter die ehrenvolle Einladung ablehnen, aus ‘Geldbeutel-Schwindsucht’, wie er einem Freunde treuherzig-humoristisch anvertraute. Sein - unter gleichzeitiger Uebersendung seiner Werke abgeschickter - Dankbrief scheint nicht mehr zu existieren; über den Inhalt geben Andeutungen: ‘Handelingen van het vijfde Nederlandsch Taalen Letterkundig-Congress’, wo die eingelaufenen Zuschriften skizziert werden: ‘De heer Fritz Reuter hoopt, dat het Nederduitsch zich ook uitbreide over Nord-Duitschland’.
Der Verlust dieses Briefes ist nicht genug zu bedauern, denn gern vernähme man ausführlicher Reuters Hoffnungen und Ansichten über einen so wichtigen Punkt. Ich liess mich während eines längeren Aufenthaltes in den Niederlanden keine Mühe verdriessen, dem Schreiben auf die Spur zu kommen, und ich will hier an diesem Beispiel zeigen, welche Schwierigkeit die Auffindung meiner Reuteriana oft verursacht hat, wie ernst ich die Sache genommen habe, und wie dennoch viel verschwunden war und blieb. Ich verfolgte die Fährte, ich stand schon, wie der Engländer sagt, on the threshold of a discovery - und plötzlich erschollen die Rufe: verloren, verbrannt, verkramt, verkauft, verschenkt! Hörte ich einen der drei letzteren, so hoffte ich noch und setzte die Nachforschungen fort, bald mit Glück, bald ohne Ergebnis. Briefe, Dichtungen, Bilder u.s.w. waren bereits von der dritten in die vierte Hand übergegangen und wohin zuletzt? Das konnte niemand sagen. - In Antwerpen auf der Stadtbibliothek glaubte ich nun jenen Reuter-Brief bestimmt vorzufinden, da die von Reuter geschenkten Werke als vom Kongress dorthin abgeliefert (door het Congres ter Stedelijke
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Bibliotheek in bewaring gegeven) im gedruckten Katalog verzeichnet sind. Ja, da standen Opera Reuteriana, da waren auch die Akten und Papiere aller möglichen früheren und späteren Sprach- und Kunst-Kongresse, allein die gewünschten von 1856 - fehlten! Wer war damals Bibliothekar?- Mertens - todt! Wo steckt sein Nachlass? Beim Schwiegersohn, Prof. van Beers. Derselbe konnte mir nicht direkt dienen, aber gab mir einen anderen, an Mertens persönlich gerichteten Brief Reuters. - Wer publizierte den Bericht (Handelingen)? - Van derVoort - auch gestorben! - Sein Bruder erklärte, dessen literarische Schätze und Bücher seien zu Brüssel verauktioniert, doch nicht en bloc. Die dortige königliche Bibliothek war nicht Käuferin. - Wie hiessen die Kongresspräsidenten? Prof. Heremans in Gent (†), Prof. de Vries in Leiden, Archivar Génard in Antwerpen. Also hin zu Letztgenanntem! Kein Aufschluss über den Verbleib der Kongresspapiere. In Leiden bei de Vries derselbe Misserfolg. Nach Gent, wo ich mich früher aufgehalten, ohne mit der Familie Heremans in Verbindung zu treten (glaubte ich doch das Gesuchte in Antwerpen sicher aufbewahrt), wollte ich deswegen nicht nochmals zurück, schrieb aber an meinen liebenswürdigen Gönner Van der Haeghen und erhielt zur Antwort, dass Frau Heremans sich des Briefes nicht erinnere, dass die Kongressdokumente von 1856 bei der Antwerpener Bibliothek deponiert worden seien und Archivar Génard Aufklärung geben könne. - So ward ich wiederum nach Antwerpen gewiesen und begann denselben Kreislauf, d.h. jetzt schriftlich. Dr. Hansen, Bibliothekeir der Stadsboekerijen, meldete mir: ‘Ik kan U verzekeren, dat de stukken van het Taal-congress 1856 niet ter Stedelijke Boekerij berusten... Doch de heer Génard verzekerde mij, dat de heer van Beers dien brief van Fritz Reuter bezit, en
voegde er zelfs bij, dat een duitsche navorscher - ik geloof, dat hij U noemde - afschrift daarvan genomen had. De heer van Beers is voor den oogenblik uitstedig, zoodat ik dit raadsel nog niet oplossen kan.’
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- Nun, das ‘Räthsel’ löst sich damit auf, dass der bekannte vlänische Dichter Prof. Jan van Beers, wie schon gesagt, mir einen anderen Brief Reuters von 1859 zur Verfügung stellte; d[e]r von 1856 bleibt also noch zu entdecken. Vielleicht, dass diese Klarlegung dazu verhilft, weshalb ein Nachdruck in niederländischen Blättern sehr erwünscht ist. Für mich handelt es sich ja nur um ein einziges Schreiben eines der berühmtesten deutschen Schriftsteller, für die Belgier um die gesamten Akten van het vijfde Nederlandsch Taal- en Letterkundig Congres.
Von allgemeinem Interesse dürfte es sein, den Inhalt jenes einzig erhaltenen Briefes an den ehemaligen Antwerpener Stadtbibliothekar F.H. Mertens, einen geschätzten Historiker, kennen zu lernen: ‘Neubrandenburg, 16. December 1859. Hochgeehrtester Herr, Dass die niederdeutsche Literatur bei uns fortwährend an Boden gewinnt, ist eine unbestrittene Thatsache; nicht allein der Schriftstellerkreis erweitert sich täglich, sondern, was jedenfalls bedeutsamer ist, die Zahl der Leser nimmt zu. Die Leute lernen jetzt schon niederdeutsche Bücher lesen, trotz unserer grenzenlosen dialektlichen Verwirrung und unserer prinziplosen, abscheulichen Orthographie. In Bezug auf die letztere habe ich neulich in der Vorrede zur vierten Auflage meiner “Läuschen un Riemels” Vorschläge gemacht, denen ich in den beifolgenden “olle Kamellen” gefolgt bin. Ich hoffe, das Buch ist dadurch auch Ihnen verständlicher geworden... Was kann uns daran liegen, für jetzt die Zustimmung weniger Gelehrten zu erlangen, die in ihrer hochdeutschen Bildung immer unsere Gegner bleiben werden? Wir sind auf's Volk angewiesen, und wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir mit Neuerungen sehr behutsam zu Werke gehen; was wir nicht mit der Kraft der Ueberzeugung aufdringen können, müssen wir allmählich einschmuggeln.
Der leitende Zweck muss aber stets die Zurückführung der Dialekte auf die alte Sprache bleiben, und auf diese Weise können wir sogar hoffen, uns später sogar Ihrer Landes-
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sprache zu nähern. Die Sprache der alten Lübischen, Rostocker, Stralsunder Chroniken ist gar nicht so sehr von unserer jetzigen verschieden, als dass wir nicht hoffen könnten, mit ihrer Hülfe die schmachvolle zweihundertjährige Vernachlässigung unserer Sprache wieder gut zu machen.
So weit wäre zwar Alles sehr gut; aber diese Zerfahrenheit der Dialekte hindert jede vernünftige Uebereinkunft unter den Schrifstellern; jeder glaubt und beansprucht, dass die Redeweise seiner Landschaft, seiner Stadt oder seines Dorfes die richtige sei. Wir kennen uns nicht, wir korrespondieren nicht einmal, ja wir feinden uns untereinander an! Nirgends eine Handhabe, an die ein jeder seine Hand legen könnte, um dem gemeinsamen Zwecke förderlich zu sein. Der beste von uns, Fooke Müller, ist todt; Groth ist Doktor geworden und seitdem auch todt, denn seit man in ihm aus einem talentvollen Lyriker einen schlechten Privatdocenten gemacht hat, ist ihm der Hochmuth zu Kopfe gestiegen, er stösst Alle vor den Kopf und nimmt die Räucherungen männlicher und weiblicher Damen entgegen, die ihn denn bald zur thatenlosen Mumie zusammengedörrt haben werden. - Johann Meyer, der es wohl verdiente, wird nicht gelesen. - Der Westfale Lyra wird hier nicht verstanden. Brinckman hat sich durch die hastige Aenderung in der Orthographie geschadet, sein “Vagel Gryp” hat darunter sehr gelitten; und ich bin ein Thor gewesen und habe mir mit meinem politischen Gedichte “Kein Hüsung” das ganze Wespennest des Mecklenburgischen Junkerthums auf den Hals geladen.
Wir schreiben und interessieren das Volk für seine kleinen Dialekte, verstehen's aber nicht, in Einigkeit die Gebildeten unter dem Volke für die gemeinsame Mutter der Dialekte zu interessieren. Gott mag's bessern!’
Die Klage trifft leider heute noch zu. Bekanntlich ist die einheitliche niederdeutsche Orthographie auch gegenwärtig eine unerledigte Frage. Durch die ungeheure Verbreitung aber, welche die Werke Fritz Reuters gefunden haben, ist
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seine Schreibweise die verständlichste geworden, und viele plattdeutsche Schriftsteller sind deswegen derselben gefolgt. Was der sprachgelehrte Mertens an weiteren Briefen Reuters besessen hat, scheint verschollen. Möglicherweise führen diese Mitteilungen zu neuen Funden, wenn in Belgien selbst von den beteiligten Persönlichkeiten eifrig nachgeforscht wird. Manches mag in den Mappen der Autographenliebhaber liegen, die hoffentlich damit nicht länger zurückhalten, behufs ausführlicher Schilderung der Beziehungen Fritz Reuters zu Belgien.
Berlin.
Prof. Dr Karl Theodor Gaedertz.
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