Germania. Jaargang 2
(1899-1900)– [tijdschrift] Germania– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermdArthur Wing Pinero und das englische Drama der Jetztzeit
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hat er sich nicht losgerissen. Die Dramatiker des Kontinents haben das Gebiet ihrer Kunst nach zwei Seiten hin erweitert: sie haben entweder Fragen behandelt, welche ihre Vorgänger nicht auf das Theater gebracht hatten, besonders solche, welche die Geldverhältnisse oder die gesellschaftliche Ordnung betreffen; oder sie haben den vor ihnen üblichen dramatischen Situationen eine unerwartete Lösung gegeben. So schildern Ibsen und Sudermann die Frau, welche sich dem Manne gleichstellen will, als eine Heldin, während Molière sie nur lächerlich machte. In beiden Fällen stellt Pinero sich eher auf den überlieferten als auf den modernen Standpunkt. Die sozialen Probleme berührt er kaum; die Liebe behandelt er in demselben Sinne als die älteren Dichter seit der Zeit der Minnesänger. In dem ganzen Umfange des modernen Weltgetriebes ergründet er nur das allerdings sehr anziehende Problem des Verhältnisses der Geschlechter zu einander. Und auch hier ist ihm das von den Franzosen mit Vorliebe bebaute Feld des Ehebruchs durch die englische Sitte untersagt, sodass Verlobung und Ehe das einzige Thema seiner Dichtung ist. Aber er fasst das Problem nicht in der herkömmlichen Weise an. In den älteren Komödien kann der Vorhang fallen, wenn sich zwei Verlobte zur allgemeinen Befriedigung gekriegt haben; wie in den Kindermärchen bildet die Hochzeit einen genügenden und glücklichen Ausgang. So einfach und optimistisch ist nun Pinero in den wenigsten seiner Stücke; schon in einer seiner frühesten Possen belehrt ein Witwer wehmütig einen jüngeren Freund: ‘Von gebrochenen Herzen sprich, wenn du dein Mädchen gewonnen, nicht wenn du sie verloren hast!’ Wie nach allgemeiner Erfahrung die bittere Seite des Lebens sich erst nach der Vermählung allmählich enthüllt, so fangen die meisten Stücke Pineros erst an, nachdem die Helden einander bekommen haben. Da offenbart sich erst der Abgrund, der oft zwei scheinbar für einander geschaffene Wesen scheidet; da tauchen alle die Enttäuschungen und Schwierigkeiten auf, welche jede Verwirklichung schöner Träume begleiten. Nach dem ersten Fehltritt gestattet das Schicksal dem gereiften Herzen manchmal, sein Glück zum zweiten Male zu versuchen, aber auch dann ist die Liebe keine süsse Tändelei mehr, sondern ein schweres Rätsel, von dessen Lösung das ganze Schicksal abhängt. | |
V.Die sieben ernsteren Stücke Pineros, die seit etwas mehr als zehn Jahren erschienen sind, behandeln fast sämtlich dieses Thema der Liebe im reiferen Lebensalter. Verlobte oder Eheleute, die durch Abneigung, Stolz oder Misstrauen von einander getrennt werden, Verwitwete oder Unvermählte, die mit Sehnsucht und Argwohn der Liebes Lust und Qual | |
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entgegensehen, alle diejenigen, welche die Erfahrung enttäuscht, aber nicht befriedigt hat, sind die Helden dieser Dramen. Von diesen sieben Stücken könnten wir drei, welche einen idealistischen Hintergrund und einen glücklichen Ausgang haben, als Komödien bezeichnen, obwohl sie manchmal sehr bange und schwermütige Empfindungen weckenGa naar voetnoot(1). Drei sind im Grundton und im Ausgange entschieden tragischGa naar voetnoot(2) und das siebente schwebt unsicher zwischen den beiden Gebieten des Tragischen und Komischen, da es einen traurigen Stoff in scherzender Weise behandeltGa naar voetnoot(3). In den drei Komödien herrschen die Gestalten milder, liebender Frauen vor, und sie schliessen alle drei mit Hochzeiten. Das Uebel wird darin entweder gar nicht, oder nur von Nebenfiguren vertreten. Auch in den Dramen stehen die Frauencharaktere im Vordergrunde: bald werden sie durch die Laster der Männer zu Grunde gerichtet, bald stürzen sie sich selbst mit Anderen ins Unglück. In jedem dieser Fälle aber ist es die Liebe, welche über ihr gutes oder böses Schicksal entscheidet. Pinero verklärt die Liebe als die Leiterin des Weibes, und daraus leitet er die ganze Psychologie des Weibes ab. Dieselbe stimmt mit der schon lange auf der englischen Bühne geltenden Auffassung überein, welche von Meredith mit folgenden Worten verspottet wird: ‘Die ruhige, freimüthige Frau, welche, wie Molières Célimène, dem Manne ebenbürtig entgegentritt, wird nach dieser Ueberlieferung als herzlos verurteilt. Man zieht ihr die niedliche Thörin, die passive Schönheit, den Ausbund reizender Launen vor, die in empfindsamen Romanen als echt weiblich und sympathisch erscheint.’ (29.) Die von Meredith verächtlich behandelte gedankenlose Schönheit, die nur ihrem Gefühle lebt, hat Salaman dagegen in einer Reihe lose verbundener Skizzen verherrlicht, worin er die gebildete gelehrte Frau lächerlich macht. Sanft und aufopfernd, zutraulich und beständig erscheinen Pineros verliebte Heldinnen, welche gelegentlich, aber nur in Folge arger Uebertreibung, mit denen Shakespeares verglichen werden. Solche weiche, zarte Geschöpfe sieht das englische Publikum gern auf der Szene, aber der denkende Zuschauer vermisst an ihnen die Kraft und Tiefe der Leidenschaft, den Charakter und die Originalität, welche allein einem litterarischen Werke dauernden Werth verleihen können. Der vollkommenen, engelgleichen Tugend fehlt bekanntlich das Vermögen, bei uns Unvoll- | |
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kommenen die höchste Sympathie zu erwecken. Und so lassen denn Pineros ätherische Frauengestalten das Herz des Zuschauers kalt. Sie schweben gleichsam in nebeliger Ferne. Wenigstens gilt dies für die jugendlichsten, mildesten und tadelfreiesten unter ihnen. Je älter und reifer die Frau, je ausgeprägter ihre Individualität, desto mehr wird unsere Theilnahme für sie angeregt. Die beste von Pineros Komödien ist seine Darstellung der Krisis, welche beim ersten Vorzeichen des nahenden Alters im Inneren des Menschen ausbricht. Nach den beiden Helden ist sie die Die Prinzessin und der Schmetterling betitelt. Die Prinzessin ist eine Wittwe, die zehn Jahre ihrer Jugend bei einem greisen Ehemann im fernen Auslande zugebracht hat, der Schmetterling, ein Londoner Hagestolz, der in der grossen Welt umhergeflattert ist, ohne sich in einem festen Heim niedergelassen zu haben. Bange vor dem bevorstehenden Alter wollen beide eine Zuflucht in einem Ehebündniss suchen, welches allen Erwartungen der Welt, aber keinem heissen Wunsche ihres Herzens entspräche. Plötzlich erwacht in beiden die schlummernde Leidenschaft, jeder fühlt sich vom andern weg und nach einem jüngern Geliebten hingezogen, und nun feiern sie beide eine Vermählung zu welcher ihr Gefühl sie drängt, denn die Liebe, die stets jung bleibt, wird auch von der Jugend angezogen. Die Charaktere sind, wie die Situation, durch ihre Neuheit reizend. Sowohl die reiferen Helden, welche unbewusst noch eine reiche Fülle frischer Empfindung bewahrt haben, als die zwei jüngeren, die ihnen trotz des Missverhältnisses im Alter wahlverwandt entgegenkommen, sind eigensinnige, gemütreiche Geschöpfe, bei denen Neigung und Impuls alle Einwände des Verstandes zum Schweigen bringen. Vielmehr erscheint in dieser phantastisch idyllischen Welt die Ungleichheit des Alters nur als ein stärkeres Band der verschwisterten Seelen. In der Prinzessin und dem Schmetterling entfernt sich Pinero am allerweitesten von der Anschauungsweise der kontinentalen Realisten. Die Sorgen und Bedenklichkeiten des prosaischen Lebens sind ganz aus dem Gesichtskreise seiner Helden verbannt, und ihr witziger, scharf pointirter Dialog ist mit dem nachlässigen abgebrochenen Gange der gewöhnlichen Unterhaltung gar nicht zu vergleichen. Diese hochpoetische Komödie, welche von einem so angesehenen Kritiker als Courtney mit Shakespeares romantischen Schauspielen verglichen wird, steht scheinbar in vollkommenem Gegensatz zu Pineros älteren Possen. Die letzteren spiegeln das Leben als ein verworrenes Gemisch von lächerlichen Missgriffen, die erstere als einen süssen Rausch von erhabenen Empfindungen wieder. Dennoch gibt es zwischen beiden Gattungen eine gewisse Beziehung: Das tagtägliche, eintönige Treiben der Welt lassen sie unbeachtet, um sich im | |
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willkürlichen Spiele der Phantasie zu ergötzen. Beide sind der trocknen Nüchternheit des gewöhnlichen Lebens gleich feindlich. Die glückliche, schwärmerische Stimmung ist zwar nicht die herrschende in Pineros Dramen, denn die Aufgabe des Theaters ist ja, die Kämpfe und Leiden der Menschheit, also die trübe Seite des Lebens darzustellen. Doch klingt durch alle seine Werke ein optimistischer Grundton, ein fester Glaube an die rettende Macht der Liebe durch. Und da die Liebe in jedem weiblichen Herzen einen Altar hat, auf welchem das Feuer bald unter der Asche glimmt, bald in hellen Flammen auflodert, so ist das Unglück des Sieges niemals gewiss. Das unheilbringende Element in Pineros Dramen ist nur selten die berechnete Bosheit des Menschen. Nicht ein herzloses Weib wie die böse Hanne in Fuhrmann Henschel, nicht einen lasterhaften Sohn wie der in Ancey's Ecole des Veufs, nicht einen ehrgeizigen Egoisten wie Ibsens Gabriel Borckman hat Pinero geschaffen. Er wagt es nicht, das Uebel als freie, selbständige Gewalt über die Bretter schreiten zu lassen, sondern lässt es nur als eine unerwartete Folge des Missverständnisses oder der Schwäche in seine Dramen einschleichen. Mit den besten Absichten geraten seine Helden in die Hölle. | |
VI.In den drei Dramen mit tragischem Ausgange wird das Verderben bringende Prinzip nicht im Stücke selbst dargestellt, sondern ragt aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, welche die Nachwirkungen einstiger Fehler erfahren muss. In der Berüchtigten Frau Ebbsmith wird das Unglück der Heldin durch ihre anerzogenen falschen Ansichten, und nicht durch die Bosheit Anderer herbeigeführt. Die Helden der zwei andern tragischen Dramen werden das Opfer ihres früheren unsittlichen Lebens, aber erst nachdem sie den Vorsatz, sich zu bessern, gefasst, und zum Teil ausgeführt haben. Ihre Schuld wird dem Zuschauer nicht unmittelbar vor Augen geführt und gehört überdies zu der Art von verlockenden Sünden, der natürlichen Triebe, welche nur ein sehr strenger Sinn dem Verbrechen gleichstellt. Die innere Entzweiung der Personen mit sich selbst oder ihr missliches Verhältnis zu dem Nächsten bleiben also die einzigen dramatischen Motive, deren Verwendung sich Pinero gestattet. Das sinnlich aufregende Interesse äusserlicher Vorfälle und Konflikte gibt er in seinen späteren Dramen fast gänzlich auf. Das Handeln wird nicht von aussen her bestimmt, sondern innerlich durch das Schwanken des Willens geleitet. In der Charakteristik der Heldinnen liegt daher der Schwerpunkt in den zwei merkwürdigsten Stücken Pineros, in der Berüchtigten Frau Ebbsmith und in der Zweiten Frau Tanqueray. Beide Stoffe erinnern so sehr an Ibsen, dass sie in bewusstem Wettstreit mit dem norwegischen Meister entstanden zu sein scheinen. | |
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Frau Ebbsmith ist eine Agitatorin, welche in demokratischen Volksversammlungen zu Gunsten der Frauenemancipation und gegen die erniedrigende Knechtschaft der Ehe eifert, bis Armut und Erschöpfung sie zwingen, die Politik aufzugeben. Da verdingt sie sich als Krankenpflegerin und dient in diesem neuen Berufe einem konservativen Parlementarier, den die bittere Enttäuschung einer unglücklichen Heirat ins Ausland getrieben hat. Die beiden träumen von einem freien Bunde und von einer gemeinsamen Propaganda gegen die verhasste Einrichtung der Ehe, aber dieser gleiche Bund freier Geister erweist sich bald als unausführbar, da der Weltmann in seiner Gefährtin doch nur eine Geliebte sucht. Sie weist zwar seine sinnliche Galanterie anfangs als erniedrigend zurück, aber bald unterliegt sie ihrem eigenen Drange nach Liebe. Vollständig gedemütigt wird sie, als sie die Verächtlichkeit ihres Freundes und das Unrecht, das er seiner rechtmässigen Gattin zugefügt hat, erkennt. Dieses Drama ist nur ein Gegenstück zu Rosmersholm; nur entwickeln die Charaktere und Erfahrungen der Heldinnen sich in entgegengesetzter Richtung. Ibsens Rebecca West tritt voll politischen Ehrgeizes in Rosmers Haus und fühlt sich anfangs zu ihm hingezogen, aber aus sinnlicher Begierde. Allmälich wird sie von dem auf dem alten Herrensitze Rosmersholm herrschenden Geiste des Zweifels und der ängstlichen Gewissenhaftigkeit befangen, bis sie Lebensfreude und Willenskraft einbüsst, und ihr Dasein nicht länger ertragen kann. Umgekehrt tritt Pineros Agnes Ebbsmith zuerst als eine von sinnlichen Gelüsten freie Idealistin auf, und nimmt zu ihrem Entsetzen wahr, das ihr ganzes Wesen doch von weiblicher Sinnlichkeit durchwuchert ist. In ihrer Abneigung gegen die Pflichten der Ehe hat sie menschliche Gesetze und gesellschaftliche Einrichtungen mit Füssen treten können, schliesslich wird sie von innen heraus, durch die Empörung ihres eigenen weiblichen Instinktes überwunden. Der Umschwung in den Anschauungen der Rebecca West, ihr Sinken unter dem Einflusse hergebrachter sittlicher Begriffe, bleibt dem gewöhnlichen Menschen ziemlich unverständlich. Pinero dagegen hat seiner Heldin handgreiflichere Beweggründe geliehen als Ibsen, aber durch die Bedeutung, die er den natürlichen Trieben gegeben, die ganze Handlung in eine niedrige Sphäre roher Empfindungen herabgedrückt. Wie in Agnes Ebbsmith der bewusste Verstand, so sträuben sich in der Zweiten Frau Tanqueray die leidenschaftliche Sinnlichkeit und Vergnügungslust gegen den Zwang der gesellschaftlichen Ordnung, aber nicht mit besserem Erfolge. Paula Tanqueray hat ihre Selbständigkeit nicht wie Agnes in dem Predigen demagogischer Lehren, sondern in der Neigung reicher junger Männer gesucht, mit denen sie herumreiste und sich des Lebens freute. Ein einsamer, gutherziger Witwer liebt sie und nimmt sie | |
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zur Frau. Aber die Belastung, die sie aus ihrem früheren Leben reiner Willkühr mit in die Ehe gebracht, drückt die Neuvermählte im eigenen Hause wie in der äusseren Welt, und trotz der Güte ihres Mannes kann sie das Bewusstsein nicht abschütteln, dass sie die Achtung ihrer Umgebung auf ewig verscherzt hat. Auch sie geht an derselben Auflehnung gegen menschliche Gesetze zu Grunde, in welcher Ibsens Helden ihre Erlösung suchen. An Willenskraft und Stolz aber kann sich diese schwächliche Verirrte keineswegs mit einer Hedda Gabler messen. | |
VII.Uns geht hier die moralische Frage nicht an, ob es Aufgabe des Einzelnen sei, sich gegen die Gesellschaft aufzulehnen oder sich ihr zu fügen. Vom ästhetischen Standpunkte aus aber müssen wir feststellen, dass Ibsens selbstbewusste und selbstsichere Helden vor den zaghaften, grübelnden Personen Pineros den Vorzug haben. Ohne Spannung des Willens lässt sich keine dramatische Handlung denken, und mit Recht hat man das Drama als ein Wirken von Tätigkeit und Leidenschaft definirt, in welchem die Kräfte der Charaktere durch den Zusammenstoss der Umstände aufgeregt werden. Der Zuschauer fühlt sich beklommen und verwirkt, wenn der Held eines Schauspiels sozusagen den Krebsgang geht, mit festem Entschlusse die Handlung einleitet, und dann allmälich an sich selbst irre wird, um in Ohnmacht und Zweifel zu endigen. Statt eines fortschreitenden Interesses flösst er eine stets wachsende Unsicherheit ein, welche sich bei der Katastrophe nicht in eine starke Empfindung auflöst, sondern nur in Zweifel und Grübeleien ausgeht. Der Verstand erhält bei solchen Schauspielen mehr Anregung als das Herz, und der Bau des ganzen Werkes macht eher den Eindruck eines fesselnden Rätsels als einer lebendigen Schöpfung. Die Entstehung von Pineros Theaterstücken beschreibt Salaman fast wie den Verlauf einer wissenschaftlichen Untersuchung: ‘Nehmen wir an, Pinero habe, in ernster Stimmung, den Stoff eines neuen Schauspiels gewählt. Er fängt damit an, dass er, nach seiner Erfahrung als Weltmann, seiner Einsicht als Psychologe, seinem Instinkt als Schauspieldichter und seiner Ethik als Humorist, eine logische Lösung der Hauptfrage sucht, welche den Konflikten des Willens und dem Zusammenstosse der Umstände, denen das Thema sein dramatisches Interesse verdankt, zu Grunde liegt. Dann erfindet er die besondere Begebenheit, die seine These versinnlichen soll, und die Personen, die nötig sind, um die Begebenheit in Handlung zu verwandeln; ihre Charaktere entwickeln sich durch die Situationen, in welche sie gestellt werden, während die Zwischenfälle der Begebenheit durch die gegenseitige Einwirkung der Charaktere von selbst entstehen.’Ga naar voetnoot(1) | |
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Eine Folge des so beschriebenen fast mechanischen Verfahrens ist eine gewisse Gleichförmigkeit in der Behandlungsweise vieler Dramen. Da sie nicht aus dem vollen Menschenleben gegriffen, sondern erst nach logischen Formeln konstruirt sind, fehlt ihnen auch die konkrete Breite und Kraft, welche echt genialen Schöpfungen eigen ist. Einige auffallende Charakterzüge kehren häufig wieder, und die zahlreichen und scheinbar sehr verschiedenen Personen lassen sich auf eine geringe Anzahl fester Typen reduzieren. Die Frauen stehen im Vordergrunde und haben, wie schon angedeutet, in ihrem Wesen eine Reihe gemeinsamer Züge. In ihnen allen sind Verstand und Berechnung den Trieben des Herzens untergeordnet. ‘Wenn der Teufel ein Weib fangen will,’ heisst es in einem unserer Stücke, ‘kriecht er unter der Gestalt eines Impulses in ihr Herz, denn da findet er's am wärmsten.’ - ‘Die Reue ist des Weibes Leibgericht,’ ruft eine junge Heldin aus, ‘sie gedeiht dabei.’ Die Uebereilung im Empfinden, Sprechen und Handeln ist der Ursprung der meisten Fehler, welche unser Dramatiker seinen Frauengestalten beilegt. In Ermangelung tieferer Leidenschaften muss sie oft als einziger Hebel in der Handlung seiner Stücke dienen. Sie führt zu Lügen, Verwirrung und Beschämung, ohne der Liebenswürdigkeit des schönen Geschlechts Abbruch zu thun. Die Backfische sind geradezu reizend mit ihrer überspannten Empfindsamkeit, mit ihren Kniffen und Betrügereien. Die Frauenfrage beschäftigt das englische Volk viel mehr als die Nationen des Kontinents. Pinero hat sie oft mit witzigen Anspielungen berührt. Die Athletin hat er in dem poetischen Lustspiele, die Amazonen, lächerlich gemacht, die Politikerin in dem Schwächeren Geschlechts, das Sportsweib in Dandy Dick, die Journalistin in den Zeiten. Der falschen Philantropie, welche einzelne Frauen verleitet, ihre nächsten Pflichten zu Gunsten einer phantastischen Menschenliebe zu vernachlässigen, hat er ein satirisches Lustspiel, das Steckenpferd, gewidmet. Der Widerstreit zwischen solchen Auswüchsen der Emanzipationsbewegung und Pineros Auffassung der weiblichen Natur führt zu ergötzlichen ü hneneffekten, wenn frauenhafte Zärtlichkeit und Schwäche unter angenommenen männischen Gewohnheiten hervorbrechen. Von der Gleichstellung der Geschlechter will Pinero nichts wissen, vielmehr weist er überall auf ihren Gegensatz hin. Eine andere Form der Frauenbewegung aber billigt er durchaus; es ist die, welche, die ritterliche Galanterie auf die Spitze treibend, die Ueberlegenheit des Weibes in allen Tugenden des Herzens und Gemütes unbedingt behauptet. Die rührenden oder komischen Situationen, wozu ihre Milde oder Lebhaftigkeit führen, hat er öfters dargestellt; weniger hat er sich an die bedenklichen oder tragischen Folgen | |
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gewagt, welche weibliche Leidenschaftlichkeit nach sich zieht. Die fanatische Ebbsmith und die verderbte Tanqueray gehen an einem rein inneren Kampfe zu Grunde. Die echt weibliche Leidenschaft der Eifersucht hat er nicht in ihrer äussersten Wut dargestellt. Ob wir aber Pineros Heldinnen mit den nüchternen bedächtigen Damen vergleichen, die wir im häuslichen Kreise oder im Geschäft um uns her schalten und walten sehen, oder ob mit den furchtbaren Gestalten, die im Dienste der Rache, des Ehrgeizes oder niederer Lüste von einem Shakespeare geschildert werden, so erscheinen uns selbst die kräftigsten Schöpfungen unseres Dramatikers sehr blass, sein Ideal des Weibes aber als schwächlich und arm. Auch bei seinen Männern vermissen wir den hart zugreifenden Willen, die zweckmässige Thätigkeit, die felsenfesten Ueberzeugungen, welche Ibsens Dramen mit Spannung und Leidenschaft erfüllen. Mit den freundlichsten Farben malt er den tugendhaften Verliebten, welcher aus Grossmut oder Stolz seiner Geliebten entsagt, oder mit demütiger Geduld um ihr Wohlwollen wirbt. So der durchaus sympathische Dichter Ira Lee im Schwächeren Geschlecht, der sich in seiner Jugend nach einem kindischen Zanke von der Braut getrennt hat, und im Alter deren Tochter wiederum liebt und sitzen lässt. Die häufige Wiederkehr solcher Typen, die stets in das günstigste Licht gestellt werden, bezeugt bei unserm Dramaturgen eine welche, melancholische Anschauungsweise, welche auch in dem zögernden Gange der Handlung, in den vielen Reflexionen des Dialogs zum Vorschein kommt. Der geschickte, nüchterne Weltmann erscheint zu oft als nichtswürdiger Intrigant, der faule Träumer als grossmütiger Gemütsmensch. Neben den Helden der Beschaulichkeit und Empfindung nehmen die thatkräftigen Männer sich nicht vorteilhaft aus. Kaum in einem einzigen der sechzehn gedruckten Stücke hat ein Mann die bedeutendste Rolle, und in fast allen ist der unternehmende, männliche Charakter ein Gegenstand des Spottes und des Abscheues. Vielleicht ist diese Verherrlichung der weiblichen Empfindungsart nur eine zufällige Folge von Pineros Geistesrichtung, vielleicht ist sie dem Wunsche nicht ganz fremd, dem weiblichen Teile des Publikums zu schmeicheln, welcher bekanntlich dem Theater das meiste Interesse und die bedeutendsten Einkünfte bringt. Die literarische Bedeutung von Pineros Werken wird durch diese Einseitigkeit sehr beeinträchtigt. | |
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sondern den eines künstlich aufgestellten logischen Problems. Der Kritiker kann die geschickte Behandlung dieser Probleme bewundern, die Bedeutung und den Ernst der Darstellung anerkennen, niemand aber wird den Pulsschlag eines warmen, sinnlichen Lebens in den Wachssiguren vernehmen, welche uns zur Lösung der Frage vor Augen gebracht werden. Pineros Werke sind keine echte Schöpfungen, sondern nur geschickte Machwerke. Auf seinen Rahmen geometrischer Folgerungen weiss er allerdings eine Masse von Detail zu spannen, welches zum Teil durch eine eingehende Beobachtung seiner Umgebung gesammelt, zum Theil mit fruchtbarer Phantasie und Witz erfunden worden ist. So unterhaltend aber solche Episoden auch sein mögen, sie können den Mangel eines ursprünglichen dramatischen Lebens nicht ersetzen. Die schöpferische Kraft, welche wir Pinero abzusprechen verpflichtet sind, ist aber im weiten Gebiete der europäischen Litteratur so selten, dass er auch ohne dasselbe einen hohen Rang unter den Dramatikern der Zeit beanspruchen darf. Neben den Besten verdient er unsere Aufmerksamkeit und Bewunderung. Im Vergleiche mit seinen englischen Vorgängern aber erscheint er geradezu als ein Bahnbrecher, dessen Bedeutung erst im historischen Zusammenhange gewürdigt werden kann. Brüssel, December 1899. |
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