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Das Niederdeutschtum ausserhalb der Reichsgrenzen im Rahmen der deutschen Politik.
Von Kurd von Strantz.
Die Meereshäfen des Westens und Südens des Reiches liegen auf uraltem deutschen Volksboden, der der politischen Volksgemeinschaft im Westfälischen Frieden oder sogar erst durch die französische Revolution entfremdet wurde. Der Verkehr der gewerbreichsten Hälfte Deutschlands geht seewärts über die Rhein- und Scheidehäfen, also über das politische Ausland, das einst die Unvernunft der spanischen und österreichischen Habsburger gleich der Schweiz der alten Heimat abspenstig machte. Trotz des Aufschwungs der Ems-, Weser- und Eibhäfen bleibt Deutschland von den nord-und südniederländischen Häfen abhängig, die das Mündungsgebiet seines grössten Stromes bilden. Diese natürliche Bodengestaltung lässt sich durch zoll- und verkehrspolitische Maassnahmen nicht ändern; selbst der Küstenkanal zur Verbindung der Ems und Weser würde Emden und Bremen nur einen kleinen Teil der rheinisch-westfälischen Ausfuhr sichern. Die ungeheure Getreideeinfuhr wird stets den Weg über Rotterdam wählen. Ober-Deutschland ist durch das Rheinbett lediglich auf die holländische Durchfuhr angewiesen.
Bis zur neuen Reichsgründung standen sich das alte, im deutschen Bunde lose vereinte Niederland und die selbst gespaltenen niederländischen Tochterstaaten fremd, ja zum Teil feindselig gegenüber. Die äussere staatliche Einheit Deutschlands erweckt wohl in Belgien einen nationalen Wiederhall; aber politisch verschärfte sich der Gegensatz durch die von Frankreich geschickt genährte Furcht einer gewaltsamen Angliederung an die grosse deutsche Heimat. Die holländische Königin, eine württembergische Prinzess, war Napoleons III. beste Freundin und ihres eigenen Volkes schlimmste Wider- | |
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sacherin. Ihr Gemahl hatte schon Luxemburg an Frankreich verschachert, als ihn die Angst vor fremder Einmischung zum Rücktritt von diesem antinationalen Geschäfte bewog. Bismarck war damals noch nicht entschlossen, diese Preisgabe deutschen Landes zu hindern, da er Nord und Süd noch nicht geeint genug zum Kampfe gegen den Erbfeind glaubte. Auch nach dem deutsch - französischen Kriege schritt die Verwälschung Belgiens fort. Erst die dauernde Friedensliebe der ersten Kriegsmacht der Welt und das ewige Rachegeschrei der gar nicht bedrohten, aber stets angriff bereiten Franzosen bewirkten einen Umschwung in beiden Niederlanden, der jedoch in Belgien mehr nationalen und in Holland mehr wirtschaftlichen Ursprunges war, obwohl sich beide sagen mussten, dass nur der Bestand des neuen Reiches sie vor der französischen Aufsaugung schützte. Die politische Gesinnung blieb auch jetzt noch ziemlich deutschfeindlich. In Holland war der Muff (Deutsche) der bestgehasstc Fremde. Indessen konnten sich die niederländischen Staatsmänner nicht der Einsicht verschliessen, dass die Zeit der einzelstehenden kleinen Staatswesen vorüber sei und solche sich vor die Wahl gestellt sehen, sich unter die Fittiche einer schirmenden Grossmacht zu begeben. In seinen Kolonien,
soweit sie ihm die britische Raubgier gelassen hatte, spürte Holland zunächst das Missverhältniss der staatlichen Selbständigkeit und der eigenen Kraft zu deren Behauptung im internationalen Leben. Borneo und Neuguinea gehörten unzweifelhaft zum Einflussgebiet des holländisch-indischen Kolonialreiches; aber ungestört setzten sich die Engländer dort ebenso fest, wie sie die Halbinsel Malacca mit Singapore trotz der unmittelbaren Nachbarschaft Sumatras in Beschlag genommen hatten. Belgien musste bei Gründung des Kongostaates dem gefährlichen französischen Nachbar das Vorkaufsrecht lassen, zumal Deutschland sich in kolonialen Dingen noch ganz teilnahmslos zeigte. Frankreich hatte ja stets Brüssel nur als eine Vorstadt von Paris betrachtet.
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Ohne der deutschen Diplomatie einen Vorwurf machen zu wollen, müssen wir leider feststellen, dass sie in Brüssel allzusehr von dem französischen Vorbilde abgewichen ist. Während die französische Gesandschaft mit Behagen und Geschick die widernatürliche Französirung des niederdeutschen Staates ohne Rücksichtnahme auf die internationale Höflichkeit und deren Pflichten sörderte, zeigte die deutsche Vertretung in ihrer korrekten Haltung keinerlei Verständniss für die Bestrebungen der Vlamen, auf deren Grundlage doch allein die Annäherung an das grosse Stammland sich vollziehen konnte. Die deutschen Kautleute plauderten auch munter das schlechte belgische Französisch weiter, statt sich die vlämische Volkssprache anzueignen. Erst vom Reiche aus musste man auf die politische Nützlichkeit hinweisen, das eigne Volkstum, die niederdeutschen Brüder, in ihrem Daseinskampfe zu unterstützen, was unglaublich erscheinen mag. Jedenfalls haben sich die Vlamen aus eigner Krast auf ihr Volkstum besonnen und daher auch mit echt deutschem Sondersinn eine nähere Anlehnung an das teilnahmlose Reich nicht gesucht. Es liegt Grund zur Annahme vor, dass die berufenen Vertreter der auswärtigen Politik Deutschlands die freilich unerwünschte Möglichkeit eines Anschlusses Belgiens an Frankreich noch nicht ganz abweisen. Sie sind also amtlich noch nicht auf den Standpunkt gekommen, dass die belgische Frage für uns den Kriegsfall bedeutet. Es giebt keine internationale Konstellation, die das gestatten würde, einen solchen Kuhhandel mit Frankreich ohne Kampf auf Leben und Tod einzugehen. Die vlämische Bewegung ist keine innere Angelegenheit des belgischen Zwitterstaates, dessen Missbildung Frankreichs Ränkesucht gelungen ist, sondern eine deutsche. Sobald das französirende Wallonentum, übrigens nur ein
verwelschtes Niederdeutschtum, was selbst der damalige Kultusminister von Gossler anlässlich einer Landtags Verhandlung über die preussischen Wallonen nicht wusste, dem vlämsetien nationalen Ansturme unterlegen sein wird, ist der alte Charakter
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der südlichen Niederlande als eines Staates ebenso wiederhergestellt, wie an Hollands Niederdeutschtum nie ein Zweifel bestanden hat.
Trotz der geschilderten gegenseitigen Zurückhaltung des Reiches und seiner alten niederdeutschen Tochterstaaten hat sich auf wirtschaftlichem Gebiete eine unleugbare Annäherung vollzogen. Der Gewinn lag wohl mehr auf der oberrheinischen Seite, da sich dort die seewärtige Eingangspforte Deutschlands befindet. Das flandrische Quartier der Hansa war der Sitz des blühendsten deutschen Handels gewesen und noch heute sind die dortigen Seeplätze die wichtigsten des Festlandes nächst Hamburg. Holland ist auf den deutschen Durchfuhrverkehr angewiesen und auch Belgien hat durch Antwerpen einen Teil an sich gerissen. Die Handels- und die amtlichen Kreise des Reiches haben um des notwendigen Wettbewerbs willen sogar Belgien unmittelbar darin unterstützt. Die niederländischen Kleinstaaten sehen jetzt auch selbst ein, dass das gewerbreiche Deutschland ihr natürliches Hinterland ist, während Frankreich sie blos politisch beherrschen will, um sie sodann als leckere Bissen zu verspeisen, wie dies schon einmal geschehen ist. Deutschland hat sich beide Niederlande ohne eigene Schuld entreissen lassen. Freilich hat es den Fluch der ohnmächtigen Schwäche dabei auf sich geladen, der jetzt hossentlich auf immer von ihm genommen ist. Die wirtschaftlichen Bande sind jedoch auch noch unpolitisch durch das nationale Erwachen auf beiden Ufern des Rheines gestärkt. Die vlämische Bewegung hat in Holland lebhaften Widerhall geweckt und den durch Frankreich geschickt benutzten und geschürten Bruderhass in das Gefühl der Zusammengehörigkeit beider Niederlande verwandelt. Im Reich ist ebenfalls das Verständnis dafür gewachsen, dass diese Rheinstaaten nur deutsche Aussenposten sind, die in der Zeit der politischen Zerrissenheit unseres Volkes dem Mutterlande entfremdet sind. Diese selbstverständlichen Anknüpfungspunkte haben leider dem Zwecke einer
politischen
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und wirtschaftlichen Verbindung der Teile desselben Volkes nicht gedient. Die Fäden sind freilich in den Nordniederlanden bereits vor dem 30 jährigen Kriege zerrissen und die Kluft ist von französischer und endlich englischer Seite mit Erfolg immer mehr vertieft worden. Die deutsche Zurückhaltung hat trotz ihrer unleugbaren Zaghaftigkeit aber doch die Frucht getragen, dass jeder Zweifel an unserer Raublust geschwunden ist. Der wirthschaftliche Zwang, der sich in dem deutschen Uebergewicht seit der Reichsgründung ausspricht, hat in beiden Niederlanden die Ueberzeugung gezeitigt, dass ein Bündnis mit dem Reiche auf wirtschaftlichem Gebiete den Interessen dieses deutschen Vorlandes entspricht. Die sonst so deutschfeindliche holländische Presse erörtert offen die Nützlichkeit einer solchen zollpolitischen Einigung und sicherlich steht die Regierung diesen Anregungen nicht fern. Vor Jahresfrist ist in Antwerpen die handelspolitische Verbrüderung Belgiens mit Deutschland gefeiert worden. Diese Tatsachen beweisen die erfreuliche Entwicklung der natürlichen Annäherungsbestrebungen gerade seitens des schwächeren niederdeutschen Teiles, sodass der Druck des Stärkeren ausgeschlossen ist. Die wirtschaftliche Erwägung des übermächtigen Wettbewerbs der deutschen Nordseehäfen ist den klugen Handelsherren von Rotterdam, Amsterdam und Antwerpen nicht fremd geblieben. Das deutsche Mutterland ist daher fraglos der gewährende Teil und die Gabenspenderin für die niederdeutschen Kinder, die in den schützenden Schooss der grossen Heimat zurückkehren wollen. Aber auf gleiche Weise hat das starke Preussen im Zollverein das widerstrebende Vaterland zum neuen Reiche verbunden und dieser Vorgang muss uns eine anfeuernde Lehre aus der eigenen Geschichte bleiben und für die Zukunft immer wieder werden.
Die europäische Gestaltung der niederdeutschen Verhältnisse und deren Wandlung zu Gunsten eines näheren Anschlusses an das Mutterland haben eine mächtige Unterstützung auf afrikanischen Boden gefunden, der uns im Ausland so
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verachteten und in der selbstständigen Siedlung zurückgebliebenen Deutschen doch sonst so fremd war. Deutsche Forscher sind wohl unter der tropischen Sonne im fremden Solde für die Ehre der Wissenschaft gestorben; aber erst dem ausnahmsweise hierbei selbst zögernden Bismarck war es auch dort vorbehalten, unser Pfadfinder zu werden. Die Sandbüchse von Angra-Pequena und die Goldfelder des Transvaals ketten uns jetzt an Afrika. Vor dem berüchtigten Zanzibarvertrage stiess unser Einflussgebiet längst des Oranjestromes, der eine für diese Steppengegend fruchtbare und waldige Berglandschaft umschliesst, unmittelbar an den Oranjefreistaat und England war vom Norden durch einen breiten Gürtel deutschen und niederdeutschen Gebietes getrennt. Damit war das deutsche Schicksal Südafrikas besiegelt und unser Volkstum nahm wieder von dem Lande Besitz, das England in den Napoleonischen Wirren geschickt an sich gebracht hatte, um uns später auch um den Siegespreis von Elsass-Lothringen zu prellen. Der Unverstand unserer damaligen auswärtigen Leitung und eine noch gefährlichere und weiter anhaltende Anglomanie unserer führenden Kreise, die im stärksten Gegensatz zu unserm Volksempfinden steht, liess uns diesen mühelosen Gewinn Bismarckischer Staatskunst wieder verlieren. Eine kurze Rückkehr zur sieggewohnten alten Politik, die sich im Krügertelegramm aussprach, musste der üblichen Angst des waffengewaltigen Deutschlands vor dem Krämerstaat England Platz machen, der auf dem europäischen Festlande seit Jahrhunderten tapfer zurückgewichen war und nur exotische Völkerschlachten geschlagen hatt. Nur seine Deutschen, seine hannoverischen Regimenter hatten bei Waterloo Stand gehalten. Freilich so tölpelhaft leicht war das gutgläubige Reich diesmal nicht von England zu überlisten, sondern wir
liessen uns vorläufig noch geheim die nördliche Hälfte des noch gar nicht aufgeteilten portugiesischen Erbes in Ostafrika grossmütig schenken, ohne nicht einmal Zanzibar zu erhalten. Zum Ueberfluss ist dieser
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künftige deutsche Teil schon englischen Kapitalistengesellschaften untertan, deren Gewalt zu brechen uns selbst im ersten deutschen Schutzgebiet an der entgegengesetzten Küste Afrikas nicht gelungen ist. Hatte Bismarck Bundesanträge Portugals und der südafrikanischen Republik aufschiebend behandelt, um sie bei gelegener Zeit gegen Albion zu verwerten, so lehnte Kaprivi natürlich solche Zumutungen ab und diesen mächtigen zerrissenen Draht knüpfte sein Nachfolger auch nicht wieder an.
Dieses diplomatische Ergebnis ist beschämend auch wurde unsere Nachgiebigkeit gebührend in Samoa belohnt, das wir beinahe noch ganz aufgegeben hätten. Für den endlich erlangten Hauptanteil haben wir England eine reichliche Entschädigung gewährt. Englischen Ausgleichsgeschenken müssen wir jedenfalls misstrauisch gegenüberstehen, nachdem die Reichsregierung selbst hat zugeben müssen, dass sie im Zanzibarvertrag betrogen worden ist und Englands Ränke in Samoa erst nach der Beschiessung Apias erkannt hat. Der hier gezeichneten äusseren politischen Lage entspricht leider auch unser nationales Verhalten. England hat die niederdeutsche Bevölkerung von 400 000 Seelen in Südafrika nicht aufsaugen können und wird selbst im eigenen Lande als beutelustiger Eindringling angesehen. Die englische Herrschaft ist gründlich verhasst. Diese Abneigung ist besonders in den Neuländern Cecil Rhodesscher Erfindung auch reichlich verdient, wenn man sich nicht durch die unverschämten Redensarten von englischer Gesittung täuschen lässt. Rhodes ist weiter nichts als ein goldgieriger Spekulant, der gleich Strausberg auch Gutes schaffen kann, aber bei uns vielleicht gleich diesem eingesperrt werden würde. Es ist wohl noch nicht vorgekommen, dass ein abgefasster Schmuggler, dessen Absetzung als Premierminister wir deswegen durchgesetzt haben, nachher in dem betrogenen fremden Lande als Staatsmann, wie kaum ein wirklicher Politiker in Amt und Würden, geehrt wird. Dabei ist das Eisenbahngeschäft, das ihn haupt- | |
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sächlich nach Berlin führte, ein höchst problematisches und in weiter Ferne liegendes.
Die Buren sind abgesehen von der huguenottischen Beimischung unseres Stammes und zum Teil ihrer Heimat nach Auswanderer aus der norddeutschen Tiefebene. Sie stehen aber unter der holländischen Anschauung, die nicht sehr deutschsreundlich ist. Doch der Umschwung der Gesinnung in den Niederlanden selbst ist nicht ohne Einfluss auf die Buren geblieben, zumal als unter Bismarck das deutsche Reich Nachbar ihrer Staaten geworden war und ihnen offen sein Wohlwollen zeigte. Das staatsmännische Telegramm an den allmächtigen Burenpatriarchen beseitigte die berechtigte Missstimmung, die Caprivis allseits anerkannte Ungeschicklichkeit nicht ohne starke Schuld seines Kolonialreferenten gerade in Südafrika hervorgerufen hatte. Die deutsche Politik bewegte sich hierbei keineswegs in traumhaften Bahnen. Das Niederdeutschthum in Südafrika kann sich ohne Anlehnung an eine Grossmacht in seinem vereinsamten Dasein, zumal dies in 3 Staaten zerrissen ist, nicht auf die Dauer halten. Es bleibt blos die Wahl zwischen der Vergewaltigung durch England, wie das im Kapland schon geschehen ist, oder dem Anschluss an das stammesgleiche deutsche Reich. Die Anbahnung war erfolgt und selbst Fr. v. Marschall hat im Interesse der Unabhängigkeit der Buren die Delagoabucht für ein Rühr' mich nicht an der deutschen Politik feierlich im Reichstage erklärt. Obwohl die auswärtige Leitung des Reiches seit Bismarcks Weggang nur Misserfolge zu verzeichnen gehabt hat, da sie auch erfolgreiche Massnahmen durch spätere Fehler wieder in Frage gestellt hat, so ist es doch heikel, ohne Kenntnis der noch nicht veröffentlichten Verhandlungen des Auswärtigen Amtes im Augenblick ein abschliessendes Urteil zu fällen und sollen diese Zeilen lediglich sachlich einer nationalen Auffassung Rechnung tragen, die sich freilich nicht mit bescheidenen diplomatischen Kaufgeschäften nach Art der Erwerbung von Kiautschau,
der Karolinen und Samoas begnügt,
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ohne deren zweifellosen Wert in der öffentlichen Meinung herabsetzen zu wollen. Nur mit Hülfe der Buren können wir in Südafrika mit Nachdruck Fuss fassen, nachdem wir uns schwächlicherweise auf den Küstenstreifen unsers gegenwärtigen Schutzgebietes von England haben zurückdrängen lassen. Unsere Geldleute haben, wie leider stets, nicht den Unternehmungsgeist besessen, selbstständig die südafrikanischen Bodenschätze auszubeuten, sondern segeln im englischen Fahrwasser und werden von der britischen Mehrheit in den Gesellschaften unterdrückt, zum Teil auch betrogen. Eine Anzahl Goldbergwerke sind papierene Schwindeleien, wo genug deutsches Geld verloren ist. Schliesslich haben wir das durch thörichte polizeiliche Bevormundung eine stärkere Einwanderung von Buren nach Südwestafrika entgehen lassen. Diesen Thatsachen ist infolge der steten Schwankungen unserer Politik das weitere Missgeschick zur Seite getreten; dass unsere scheinbar zweideutige Haltung gegenüber den Buren kein Vertrauen verdient. Jedenfalls verachtet man mit Recht unsere Schwächlichkeit gegen England, das uns dafür nicht einmal handgreifliche Vorteile überlassen hat. Unsere Lage ist also wenig beneidenswert. Andererseits verlangt unser nationaler Beruf, uns endlich als deutsche Vormacht zu bethätigen, da auch in Europa unsere Stellung bei weiterem Zurückweichen vor dem treulosen Albion rücksichtlich der niederländischen Staaten bedroht ist.
Bismarck hat Europa und Frankreich gegenüber stets mit durchschlagendem Erfolge mit dem Ausbruch des deutschen Nationalgesühls gedroht. Unser Volksempsinden steht seit langem auf der Seite unserer Stammesgenossen, die ausserdem die platonische Zustimmung der gebildeten Welt besitzen. Frankreich und Russland können auch leicht zu Taten übergehen, um sich für frühere Schlappen an Grossbritannien zu rächen. Der Krieg mit den Buren stellt uns vor die Entscheidung, entweder der britischen Vormacht die deutsche entgegenzusetzen oder auf eine nationale Welt-Politik ganz
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zu verzichten und die bescheidene Festlandspolitik des alten Preussens weiter zu befolgen. Der Ausspruch, dass Deutschlands Zukunft auf dem Wasser liege, klingt dann wie Hohn, obschon selbst eingefleischte Nörgler dieses kaiserliche Wort nicht beanstanden können. Aber leider ist es bisher ein leerer Schall geblieben und den tönenden Worten sind keine Taten gefolgt.
Die offiziöse Presse predigt so verdächtig strenge Neutralität, dass wir fürchten, dass die Regierung dieses billige Verlegenheitsmittel, das Preussen zu seinem Unhel auch im Basler Frieden anwandte, tatsächlich zu gebrauchen gedenkt. Es ist doch schlimm, dass die ‘Post’ die Ausführungen eines notorisch von englischen Geldleuten abhängigen, nur nominell deutschen Finanzblattes in London als den deutschen Standpunkt wahrend zur Beachtung empfiehlt. Es ist ihr doch daher auch sicherlich bekannt, dass diese ‘Finanzchronik’ in einem Leitartikel die Stirn gehabt hat, die englischen Vergehen gegen Transvaal mit den Forderungen der Humanität zu rechtfertigen. Kein Engländer ist übrigens heuchlerisch genug, gemeine Geldspekulanten, wenn auch der Schwiegersohn des Prinzen von Wales sich darunter befindet, der duke of Fife oder seiner Herkunft nach der Bankherr Daft, wie das väterliche Geschäft auch noch jetzt heisst, und Dumdumgeschosse für Friedensboten der Gesittung auszugeben. Die englische Regierung selbst macht kein Hehl daraus, dass sie nur zur Gewinnung einer bisher nicht vorhandenen Vormachtstellung wider jedes Recht die hohe Gewalt des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren nach altem britischen Rezept anwendet. Die fromme Maske täuscht Niemanden mehr. Kann es einen günstigeren Augenblick für die Reichsregierung geben, durch eine keineswegs kriegerische Parteinahme für die Burenstaaten zugleich deren niederländische Stammesgenossen dem Mutterlande wieder zu gewinnen. Die beiden südafrikanischen Republiken haben s. Zt. ein Schutz- und Trutzbündnis erbeten, wodurch sie deutsche Schutzstaaten geworden wären. In ein
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gleiches Verhältnis müssen die beiden Niederlande treten, wollen sie nicht politisch von Frankreich und handels- und kolonialpolitisch von England vergewaltigt werden. Überall in der Welt stehen wir im Gegensatz zu England. Ostasien, Nordamerika als angelsächsische Republik, und Afrika an allen Enden sind ebensoviele Streitpunkte, wo wir bisher auch stets von England getäuscht worden sind. Machen wir jetzt die Rechnung auf. Ausser Nordamerika sind alle Grossmächte unsere Bundesgenossen gegenüber dem in arger Verlegenheit befindlichen Inselreich. Freilich hat man schon darüber gejammert, dass dann zunächst der Dreibund auseinander ginge. Was hat Österreich mit England zu thun und ist das führende Magyaren- und Slaventum im Donaureiche wirklich noch deutschfreundlich und im Ernstfall bündnisstreu? Gott gnade dem Reiche, dass es sich in der Not nicht auf Oesterreichs Hilfe verlassen muss, und folgen wir dem Moltke'schen Rate, nur unserer eigenen Kraft zu vertrauen. Italien ist dem Dreibunde seit der Annäherung an Frankreich aber schon verloren und bedarf daher der englischen Flottenhilfe nicht mehr. In Afrika hat es ausserdem den Wert der britischen Freundschaft gründlich kennen gelernt. Der Dreibund ist im übrigen ein Verteidigungsbund, in dem England in einer selbstgewollten ‘splendid isolation’ überhaupt keinen Platz hat. Steht es nicht aktenmässig fest, dass es die Vereinigtcn Staaten zum Friedensbruch in der Südsee aufgehezt hat? Ist es nicht sein geschichtlicher Beruf, überall Unfrieden zu säen, um im Trüben sischen zu können? Hat es nicht stets mit schwächeren Gegnern angebunden und ist es nicht immer vor ebenbürtigen Feinden zurückgewichen, so noch jüngst in der Venezuelafrage aus Angst vor Nord-Amerika?
Um nicht in den Ruf eines politischen Kannegiessers zu kommen, ist freilich dem Einwände zu begegnen, ob wir nicht durch ein Heraustreten aus der Neutralität eine Kriegsgefahr heraufbeschwören, der wir zur See sicher nicht gewachsen sind. Zunächst besteht ein Unterschied zwischen der teilnahmlosen Neu- | |
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tralität und einem wohlwollenden Verhalten gegenüber einer der kriegführenden Parteien. Wie soll uns England hindern, Werbungen stillschweigend zu dulden und Beschwerden mit Unkenntniss zu beantworten, Kriegsleistungen unter deutscher Flagge in der neutralen Delagoabucht zu landen und englische Kreuzer dortselbst durch ein deutsches Geschwader in Achtung halten zu lassen. Aengstliche Gemüter wittern dann schon den Kriegsfall. Glaubt ein Kriegskenner im Ernst, dass das schwerfällige England zu den Schwierigkeiten in Südafrika, Ostindien und vielleicht Ostasien sich noch einen Krieg mit der ersten Waffenmacht der Welt auf den Hals laden wird. Man könnte erwidern, dass wir zur See wehrlos sind. Wofür unterhalten wir eine kostspielige Diplomatie, die uns dann nicht die Bundesgenossenschaft der alten Englandsfeinde, der Franzosen und Russen, verschaffen könnte. Man munkelt schon von Einmischung dieser Mächte. Wer hindert deutsche Männer über Land von unserm südwestafrikanischen Schutzgebietnach demOranjefreistaat zu marschieren? In der französischen Fremdenlegion, in der holländischen Kolonialarmee und auf der englischen Kriegsflotte ist soviel überschüssiges deutsches Blut vorhanden, dass ruhmlos für die fremde Flagge sein Leben einsetzt, dass wir unser wehrhaftes Volkstum auch einmal zur Wahrung und Mehrung deutschen Ansehens verwenden können. Lassen wir die Buren im Stich, so ist unsere niederdeutsche Politik begraben und man achtet uns weder in Afrika noch Europa. Dieser Ausblick einer
Aktionspolitik muss zur That werden, sollen wir nicht das Bismarck'sche Prestige vollends einbüssen. Aber dazu müssen wir auch bei aller internationalen Höflichkeit endlich mit England brechen und nicht stets nach einigem Ermannen wieder zu Kreuze kriechen, woran vielleicht die unleidliche Damenpolitik, über die sich der grosse Kanzler mit Recht beklagt hat, nicht ohne Schuld ist. Wir können nicht annehmen, dass die englische Königin auch in Deutschland herrscht, während sie in ihrem eigenen Lande nur ein königliches Dekorationsstück ist. Die alte Dame hasst
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übrigens sicher den Geldspekulanten und Kriegshetzer Chamberlain aus innerster Seele. Dabei lässt sich nicht leugnen, dass die englische Brutalität doch einen grossartigen Zug des Machtbewusstseins in sich trägt, der wir leider nur die Thatsache ängstlichen Wohlverhaltens entgegensetzen können. Folgen wir dem Beispiele der englischen Stammesvettern und stellen wir Macht gegen Macht.
Wenn auch Deutschland seine Pflicht gegen seine rheinischen Mündungslande nur schlecht erfüllt hat, so trifft doch die Hauptschuld das kaiserliche Erzhaus Österreich, das seine burgundischen und oberrheinischen Besitzungen nach der Niederwerfung Napoleons nur zu gern für wertlose italienische Länderfetzen preis gab, da ihm das dynastische Hausinteresse über das nationale ging. Dagegen hat Preussen im Jahre 1790 Holland wider die franzosenfreundlichen Patrioten, die ihr Vaterland an Frankreich verraten wollten, geschützt und die Oranier wieder in ihr Stammland geführt. Nicht einmal die Kriegskosten liess sich das arme Preussen von den reichen Generalstaaten zurückerstatten. Aber das deutsche Grafenhaus Nassau-Diez, das den oranischen Helden im Erbstatthalteramt gefolgt war, war noch undankbarer. Voraussetzung der Vereinigung der nördlichen und südlichen Niederlande unter den Nassauern war der Anschluss an den deutschen Bund, der an Stelle des alten Reiches getreten war. Ganz Belgien und grosse Teile des neuen Hollands hatten zum Reiche gehört. Aber nur mit Luxemburg trat der nue König der Niederlande dem losen Bunde des alten Vaterlandes bei und schloss sich desto fester an das deutschfeindliche England an. Die Rache kam, als Frankreich Belgien auf Kosten des Gesamtstaates schuf, um das geteilte Land sich leichter anzugliedern, ohne dass England einen Finger für die gewährleistete Unantastbarkeit der Niederlande rührte. Wie Preussen vor Beginn der französischen Revolution das Land gerettet, so verlangte der Staatskanzler Hardenberg im Verein mit allen deutschen Staaten, die Rheinbündler nicht ausge- | |
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schlossen, im 2. Pariser Frieden von 1815 uneigennützig für die niederdeutschen Niederlande, deren alte Volksgrenze bis zur Somme, wie für das übrige Deutschland, Elsass, Lothringen unddie uralte
deutsche Freigrafschaft Hochburgund, die noch voller kaiserlicher Erinnerungen war. Die Bourbonen, die Flandern verstümmelt hatten, sollten ihren Raub wieder herausgeben. Aber das grossartige England liess diese Widervergeltung nicht zu. Oesterreich, die deutsche Präsidialmacht und Russland, das sich der polnischen Kriegsbeute erfreute, gefielen sich in der Rolle der Beschützer des räuberischen französischen Staates. Sollten wir dies in dem Augenblicke vergessen, wo der deutsche Kaiser wider die Volksmeinung unter dem Zwang der unbeliebten englischen Verwandtschaft den grossbritannischen Boden betritt. Hoffentlich erscheint er dort wieder als der Rächer der Ehre seines Volkes, dann wird ihm auch Deutschland zujauchzen. Der artikel war vor der englischen Reise geschrieben (D. Red.). Die oranischen Niederlande von Englands Gnaden hätten kaum das deutsche Volkstum jenseits der französischen Grenze mit Kraft und Verständnis geschirmt. Die alten Niederlande sind in 3 künstliche Staatengebilde zerfallen. Das noch im napoleonischen Zeitalter kerndeutsche Luxemburg ist nach schlechter Renegatenart von französischer Gesinnung erfüllt, wogegen sich seine westlichen Nachbarn von diesem Irrglauben allmählich befreit haben.
Das neue Reich mit seinen bescheidenen Grenzen hat aber seine abtrünnigen Kinder nie vergessen. Mag die hohe Politik den Stammesbrüdern auch kühl gegenübergestanden haben, das Volk hat die internationale Schranke nicht verstanden, wie die Luxemburger Frage im Jahre 1867 gezeigt hat. Jeder Zoll des niederländischen Bodens im Norden und Süden bedeutet für uns jetzt dasselbe, wie das Reichsgebiet, was man in Frankreich auch weiss. Aber unsere Staatskunst hat noch nicht die Folgerungen wirtschaftlicher und politischer Natur aus dieser naturgemässen Entwickelung unseres beiderseitigen Verhältnisses gezogen. Vielleicht ist es auch für die zarte
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Pflanze unseres gegenseitigen Verständnisses auf Grund der Blutsgemeinschaft besser gewesen, dass sie erst im Volksbewusstsein zur Entfaltung kommt und dann mit Naturgewalt die staatlichen Organe zur Anerkennung drängt. Die vielgeschmähte öffentliche Meinung ist wieder zu Ehren gekommen. Bismarck selbst hat sich von ihr in seiner Kolonialpolitik treiben lassen. Möge die niederdeutsche Politik des Reiches den gleichen Weg unter Zustimmung unserer niederländischen Volksgenossen am Rhein und an der Schelde wandeln.
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