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Der neusprachliche Unterricht in Frankreich.
Deutschland hat die Einladung der französischen Republik zur Weltausstellung von 1900 angenommen. Gelegentlich dieser Weltfeier wird ein Kongress der Gymnasien und Realschulen aller Länder gehalten, worauf für den Unterricht der modernen Sprachen sehr wichtige - ich möchte fast sagen - Lebensfragen behandelt werden. Es lohnt sich darum vielleicht der Mühe im Lande selbst, von dem Aufruf ergeht, uns einmal im Unterricht der neueren Sprachen umzusehen und an der Hand eines erfahrenen und gewissenhaften Fachmannes eine kleine Studienreise - wenn auch nicht auf Kosten der Regierung - zu unternehmen. Vor mir liegt das Buch: ‘Reiseeindrücke und Beobachtungen eines deutschen Neuphilologen in der Schweiz und in Frankreich von K.A. Martin Hartmann (Leipzig, Stolte- 1897.-194S)’. Der Verfasser wurde vom Kgl. Sächsischen Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts nach Frankreich entsandt. Der Aufenthalt dauerte von Ende September 1895 bis Ende März 1896. Hartmann hat im ganzen 313 Unterrichtsstunden beigewohnt und 238 Lehrer oder Lehrerinnen auf dem Manövertelde gesehen. Ueberall wurde er mit der grössten Liebenswürdigkeit - einen kleinen Zwischenfall in Lyon, wo Strassen-jungen ihn huldvoll mit: A bas le Prussien! begrüssten, ausgenommen - und mit der freundlichsten Zuvorkommenheit aufgenommen. Indem Verfasser dies dankbar anerkennt, schreibt er den Wandel in der französischen Gemütsstimmung Kaiser Wilhelm II zu, dessen ritterliches We- | |
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sen der französischen Ritterlichkeit schmeichelt und ihre geheime Bewunderung erregt; er gibt den Deutschen den Rat die Sedanfeier, welche immer wieder fast vernarbte Wunden aufreisst, fallen zu lassen. Hierin gingen wir Belgier durch Abschaffung der Septemberfeier mit guten Beispiel voran.
Wie ist es nun mit dem allgemeinen Studium der neueren Sprachen, die eine Versöhnung und Brüderlichkeit der Nationen am besten anbahnt, in Frankreich beschaffen? - Seit dem Jahre 1870 wurden sehr grosse Fortschritte gemacht. Von angeborener Unfähigkeit der Franzosen - und der Wallonen - im Erlernen fremder Sprachen zu sprechen, geht nicht mehr an. Die bekannte Anekdote des Schülers der ‘Rhétorique’ der bei Empfangnahme seiner deutschen Prämie von einem aus dem Elsass gebürtigen General deutsch angeredet wird und.... kein Wort versteht, gehört der Vergangenheit an. Jetzt versuche es ein General mit den Kadetten von Saint-Cyr, wo jährlich etwa 250 Offiziere die Anstalt verlassen, welche in Geographie und der deutschen Sprache gut bewandert sind.
1891 wurde in Paris die jetzt ungefähr 1300 Mitglieder starke ‘Société pour la propagation des langues étrangères’ begründet. Im ganzen finden jährlich 70 Kurse in den verschiedenen Stadtvierteln der Hauptstadt statt und darunter Kurse für das Studium der deutschen juristischen und medizinischen Sprache. In einem Jahre wurden acht Auslandsstipendien von 300 bis 540 F. verliehen. Man hält Vorträge, man führt deutsche Theaterstücke z. B. Moser's ‘Bibliothekar’ auf vor einem Publikum von 500 Personen, meist Franzosen. - Eine andere grossartige Einrichtung, schon 1848 gegründet, die ‘Association polytechnique’ ist in voller Blüthe begriffen. Mehr als 10,000 Schüler beteiligen sich an 400 Kursen, worunter 41 für die englische Sprache mit 934 Schülern (der Franzose hat eine Vorliebe für das Studium des Englischen) und 22 für die deutsche mit 329 Teilnehmern. Ein sehr glücklicher Gedanke war die Gründung eines ‘Bureau de correspondance internationale’ das Schüler und Erwachsene verschiedener Nationen in brieflichen Verkehr mit einander bringt. Es ist kein geringes Verdienst unserer Nachbarn zuerst dieses Unternehmen geplant und ausgeführt zu haben und ein Beweis, dass der Franzose die blinde Voreingenommenheit für seine eigene, Sprache aufgibt und die der fremden Völker zu würdigen anfängt. Auch in Belgien sollte die internationale Correspondenz eingeführt werden, wie sie bereits in Deutschland durch die Bestrebungen Hartmanns Wurzel geschlagen hat.
Jene Gesellschaften bewegen sich auf ausschliesslich praktischem Gebiete. Betrachten wir nun die geistige Thätigheit - die ideale Seite - | |
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den neusprachlichen Unterricht an den Hochschulen. Im Lande der klassischen Tradition wird das Studium der neueren Sprachen auch klassisch betrieben. Die Doktorpromotionschriften bei der Sorbonne über Gegenstände der englischen und deutschen Litteratur beruhen auf jahrelangen Studien, sind stilistische Leistungen, neben welchen die deutschen Doktordissertationen sich kaum sehen lassen können. Die französische Universitätslitteratur weist hervorragende Werke auf über Kleist, Thomson, Burns und Wordsworth. Im Winter 95-96 las M. Chuquet am Collège de France über das Nibelungenlied im Urtext. Die Zahl der Zuhörer eines verdienstvollen Lehrers, des H. Lichtenberger, an der Sorbonne über deutsche Litteratur stieg von ol auf 260. Auch der niederländischen Litteratur wurden in den letzten Jahren herrliche Studien gewidmet - von Abbé Loots über Vondel und M. Deridder über Cats.
Den Uebergang von den Hochschulen zu den Gymnasien bildet gewissermassen die ‘École Normale Supérieure’ der Ulmer Strasse, welche zwar die Gymnasiallehrer oder vielmehr eine Auslese derselben vorbereitet, aber den Facultäten gegenüber eine hervorragende Stellung behauptet. Die Schule gilt in erster Linie für eine Pflegestätte der antiken Cultur. Nichts destoweniger bricht sich auch hier der Gedanke Bahn einer Gleichberechtigung der modernen mit den alten Sprachen. Die in Aussicht gestellte Gründung einer ‘Section de langues vivantes’ wird in die Festung des Glaubens an die alleinseligmachende Kraft des Lateinischen Bresche schiessen. Schon wirken manche Zöglinge der ‘Alma Mater’ des französischen Mittelunterrichts als neuphilologische Lehrer an den Gymnasien.
An den ‘Lycées’, Gymnasien und Realschulen, regelt sich der neusprachliche Unterricht nach den ‘Instructions officielles’ von 1890. Wir teilen hier das Wesentlichste aus diesen wichtigen Lehrverordnungen mit, denn nach den idealen Forderungen werden wir die wirklichen Resultate beurteilen.
In den Unterklassen empfiehlt die Instruktion mit der Umgangssprache u. nicht mit der litterarischen Sprache zu beginnen. Die Methode der alten Sprachen auf die neueren zu übertragen sei ein grober Fehler. Vom Munde des Lehrers soll der Schüler das lebende Wort auffangen und seinem Geiste einprägen. Man quäle den jungen Anfänger nicht mit grammatischen Schwierigkeiten, man nehme in Bezug auf die Grammatik eine vermittelnde Stellung ein: nicht zu viel, nicht zu wenig. Die Anschauung ‘les leçons de choses’ die Verwendung von Bildern wird angepriesen, die Sprechübungen werden für den ‘Probestein’ des Lehrers erklärt. Nur die fremde Sprache selbst soll beim Unterricht verwandt werden. Das Prinzip: ‘Pour apprendre une langue, il faut
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commencer par l'isoler, par n'avoir affaire qu'à elle’ wird dem Unterricht zugrunde gelegt.
Der Gesetzgeber wollte dem Sprachunterricht einen frischen lebendigen Geist einhauchen. Er wollte die Anlehnung an die altsprachliche Tradition ängstlich vermeiden und darum betont er sogar in den oberen Klassen, nicht den litterarischen aestetischen Gesichtspunkt sondern den sprachlichen. Litteraturgeschichte soll ausschliesslich zur Erklärung eines gelesenen Schriftstellers dienen, das karakteristische der Sprache hervorgehoben werden.
Wenn wir nun durch diese Brille die Praxis betrachten, dann finden wir mit Ueberraschung, dass in diesem Falle wenigstens die Theorie recht grün und frisch, die Praxis aber grau, sehr grau ist. Die Sprache ist nicht lebendig, sie fliesst nicht frisch von den Lippen des Lehrers, sie ist eine Papiersprache, eine zu einer toten Sprache versteinerte Sprache und wird wie diese behandelt.
Sprechübungen z. B. bilden den Probestein des Lehrers - In der Provinz hatte Hartmann nur einmal Gelegenheit einen Schülervortrag in fremder Sprache zu hören. In Paris, wo doch die Schüler durchschnittlich mehr begabt und empfänglich sind als in der Provinz, übersetzen die mit dem Vortrag beauftragten Zöglinge den deutschen Satz in die Muttersprache. - Der neusprachliche Unterricht soll (nach den amtlichen Vorschriften) belebend und anregend auf den Schüler wirken. In Wirklichkeit herrschen ‘Thème et Version’ unangefochten an den meisten Gymnasien. Die 50000 französischen Gymnasiasten fördern jeden Tag eine ungeheure Menge von ‘Thèmes barbares’ zutage, denn das Uebersetzungsdeutsch und das Uebersetzùngsenglisch mag vielleicht in äusserem Sinne korrekt sein, echt unverfälscht ist es doch nicht. Die englische Miss, welche es nicht, über sich bringen konnte auf französisch Mon Dieu! zu sagen, meinte es sei das englische: My God!. - Das Programm legt grosses Gewicht auf die Anschauung. Leider werden derartige Bilder fast nirgends angetroffen. Einmal im Pariser Lycée Lakanal traten zwei Schüler vor das Hölzel'sche Frühlingsbild, fragten und antworteten abwechslend. Wie der Anschauungsunterricht verstanden wird, zeigt uns die Methode Pey-Grandjean. Diese Methodiker geben eine Reihe von Sätzen, worin die Hauptwörter durch entsprechende Bildchen im Texte ersetzt sind, z. B.: Ein (Knaben-Bildchen) ging zu seinem (Lehrer). Dieser wird durch einem mit einem Ochsenziemer bewaffneten Mann dargestellt. - Die direkte Methode findet nur wenig Anklang in der französischen Lehrerwelt, auffällig ist es, dass die Verfasser, Begründer weltbekannter direkter Methoden, wie Pany, und Gouin
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in ihrer Heimat einfach ignoriert werden. Nur ein französischer Lehrer war 1896 Mitglied der ‘Association phonétique’ (Ob die Phonetik mit ihren überrasschenden Ergebnissen, ob die Namen eines Passy, Rousselot und Gallée hier zu Lande bekannt und gewürdigt werden, möchte ich bezweifeln!) - Gouin war gezwungen sein Buch ‘Nouvelle Méthode’ eigenhändig zu setzen. Seine Methode sei ‘Schwindel!’ Nur die Carré'sche direkte Methode ist sehr verbreitet. Mit der Gouin' schen hat sie das Verwerfen der Uebersetzung, das Verbinden und Verknüpfen der Sätze durch ein inneres Band gemein, allein bei Gouin ist dieses Band die innere Anschauung, bei Carré die äussere. Sehr erfolgreich werden durch diese Methode im Norden Frankreichs, die kleinen vlämischen Bauernjungen, die zu Hause kaum ein Wort französisch hören, mit ‘ihren so schwerfälligen Köpfen’ (Herr Hartmann sagt auch uns Vlamingen derbe Warhrheiten!) ‘franzisiert.’ - Dieses eigentümliche Verfahren geht in folgender Weise vor sich. Recht anschaulich werden vor den Augen der Kinder verschiedene Bewegungen ausgeführt, das Anzünden eines Streichhölzchens, das Waschen der Hände, das Zuschnüren der Schuhe u.s.w. Jede vorgenommene Handlung wird ausführlich besprochen und von einem oder von mehreren Schülern wiederholt. Der Lehrer bedient sich immer der französischen Sprache. Den grössten Beifall hat die Herstellung eines Glases Zuckerwasser. Der Lehrer nimmt eine Wasserflasche, giesst das Wasser in ein Glas, wirft ein Stückchen Zucker hinein, nimmt den Löffel und auf jede bezügliche Frage: Was thue ich? gibt ihm der Chor die gewünschte Antwort. Nun wird ein fleissiger Schüler vorgerufen, er wiederholt jede Handlung und
nimmt schlieslich einen gehörigen wohlverdienten Schluck. So wurde auch dem vlämischen Volke das Erlernen der französischen Sprache... versüsst.
Da aber auf dem Gebiete des neusprachlichen Unterrichts sehr tüchtige Persönlichkeiten wirksam sind, so begegnen wir doch hie und da recht bemerkenswerten Anwendungen der direkten Methode, welche wir nicht ausführlich darstellen werden. Im ‘Lycée Janson-de Failly’ der grössten Schulanstalt Frankreichs, wurde ein Proverbe: ‘When the cat's away, the mice will play’ gespielt. Die neun Worte wurden auf neun Schüler verteilt, jeder musste das ihm zugeteilte Wort in die Antwort auf die Frage eines Schülers, der auf einige Minuten das Schulzimmer verlassen hatte, hineinbringen und durch Kombination von allerlei Fragen wurde das Sprichwort herausgefunden. Der Rattenfänger von Hameln wurde in einer andern Klasse dramatisiert, die Schüler stellten den Bürgermeister, den Rattenfänger, die Männer, Weiber und Kinder dar. Eine Partie Lotto wird in deutscher Sprache gespielt. In andern Schulen werden die Schüler durch ein Gespräch über die ihnen vorgezeigten
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Gegenstände, einen Esel, eine Ente, Blumen u.s.w. aufgefordert sich deutsch auszudrücken. Das Interessantste ist die Einführung des deutschen Gesanges in das oben genannte Gymnasium. Das Kuckuckslied, Tannenbaum, Mit dem Pfeil dem Bogen werden gesungen und manchmal vom Lehrer auf dem Klavier begleitet. Der Philosoph freut sich über die Weiterbildung und Verbreitung dieses Verfahrens, durch die Zaubergewalt des deutschen Liedes wird den jungen Franzosen das Verständnis des inneren Seelenlebens des deutschen Volkes eröffnet.
Wie aber schon betont wurde, sind dies die Lichtseiten. Die Schattenseiten sind desto trüber. Im allgemeinen ist und bleibt die leidige Uebersetzung, das Hin- und Herpendeln zwischen zwei Sprachen, das Leitmotiv. Sprechübungen und Anschauung werden durch ‘Thèmes’ und ‘Versions’ verdrängt. Deklinieren und konjugieren, und kein Ende! Die Grammatik wird dogmatisch betrieben und artet in eine wahre Regelmanie aus.
Trotz der hohen litterarischen und ästetischen Bildung der Franzosen, die sich nicht verkennen lässt, bleibt die Schriftstellerlektüre im leeren Verbalismus stecken. Die Verse in Iphigenie, Verse von idealer Schönheit, werden zu einer Auseinandersetzung der Theorie des Konjunktivs ‘gradezu’ herabgewürdigt. Hermann und Dorothea werden durch das ‘mot à mot’ das wie ein böser Geist den deutschen Schulmann von Stadt zu Stadt verfolgte, zerstückelt und zerhackt. Bei solcher Behandlung - oder vielmehr Misshandlung - des Lehrstoffes werden die Zöglinge gleichgültig gegen die höchsten Ideeen der Menschheit. In Schillers ‘Kampf mit dem Drachen’ liess ein Lehrer den wütenden Drachen ungeniert den armen Ritter durch des Schwertes Kraft (Druckfehler für Schweifes) zur Erde werfen. Zur Gleichgültigkeit gesellt sich die Langeweile denn immer ‘wie ein Tier auf einer dürren Heide (Faust) herumgetrieben werden von Konjugation zu Konjugation kann nur ein mässiges Interesse bieten und in der That nimmt der Beobachter aus den meisten Klassen einen gelangweilten Eindruck mit sich fort.
Wenn wir uns bei den französischen Neuphilologen nach den Ursachen des Uebelstandes erkundigen, so werden sie an allererster Stelle dem geringen Zeitmass, worüber sie verfügen, zugeschrieben. In Wahrheit würde ein sächsischer Lehrer sich glücklich schätzen wenn ihm für sein Fach ein eben so grosser Zeitraum gewährt würde. Am Gymnasium ist eine moderne Sprache Pflichtfach wie die alten Sprachen und die Stundenziffer beträgt wöchentlich 27 (in Sachsen 18) für alle Klassen. Für ‘l'enseignement moderne’ (Realschule) steigt die Ziffer auf 32 für die deutsche, auf 15 für die englische Sprache. Ganz unberechtigt ist die Klage jedoch nicht. Eine französische Unterrichtsstunde zählt 90 Minuten und erfordert mehr Aufmerksamkeit, als jemand leisten kann.
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Doch das Hauptübel liegt im Mangel an einheitlicher Zusammensetzung der Klassen - in einer ‘Sixième’ von 21 Schülern z. B., findet man 14 Schüler die noch kein Deutsch gelernt haben, obwohl in der ‘Neuvième’ ‘Huitième’ und ‘Septième’ ein vierstündiger Kursus... auf dem Papier besteht. So wird die Stundenziffer nicht nur allein mit 12 Stunden auf 27 verringert, sondern auch die mühsam erreichten Erfolge mit den regelmässig gebildeten Schülern sind verloren, da die Eindringlinge, die der Klasse nicht gewachsen, den Fortschritt hemmen. Die französischen Lehrer wie die belgischen erheben umsonst Einspruch gegen die zu weit gehende Nachsicht bei der Versetzung der Schüler. Die schwächeren, bleiben dank der drohenden Konkurrenz der geistlichen Anstalten, und der politischen Einflüsse, stets und immer die stärkeren. Das Uebel erzeugt bei den Lehrern Missmut und Mutlosigkeit - ihr Pessimismus bei dieser Sisyphusarbeit gegenüber dem Optimismus, der Schaffensfreudigkeit der deutschen Lehrer, gibt sich kund in der Frage eines Lehrers der oberen Klassen: ‘Quels sont les malheureux chargés d'enseigner les langues vivantes dans les lycées?’, die der Schüler deutsch beantworten musste. - Unter solchen Umständen kann die französische Diziplin mit der strammen fast militänrischen deutschen Schulzucht verglichen, wohl nicht musterhaft sein. Die französischen Gymnasiasten bringen ihren Lehrern nicht das gebührende Mass von Achtung entgegen. Sie gähnen mit der Hand vor dem Mund, wenn sie genug haben, sie stecken beim Aufsagen die Hände in die Tasche, packen ihre Bücker fünf Minuten vor dem Trommelzeichen ein und antworten alle auf einmal, dies ist eine sehr verbreitete Unsitte, fast ein
eigentümliches nationales Vorrecht der französischen Schüler. Aus Furcht vor unliebsamer Störung der Ordnung wird das so nützliche und anregende Chorsprechen unterlassen. Hier hat die Instruktion von 1890 die Autorität des Lehrers geschwächt, indem sie den Lehrern, falls sie beim Verhängen der Strafen ein gewisses Mass überschreiten mit einem amtlichen Tadel drohen. Darum suchen diese der Gelegenheit am liebsten aus dem Wege zu gehen. Dass der revidierende Inspector sich erlaubt vor den Augen und Ohren der Schüler - sei es auch auf die höflichste Weise - den Unterricht und den Lehrer zu kritisieren ist etwas Unerhörtes, denn dass die Autorität des jüngsten Probelehrers als etwas ‘Heiliges’ behandelt werden muss, ist wohl eine in allen andern Ländern unbestrittene Forderung.
Ehe wir zur Besprechung einer möglichen Abhilfe aller jener Uebel übergetren, müssen wir noch flüchtig das eigentümlichste, das meist nationale erwähnen: das leidige Baccalaureat.
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‘Ein Examen gibt es da.’ ‘Vor der Fahrt nach Afrika’ d.h. vor der Fahrt ins Leben. Hier wird wieder besonders die Uebersetzungsfähigkeit der Kandidaten geprüft, im mündlichen Examen, denn seit 1888 ist die schriftliche neusprachliche Uebung, in welcher der Kandidat schwarz auf weiss beweisen musste, dass er wenigstens die Frage: ‘Wohin fliesst der Nil, mein Kind?’ deutsch zu beantworten vermochte, abgeschafft. Mit ein bischen Privatunterricht, ein wenig ‘coaching’ ‘Kommt er doch dahin’ - durchs Examen. Auch der ‘Concours général’ und das Prämiensystem sind nur eine andere Form des ‘Baccalauréat’. Mancher Lehrer reitet Paradepferde vor, d.h. er wendet seine Aufmerksamkeit zwei oder drei tüchtigen Schülern zu, während die andern unbehelligt träumen oder Allotria treiben.
So gewinnen wir ein Gesammtbild, das uns den neusprachlichen Unterricht in der Schule nicht auf der Höhe zeigt, auf welche wir ihn wünschen. Die Reform soll aber nicht eine vielleicht unmögliche Aenderung der äusseren Verhältnisse: des Wettbewerbs, der politischen Einmischung, des ‘Baccalauréat’ erstreben: der Hauptfehler des ganzen Systems liegt ...im Lehrer, in einer unzulänglichen Vorbereitung der Neuphilologen zu ihrem Berufe. in pädagogischer Hinsicht
Es gibt in Frankreich drei Lehramtsprüfungen für die neueren Sprachen: 1. die ‘Licence’ für welche ein französischer und ein lateinischer Aufsatz, die Uebersetzung eines lateinischen, eines griechischen â und beiläufig - eines englischen oder deutschen Textes verlangt wird; 2o das ‘Certificat d'aptitude’ welches den altsprachlichen Ballast verwirft und Uebersetzungen aus der fremden Sprache, Grammatik, neusprachliche Methodik und Litteratur, eine grammatische Lektion auferlegt; 3o die vornehmste und glänzendste Prüfung ‘l'Agrégation’: nur ein Kandidat mit aussergewöhnlicher Begabung und Arbeitsfähigkeit vermag sie zu bestehen. Auf etwa 1000 Neuphilologen kommen ungefähr 160 ‘Agrégés’ die dann auch eine regelmässige Gehaltszulage von 500 fr. jährlich bekommen. Ihre sprachliche und litterarisch- ästetische Bildung ist hoch entwickelt, allein man kann ein glänzender ‘Agrégé’ sein und im Schulzimmer fiasko machen. Eine allzu akademische Behandlung des Lehrstoffes fliegt über die Köpfe der Schüler hinweg.
So wird von der höchsten Stufe der Geistesführer zur untersten, überall der Mangel an einer pädagogischen Ausbildung der neusprachlichen Lehrer lebhaft empfunden. Ein auch in Deutschland hoch geschätzter Franzose M. Dumesnil sagt: ‘Il y a un nombre incalculable d'heures gâchées, parce qu'on ne sait pas la pédagogie.’ Auch die belgischen Lehrer haben beim Worte ‘Pädagogie’ die drohende Vorstellung des Kor- | |
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poralstockes oder Ochsenziemers! Die erste Folge ist diese: der Gymnasiallehrer ist durch diese Unkenntnis der Methodik der modernen Sprachen nur allzu sehr geneigt es den Altphilologen gleich zu machen und bleibt unter dem Bann der alten Sprachen. Einen schlagenden Beweis liefert der Unterricht an den höheren Töchterschulen (lycées de jeunes filles): hier sind die Leistungen denen der Gymnasiasten weit überlegen, weil der Unterricht von der Methode der alten Sprachen nicht beeinflusst, sich frei und frisch entwickeln konnte. Wir Belgier, müssen mit der alten Tradition brechen und den neusprachlichen Unterricht belebend und anregend gestalten. - Zur Notwendigkeit der pädagogischen Vorbildung gesellt sich allerdings ein Auslandsaufenthalt. Um in einer Sprache heimisch zu werden suche man ihre Heimat auf. Hier ging Frankreich uns mit dem guten Beispiele voran indem es schon mehr als 60000 Fr. an Auslandsstipendien bewilligte (1886-1894). Es genügt aber ein solcher am Beginn der Laufbahn nicht. Der Staat muss seinen Neuphilologen die Mittel bieten zeitweise aus dem frisch hervorquellenden Brunnen zu schöpfen. -
Ich sage Herrn Hartmann meinen besten Dank für die Fülle des Schönen und Interessanten, das sein Buch bietet und für die Anregungen, die ich beim Lesen empfing.
Doornik, November 1899.
M. Brants.
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