Germania. Jaargang 2
(1899-1900)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Die französische Kriegslyrik des Jahres 1870/71 in ihrem Verhältnis zur gleichzeitigen deutschen.In allen nur denkbaren Formen, von der streng geschichtlichen wie militärisch fachwissenschaftlichen Darstellung bis zur leichten Plauderei, ist der deutsch-französische Krieg vom Jahre 1870/71 Freund und Feind, Mitund Nachwelt vor Augen geführt worden. Durch Anschaulichkeit und frische Unmittelbarkeit zeichnen sich namentlich die Aufzeichnungen der Erlebnisse und Kriegserinnerungen von Mitstreitern aus. Ehrenvolle Erwähnung verdienen auch die Kriegsberichterstatter, besonders die deutschen, von welchen viele uns interessante, umfangreiche Specialwerke über den Krieg hinterlassen haben. Männern wie Dr. Gustav Freitag, Berthold Auerbach, Dr. Theodor Fontane, Dr. Leopold Kayssler, Dr. Rudolf Lindau, Prof. Ludwig Pietsch, Hans Wachenhusen u.a. gebührt sicherlich alle Anerkennung, da ihre Berichte so vorzügliche Quellen über den letzten grossen Krieg sind, wie sie in der Weltgeschichte bisher nicht ihres gleichen gehabt haben. Allein der Aufschwung, welchen die Litteratur seitdem in Deutschland nahm, steht in keinem Verhältnis zu der Grösse der gewaltigen historischen Vergangenheit, in der das deutsche Volk selbst den längst entworfenen, stolzen Einheitsdom zur Vollendung brachte. Dem deutschen Drama insbesondere hat die nationale Einigung nicht das erhoffte neue Leben gebracht, wennschon das patriotische Geschichtsdrama durch Ernst von Wildenbruch, der in der Vereinigung menschlich-dramatischer Schicksale mit grossen nationalgeschichtlichen Vorgängen eine der Hauptaufgaben der dramatischen Dichtkunst erblickte, zu hoher Entwicklung und Blüte gelangt ist. Zu neuem Leben erwachte aber in Deutschland wie Frankreich der Roman in Frankreich fast nur unter dem Zeichen des Hasses gegen die deutschen Barbaren; einseitig übertrieben sind namentlich die Schilderungen der Ereignisse, welche für die Franzosen einigermassen günstig waren.Ga naar voetnoot1) In nichts anderem aber findet der Anteil, den ein Volk an tiefgreifenden politischen Begebenheiten und an dem geistigen Ringen und Streben nimmt, einen vollkommneren, frischeren, lebendigeren und unmittelbareren Ausdruck, als in seinen Liedern. Wer es weiss, wie solche Lieder, mitten | |
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im Drang der Ereignisse, nur tiefbewegten Herzen hervorquellen, der wird diese Zeugnisse des Heeres und Volkes, welche vor allem durch ihre urwüchsige Kraft und Frische, sowie den ungesuchten Ausdruck der Gesinnung und Stimmung weiterer Kreise ihre hohe Bedeutung haben, nicht gering anschlagen. Um so gewaltiger aber ist die Macht, welche das Lied auf die Stimmung von Hunderttausenden ausübt, als das Volk ja nun einmal mehr mit dem Herzen, als mit dem reflektierenden Verstande Politik treibt. Der Krieger im Felde rechnet das Lied geradezu zum ‘eisernen Bestand’ und stimmt begeistert in das Lob ein, welches der Einjährig-Freiwillige Moritz Pläschke in seinem ‘Kriegstagebuch in Liedern’ (Düsseldorf 1871, S. 42) ihm spendet: ‘Ihr deutschen Lieder kühn und stark,
Voll Heldenkraft und Heldenmark,
Wenn ihr in vollen Tönen schallt,
Wie fasst das Herz ihr mit Gewalt!
Ihr knüpft uns an das Vaterland
Mit innig-treuem, festen Band!
Ihr bleibt uns, wenn uns nichts mehr blieb!
Drum seid ihr uns auch ewig lieb!’
Den Kriegsliederschatz zählen wir am besten der nationalen Lyrik zu, die in erster Linie das besondere Volkstum wiedergiebt und daher nur von den Volksgenossen vollständig gewürdigt werden kann. Ihr Schauplatz ist eine eng begrenzte Welt, sie haftet am Boden des geliebten Vaterlandes. In gerechter Würdigung dieser Stimmen des Volkes in Liedern gab der Königl. Preuss. Staatsanzeiger in der besonderen Beilage vom 30. Juli 1870 die Anregung zu einer möglichst vollständigen Sammlung und wies in der Beilage vom 24. August desselben Jahres auf die dabei zu Grunde liegende Absicht hin, diese Gedichte ‘als ein historisches Dokument der gegenwärtigen nationalen Erhebung aufzubewahren. Wohl steht die Hinterlassenschaft der Dichter jener Tage nicht immer auf der Höhe der Vollendung, manche Dichter kommen beim ersten Erproben ihrer Schwingen nicht über das Mass des Alltäglichen hinaus, aber selbst in diesen Ländern können wir etwas von dem Pulsschlag des Volkes fühlen. Bei Durchmusterung der gesamten Kriegslyrik werden uns stets zwei Gattungen entgegentreten. Die eine Gattung ist dem idealen Aufschwung und der nationalen Erhebung gewidmet, die andere verdankt niedrigeren Trieben der menschlichen Natur ihre Entstehung und überschüttet den Gegner mit den Pfeilen des Spottes, wenn dem Hass kein anderes Mittel, sich Luft zu schaffen, mehr zu Gebote steht. Schon eine kurze Gegenüberstellung einiger Lieder, deren Entstehung vor das Jahr 1870 fällt, lässt uns die Eigentümlichkeiten der deutschen und der gleichzeitigen französischen Kriegsdichtung aufs deutlichste vor Augen treten. Dahin gehören: ‘Der freie deutsche Rhein’ von Nikolaus Becker | |
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(Ditfurth, Historische Volkslieder von 1815-66, S. 74), die ‘Wacht am Rhein’ von Max Schneckenburger und Arndts Lied: ‘In Frankreich hinein!’ (Lipperheide, Lieder zu Schutz und Trutz, Auswahl 1871, S. 15). Beckers Lied: ‘Sie sollen ihn nicht haben
Den freien deutschen Rhein,
Ob sie wie gier'ge Raben
Sich heiser danach schrein,’
entstand im Sommer des Jahres 1840, als durch Thiers, der seit dem 1. März 1840 die Seele der französischen Regierung war, ‘von der Seine her’, wie Vater Arndt sich ausdrückt, ‘neuer Uebermuth zu klingen begann’, sich im französischen Volke von neuem Gelüste nach dem deutschen Rheinstrom regten und von den tonangebenden Kreisen der Hauptstadt genährt und geschürt wurden. Ein Aufsatz von C. Matzerath in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, welcher gegenüber den welschen Anmassungen die Ehre Deutschlands mannhaft verfocht, gab dem Dichter Veranlassung zu seinem Liede, welches zuerst durch die Triersche Zeitung am 18. September veröffentlicht wurde. Die kraftvolle, entschiedene und doch massvolle Sprache, welche den festen Entschluss kundgiebt, den herrlichen Rheinstrom unbedingt festzuhalten, ‘so lang sich Herzen laben an seinem Feuerwein’, ‘so lang sich hohe Dome in seinem Spiegel seh'n’, bis seine Flut begraben des letzten Mann's Gebein’ in Verbindung mit der durchschlagenden Melodie, welche ein Studiengenosse Beckers, Adolf Lützeler in Bonn, dem Liede gegeben, haben das Ihre zur Beliebtheit dieses Gedichtes beigetragen. Die Franzosen blieben die Antwort darauf nicht schuldig: im Februar 1841 veröffentlichte Alfred de Musset sein Lied: ‘Le Rhin allemand’, welches allerdings nach Vogt und Koch (Geschichte der deutschen Litteratur, 1897, S. 713) nicht nur ‘recht demütigende Geschichtswahrheiten hervorhob, sondern auch dichterisch den deutschen Sänger aus dem Felde schlug.’ Fast jede Strophe aber lässt den Nationalstolz der Franzosen aufs deutlichste hervortreten. Nichts schwellt die Brust des Franzosen mehr, als die Erinnerung an den grossen Condé, welcher nach Türennes Tode (1675) das französische Heer in Deutschland befehligte. Gleich ruhmvolle Erinnerungen ruft die Erwähnung Napoléons I. wach, der in stolzem Siegeslauf den Rhein überschritt. Voll hohen Selbstgefühls rühmt der Dichter sich dessen, dass einst deutsche Mädchen sich herbeiliessen, den französischen Soldaten den ‘geringen’ Rheinwein zu kredenzen, wie er verächlich sich ausdrückt. Diese Strophe lautet in der bei Schlüter: ‘Die französische Kriegs- und Revanche-Dichtung’, Heilbronn 1878, S. 3 angeführten Uebersetzung: ‘Wir sahn ihn, euren deutschen Rhein.
Vergasst ihr selber die Geschichte,
Am Rheinesstrand die Mägdlein fein,
Die wissen schon, dass ich nicht dichte:
Sie schenkten uns euren “dünnen” Wein.’
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Zu einem durch Bluttaufe geweihten Nationalgesang und zum allgemeinen Marsch- und Kriegslied aber wurde ein anderes Lied vom November des Jahres 1840, die ‘Wacht am Rhein’ oder die ‘Rheinwacht’, wie die ursprüngliche Ueberschrift lautete, welche gleich dem Beckerschen Liede aus der damaligen Begeisterung der Deutschen für den Schutz des bedrohten vaterländischen Bodens herausgeboren ist.Ga naar voetnoot1) Dieses echt deutsche Lied, in welchem weder prahlerische Aufforderung zur Eroberung und zum Angriff, noch wildes Kriegsgeschrei oder eitle Selbstüberhebung zu finden ist, war das rechte Wort zur rechten Zeit und entfachte in aller Herzen den Funken der Begeisterung zur hellodernden Flamme. Nichts als die Liebe zur heiligen Landesmark und das Gefühl der Pflicht begeistern den Hüter des Rheinstromes im frommen Aufblick zu den Heldengeistern der Freiheitskriege mit heiligem Schwur zu geloben: ‘Du Rhein bleibst deutsch wie meine Brust’. Mit froher Zuversicht kann daher der Dichter in dem wundersam ergreifenden Liede die unerschütterliche Ueberzeugung aussprechen: ‘Fest steht und treu die Wacht am Rhein.’ In welchem schroffen Gegensatz hierzu steht die von Ch. Gauthey de Latour der Zeit entsprechend umgeänderte ‘Marseillaise de 1870 dédiée à | |
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l'armée du Rhin’!Ga naar voetnoot3)Ga naar voetnoot4) Der Kehrreim belehrt uns sofort darüber, was allen Franzosen als das eigentliche Objekt des Kampfes vor Augen schwebte: ‘Au Rhin de Charlemagne
Et des Napoléons!
Marchons! Marchons!
Fleuve des Francs,
Baigne enfin nos sillons!’
Wenn der Dichter in seinem Liede dem ‘vermessenen Despoten’ König Wilhelm das Wort in den Mund legt: ‘Deutschland bin ich’ und von Sklavendiensten redet, welche das deutsche Volk ihm und den anderen Fürsten zu leisten hat, so beweist er eben durch diese Behauptungen, dass ihm für deutsche Zustände überhaupt und namentlich für das innige Verhältnis, welches in den meisten deutschen Ländern zwischen dem Volk und dem angestammten Fürstenhaus besteht, als Franzosen jedes Verständnis abgeht. Die Zielscheibe des erbittertsen Hasses war vom Anfang des Krieges an Graf Bismarck: das ‘malheur à toi Bismarck!’, das sich als leidenschaftlicher Aufschrei der Brust des Dichters entringt, war deshalb sicherlich allen Franzosen aus der Seele gesprochen. Am besten wird der Ton und Character des Liedes durch die Wiederholung der Schlagworte: ‘Ruhm, Sieg und Ehre’ gekennzeichnet. Ihren Gipfel erreicht die Prahlerei und Grosssprecherei in den beiden letzten Strophen, in denen der Dichter nicht nur an die für Preussen so unglückliche Schlacht von Jena-Auerstädt erinnert und auf den Siegeszug nach Berlin anspielt, sondern geradezu Schmach allen Franzosen zuruft, welche am Siege der französischen Waffen nur zu zweifeln wagen. Trotz dem geschraubten Pathos werden aber bei Franzosen der in grimmige Hass gegen Deutschland und die hell auflodernde Begeisterung für Freiheit und Vaterland, welche das Lied vom Anfang bis zum Ende durchweht, ihre Wirkung nicht verfehlen. Wenn wir nun im folgenden den in den französischen und deutschen Kriegsliedern zum Ausdruck gebrachten Gedanken unsere Aufmerksamkeit zuwenden, so unterscheiden wir zunächst solche Lieder, welche von den leitenden Ideen, den im Vordergrund stehenden einzelnen Personen und | |
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Volkskreisen, den Ereignissen auf dem Kriegsschauplatz und der herrschenden Stimmung des Volkes handeln. Der Gegensatz der französischen und der deutschen Kriegsdichtung entspringt aus dem Unterschied des beiderseitigen Nationalcharakters, welcher in den Zeiten tiefgehender politischer Erschütterungen und grosser weltbewegender Ereignisse nur um so unverhüllter hervortritt. Trotz dem ungünstigen Verlauf des Krieges kam auf französischem Boden das Kriegslied zu ziemlich umfangreicher Entfaltung, weniger freilich das volksmässige. Viele Erzeugnisse der Kriegslyrik wurden in den Theatern von Paris vor Leuten aus der besseren Gesellschaft vorgetragen. Der Dichter solcher Lieder, die zweifellos die geistige Strömung der Zeit am lebendigsten zum Ausdruck brachten, haben in die Denkweise des Volkes mächtig eingegriffen Eben deshalb berücksichtigen wir bei der Auswahl der Dichtungen vor allem diejenigen, welche für den Vortrag vor vielen Tausenden bei festlichen Veranstaltungen bestimmt waren, deren Beliebtheit und allgemeine Verbreitung feststeht, oder deren Verfasser im öffentlichen Leben von Einfluss oder selbst Mitkämpfer waren. Ueber die Bedeutung der nationalen Lieder sagt J. Poile Desgranges in der Einleitung zu ‘Pendant l'orage’, Paris 1871. S. 6: Ce sont des éclairs lancés contre la Prusse pendant l'orage qui a grondé sur nos têtes’. Sittlichen Ernst, welcher das unsägliche Elend eines Krieges ermisst, und gläubiges Vertrauen auf Gottes Hilfe suchen wir in den Liedern aus dem Anfange des Krieges meist vergebens, als noch die grosse Armee von dem süssen Traum eines Spazierganges nach Berlin umfangen war. Das Vertrauen auf die Ueberlegenheit der Waffen entfachte wilde Kampfeslust und führte zu frivolem Prahlen mit leichten Siegeszügen. Nach der Mittheilung von A. Borchardt (Littérature française pendant la Guerre de 1870-71. S. 197 - Poésie Guerrière) hatte beim Ausmarsch der Truppen, wie auch die Nummer des Figaro vom 23. Juli 1870 ausweist, ein Zuave auf seiner Schulter einen Papagei, der beständig sagte: ‘A Berlin!’ Alle Lieder jener Zeit bis zum heiteren Strassenliede herab stimmten dem Vogel des Zuaven bei. Demselben Grundgedanken begegnen wir in dem von M. Albert Caprès am 13. August 1870 veröffentlichten: ‘A Berlin. Chant national’ und in: ‘A Berlin! Chant patriotique français dédié à l'armée du Rhin’ von Desgranges (Pendant l'orage, S. 7 ff.). Bezeichnend sind die beiden Kehrreime: ‘Voyez-le (le Français) courir à grands pas....
C'est lui, le géant des combats!
und noch mehr der andere, der an Siegesgewissheit wohl nichts zu wünschen übrig lässt: ‘Non! non! jamais la France
N'aura d'autre nom que le sien!
Plutôt la mort que la souffrance
Du joug prussien!
A Berlin!... Vive la France!...
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Im stolzen Bewusstsein der Ueberlegenheit seines Volkes behauptet der Dichter, dass den Franzosen, wenn auch der Kriegssturm die Erde erzittern machte, weder Blitz noch Donner erschrecken könnten. Die Vertreibung der im ‘doppelten Rausch’ befindlichen deutschen Rheinwacht denkt sich der Verfasser ziemlich leicht, dagegen zieht er es bei der anerkannten Tapferkeit der französischen Soldaten überhaupt nicht in das Bereich der Möglichkeit, dass die Deutschen nach Paris kommen und ihre Streitrosse in der Seine baden könnten. Um so zuversichtlicher, erwartet er, dass die Franzosen, welche er kurzweg ‘Söhne der Kriegsgöttin Bellona’ nennt, sich noch vor dem Herbst, wenn auch durch Ströme von Blut, bis nach Berlin Bahn gebrochen haben werden. Beim Ausbruch des Krieges stand für die Franzosen der Rheinstrom im Mittelpunkt des Interesses, ‘jener majestätische Fluss, der seines berühmten Namens wegen nur französisch sein könnte’ und nach dem Gedicht von Alb. Larroque vom 29. August 1870 (Chant de Guerre, Paris, Lachaud 1872, S. 154) als höchster Siegespreis von allen Franzosen zu erstreben sei. M.A. Scholl, welcher das Lied von Alfred de Musset fortsetzte, warf voller Entrüstung die Frage auf, was nur Preussen mit dem Rhin français zu schaffen habe. Seine Verwunderung spricht er in den Worten aus: ‘Elle (la Prusse) sait bien que c'est un vol
De ce morceau de ma patrie.’
Auch der Prinz Pierre Bonaparte vertritt dieselbe Ansicht, wenn er singt: ‘Berceau du progrès, pays magnanime,
Ton bras glorieux qui frappe et rédime,
Reprend sa vigueur et reporte enfin
Notre aigle immortelle aux rives du Rhin.’
Grossen Anklang fand auch in Paris ein Gedicht, welches vom Bau einer Rheinbrücke handelt: ‘Le pont fixe du Rhin sera bien fait, je crois,
Car on a confié cette oeuvre aux plus habiles;
L'Allemagne fournit le bois,
La France se charge des piles’.
Solche Gedanken zündeten, da sie der Eitelkeit der Franzosen schmeichelten (Litt, française, A. Borchardt, S. 19). Ein Volk, welches in den Kampf zieht, lässt kein Reizmittel zur Belebung der Kampfeslust unversucht. Die französische Kriegsdichtung wendet sich mit Vorliebe an die Ehrliebe und den in allen Schichten des Volkes tiet wurzelnden Nationalstolz. Davon zeugt auch der patriotische Sang: ‘Chant patriotique’ von Raoul de Boistael (Juillet 1870) (Les Chants de Guerre de la France, E. Lachaud, Editeur, 1872, S. 14), in welchem Worte wie laurier, triomphant, jours glorieux, intrépides drapeaux, gloire, (décoré de) palmes immortelles nicht gespart sind. | |
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Zu den Liedern, welche zum öffentlichen Vortrage vor einer grossen Menschenmenge bestimmt, als Gelegenheitsgedichte im wahrsten Sinne des Wortes und als das getreuste Abbild der jeweiligen Stimmung weiterer Kreise in der Hauptstadt gelten können, gehört das von Jules Frey verfasste und durch Devoyod in der Oper von Paris vorgetragende Lied: ‘A la Frontière. (Chants de Guerre, Paris 1872, S. 1 ff.). Den Ruf: ‘A la Frontière!’ richtet der Dichter um so eindringlicher an die waffenfähige Jugend Frankreichs, als man in Frankreich vom Anfang an im Falle einer Niederlage die Losreissung von Elsass-Lothringen befürchtete. Zur Steigerung der Kampfeslust und Siegeshoffnung glaubt der Verfasser an nichts Geeigneteres erinnern zu sollen, als an das Jahr 1793, einen Glanzpunkt der Ruhmesgeschichte Frankreichs. Die jungen Krieger bezeichnet er sogar als ‘fils de Quatre - vingt - tre ze.’ - Auch in ‘Chants de Guerre’ S. 91 finden wir im gleichen Sinne eine Erinnerung an das so ruhmvolle Jahr, und a.a. O., S. 95 werden die Franzosen geradezu ‘foudres de quatre - vingt - treize’ genannt. Echt französisch ist Jules Freys Auffassung, nach welcher der Kampf nicht nur den Interessen Frankreichs, sondern denen der ganzen Menschheit gelte. Während die anderen Völker gegenüber den Herausforderungen der ‘preussischen Haudegen’ in träger Unthätigkeit verharrten, wären es nur die Franzosen, welche für die Freiheit und die Sache der Humanität in den Kampf zögen. Der Gedanke, dass das gegenwärtige Geschlecht sich der Väter würdig zeigen und die Ruhmesthaten des Jahres 1792 sich zum leuchtenden Vorbild nehmen möchte, kehrt in verschiedensten dichterischen Erzeugnissen wieder, so auch in ‘La France sauvée par la liberté’ von J. Daguillon (Chants de Guerre, S. 5 ff.). Die Vorführung der siegreichen Kämpfe der Franzosen gegen die Preussen in der Champagne im Jahre 1792 benutzt auch André Theuriet in: ‘Les Paysans de l'Argonne’, (Paris, Alph Lemerre 1870) als ein Mittel zur Belebung der Siegeshoffnung der Holzhauer und Kohlenbrenner des Argonner Waldes. Ohne einige Seitenhiebe gegen die Preussen geht es da natürlich nicht ab, welche damals nach seiner Meinung mit Freuden nach Paris gekommen wären, um sich an seinem köstlichen Rotwein gütlich zu thun und ihr kaltes Blut an seiner warmen Sonne zu beleben. In seiner Bewunderung jener siegesgekrönten Helden lässt er sich zu dem Ausruf hinreissen: ‘Wir sind das Licht, sie die Finsternis’ (a.a. S. 11). Mehrmals auch begegnen wir in den Liedern dem Wunsche, dass der Geist eines Kleber oder Kellermann, des Helden von Valmy, die jungen Streiter umschwebe und zu ähnlichen Grossthaten begeistere, so in ‘La Nouvelle Marseillaise’ von J. Rauch, Alsacien, Principal du collége de Thionville (Chants de Guerre, Paris, 1872, S. 98 ff.), auch in ‘La Vision’ (Albert Delpit, L'invasion 1870, Lachaud 1870, S. 86) spielt bei Auf- | |
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frischung der geschichtlichen Erinnerungen die Erwähnung der ruhmvollen Tage von Valmy und Jena eine Hauptrolle. Am angenehmsten klang den Franzosen das Heldengedicht des Siegers von Jena im Ohr, welcher fast einer ganzen Welt Gesetze vorschrieb. Auf dieser Ruhmesbahn hoffte man in Frankreich nach Eröffnung der Feindseligkeiten sicher weiter schriten zu können (L'Année Sanglante von Paul Jane, London, Trübner et Co., 1872, S. 11). Den Hauptteil der Schuld am Kriege haben die meisten Verfasser von Kriegsliedern Napoléon III. und der Kaiserin zugeschrieben, so Viktor Hugo in seinem episch-lyrischen Gedicht: ‘L'Année Terrible’. (Paris, 1872.) Andere Lieder, wie ‘La Nouvelle Marseillaise’ von Tavernes (Chants de Guerre, S. 311) stellen den Krieg als reine Abwehr und die notgedrungene Antwort auf übermütige Herausforderungen dar. Paul Jane, dessen gauze Dichtung ‘L'Année Sanglante’Ga naar voetnoot1) ein entschieden deutsch-freundlicher Zug durchweht, urteilt ohne Zweifel vorurteilsfreier, indem er auch das französische Volk nicht von jeder Verantwortung freispricht. Zum mindesten hatte es sich im Siegesrausch mit seinem Herrscher vollständig eins gewusst (P. Jane a.a. O.S. 7). Hierin stimmt er vollständig mit dem Urteil Karl Hillebrands in seinem ganz objektiv gehaltenen Werke überein: ‘Zeiten, Völker und Menschen’. Strassburg, I. Bd., S. 243: ‘Man vergesse nicht die Mitschuld des Landes am Kriege’. Zu den Kriegsliedern, welche durch Heranziehung der Religion ein besonderes Gepräge erhalten, gehört von Victor de Laprades ‘Poëmes civiques’ der Aufruf an die heldenhaften, unbesiegten Söhne der Bretagne und Vendée (‘Aux soldats et aux poètes Bretons’). (Laprade a.a. O., S. 331) vom Oktober 1870. Der Schlachtengott selber entbietet jenes christliche Volk, Ludwig der Heilige und Jeanne d'Arc beschwören es, den von ‘unsauberen Fremden’ überschwemmten französischen Boden zu befreien. Auch die Schilderung der Stimmung des Tages, der damals herrschenden allgemeinen Opferfreudigkeit, welche die Bewohner der verschiedensten Landesteile Frankreichs ergriffen, hat sich Albert Delpit in seinem Gedicht: Le départ du Breton’ (L'invasion 1870, Lachaud, Paris, 1870, S. 53 ff.) zum Gegenstand erkoren. Da sehen wir die urwüchsigen Söhne der Bretagne zur Fahne eilen, welche ihre heimatlichen Waldungen sonst nie verliessen und am liebsten ihr Leben in der kleinen Hütte verbrachten, in welcher ihre Eltern ihre Tage beschlossen. Einfalt und Frömmigkeit, welche sie in den Tagen ihres stillen Glückes auszeichneten, begleiten sie auch in den Lärm des Kampfes. Vor Beginn des Gefechtes knieën alle nieder und sprechen | |
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leise murmelnd ihr Gebet. Dann segnet sie der Pfarrer im Namen Gottes, Christi und der Jungfrau Maria. Ins Feuer geht es dann unter dem Wehen zweier Banner, der ‘Fahne für ihr Frankreich und für ihren Gott’ (a.a. O., S. 58). Bezeichnend für die nationale Denk- und Anschauungsweise des französischen Volkes ist die ‘Abschiedsrede’ eines Schulmeisters aus dem Elsass, der als Franktireur nach Kriegsrecht erschossen wird. Nach dem Unglück von Sedan rief Trommelwirbel die Bewohner eines kleinen Fleckens zusammen; vor der Kirche hielt man Rat. Nach kurzer Ansprache des Maire, welcher eine Fahne schwang, ertönte die Sturmglocke, die Bewohner entschlossen sich, ihre Häuser den Feinden preiszugeben und den nahen Wald aufzusuchen. Vorher durchwanderte der Lehrer in Begleitung seiner Frau noch einmal das Schulhaus, die Stätte seines häuslichen Glückes. Zwei Tage nachher treffen wir ihn dann in Baden, der Heimat seiner Frau. Dahin hat er sich begeben, um seine Frau und die Mitgift von 100 Thalern den hochbetagten Eltern zurückzubringen, da er als Franzose von Deutschen nichts behalten könne und sich nunmehr verpflichtet fühle, ‘die grossen blauen Augen seiner Frau hassenswert zu finden.’ Ja er glaubt sogar, durch die Küsse, die er mit seiner Frau gewechselt, um sein früheres Glück zu besiegeln, an seinem Vaterlande sich schwer vergangen zu haben (Poëmes de la Guerre 1870-71 par Em. Bergerat, ‘Le maître d'école’, Poésie dite par M. Coquelin au Théâtre français le 27 novembre 1870, Paris, Alph. Lemerre, S. 13). Mit der Aufforderung zur grössten Grausamkeit gegen die Preussen, welche Pierre Bonaparte, der Vetter des Kaisers, in den Worten aussprach: ‘Le sang et de l'eau
Marchons! qu'il ruiseile!’
stand er nicht vereinzelt da, ähnliche Gedanken kehren wieder bei dem Journalisten de Pêne, welcher wiederholt fordert: ‘que la sang prussien soit versé par cataractes, avec la divinne furie du déluge’ (Litt, franç. A. Borchard). In dem Gedicht: ‘A la France’. (Poëmes civiques par Victor de Laprade de l'Académie Française, Paris 1873, S. 391 ff.) glaubt der Dichter eine heilige Pflicht zu erfüllen, wenn er immer von neuem seinen Landsleuten nichts als Rache predigt und sie fort und fort beschwört, jeden Verkehr mit den verhassten deutschen ‘Haudegen’ zu meiden und vor dem erbarmungslosen Vernichtungskampfe gegen die ‘zügellosen Banden Attilas’ (a.a. O., S. 394) nicht zurückzuschrecken. Man habe es jetzt bitter in Frankreich zu bereuen, dass man einige Geistesprodukte der Deutschen mit Bewunderung aufgenommen und ihren ‘Meistersängern’ in den heimischen Kunsttempeln Eingang verschafft hätte. Was würde aus der Welt werden, so ruft er in blindem Nationalstolz aus, wenn die ‘Seele des Völkerlebens, Frankreich’ sich nur einmal auf kurze Zeit zurückzöge? Zunächst gälte es aber auf der ‘umflorten Leier | |
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die Saite erzittern zu lassen, welche leidenschaftlichen Hass ins Herz pflanzt und den Stahl in die Hand drückt’ (a.a. O., S. 396). Die unerschütterliche Ueberzeugung Laprades von Frankreichs hoher christlicher Mission kommt namentlich in seinem Gedichte: ‘A la France’ (a.a. O., S. 358 ff.) zum vollsten Ausdruck. Er ist der festen Ueberzeugung, dass Christus für sein Friedenswerk der Franken unbedingt bedürfe. Was Wunder daher, dass nach seiner Ansicht das Menschengeschlecht wieder in dunkle Nacht zurücksinken werde, wenn die Finsternis des Nordens das von Frankreich ausstrahlende Licht zurückdränge? Nur unter Frankreichs geistiger Führung könnten die Völker Verwirrungen, wie vor Babel entgehen. Die Fackel des Geistes und der Freiheit würden jener ‘feige königliche Brandstifter’ und jene ‘wilden Plünderer’ den Händen der Franzosen niemals entwinden können (S. 359). ‘Sonnets cuirassés’ (geharnischte Sonette), wie Rückert oder Schwertlieder, wie Theodor Körner, hat das französische Volk nicht hervorgebracht. Nur ein solches Kriegslied, welches vom Journal Liberté veröffentlicht wurde, können wir anführen, ‘un chant de garde mobile, l'hymne du fusil à tabatière’ (in Hinterlader umgewandeltes älteres Gewehr): ‘J'ai du bon tabac
Dans ma tabatière,
J'ai du bon tabac,
La Prusse en aura.
J'en ai du bon et du râpe,
Bismarck, ce sera pour ton fichu nez.
(A. Borchardt, Litt, franç, pendant la Guerre de 1870-71). Es berührt uns peinlich, selbst Mitglieder der Akademie, sogar einen Viktor Hugo in die kindischen Beschuldigungen des Uhrendiebstahls und anderer Diebereien einstimmen zu hören, welche durch den grossen Haufen in Paris ausgestreut wurden. Da aber die deutsche Heeresverwaltung auch in diesem Punkte auf strengste Mannszucht hielt, so brauchen wir mit diesen unerwiesenen, allgemeinen Anklagen uns nicht weiter zu befassen sondern können sie einfach tiefer hängen. Wenn wir nun zu den Schilderungen übergehen, welche die hervortretenden Persönlichkeiten französischer wie deutscher Nationalität in der Lyrik jener Tage gefunden, so können wir die Skizzen und Zerrbilder nebst hinzugefügten vierzeiligen Gedichten (quatrains) wenigstens nicht gänzlich unbeachtet lassen, welche jene sich zum Ziel gewählt hatten. Durch sie vornehmlich gewannen die hochfliegenden Pläne, Erwartungen und Hoffnungen des französischen Volkes Gestalt und Leben. Von Erzeugnissen dieser Art nennen wir: ‘La Ménagerie impériale’, ‘l'Aquarium impérial,’ ‘l'Affiliation de Badinguet’ (Spottname Napoléons III.), ‘Séries des Pamphlets illustrés.’ Den Zusammenbruch des schon in seinen Grundfesten morschen und unterwühlten Kaiserreichs begleitet die Dichtung meist mit bitteren Ver- | |
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wünschungen. ‘Blutsauger, Verräter, verruchter Sieger vom 2. December, Ursache alles Unglücks’, das sind die Bezeichnungen, mit denen sie den gefallenen Cäsar belegt, so P.H. Lacourrière in ‘La Française’ (Chants de Guerre, Paris 1872, S. 94). Viktor Hugo hat in ‘L'Année Terrible’ (Paris, Hugues 1872) fast den ganzen ersten Teil bis Seite 27 der Aeusserung seines leidenschaftlichen Hasses gegen Napoléon gewidmet. Tröstend vertieft sich der Dichter in die Heroengeschichte Frankreichs. Die Gestalten eines Karl Martell, eines Karl des Grossen, Türenne, Condé, Napoléon I. treten vor sein geistiges Auge. Um so schimpflicher freilich brandmarkt er nun den Verrat des ‘Feiglings’ Napoléon III. Keine Niederlage der französischen Waffen käme der von Sedan gleich. Da das düstere Rossbach fast noch dem hellen Siege gleiche, so kennt sein tiefer Schmerz kein anderes Linderungsmittel, als das unheilvolle Wort ‘Sedan’ ‘auszuspeien’ (a.a. O., S. 10 und 11). Sein Tyrannenhass hat offenbar durch eine neunzehnjährige Verbannung aus dem Vaterlande nur um so reichere Nahrung erhalten. Darum empfindet er über den Sturz Napoléons III. eine geradezu teuflische Freude und erwähnt mit tiefer Verachtung seine Unterwerfung. ‘Mitten im heissesten Kampfgewühl bei Sedan vernimmt man den Ruf: “Ich will leben!” Das Geschütz schweigt, man hält inne im Morden, und der schwarze Adler öffnet seine Krallen’ (a.a. O., S. 12). ‘Und nun übergeben Gallien, Frankreich und alle Helden ihren Degen durch die Hand eines Banditen’ (a.a. O., S. 15). Im Original heissen die Worte: ‘Tandis que, du destin subissant le décret
Tout saignait, combattait résistait ou mourait,
On entendit ce cri monstrueux: Je veux vivre!
Le canon stupéfait se tut, la mêlée ivre
S'interrompit... - le mot de l'abîme était dit.
Et l'aigle noire ouvrant ses griffes attendit,’
‘Alors la Gaule, alors la France, alors la gloire,
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Napoléon, plus grand que César et Pompée
Par la main d'un bandit rendirent leur épée.’
(Fortsetzung folgt.) Prof. Dr. ERITSCHE, (Zwickau). |
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