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Prof. Dr. Helmuth Plessner Ad memoriam Edmund Husserl (1859-1938)
In den ersten Tagen des Mai hat Edmund Husserl, der Schöpfer der Phaenomenologie, die Augen für immer geschlossen. Das Land, dessen hohe philosophische Tradition er mit neuem Leben erfüllte und das ihm wie wenig anderen zur Dankbarkeit verpflichtet ist, darf heute an das Lebenswerk dieses Mannes kaum erinnert werden. Denn er gehört jener angeblichen Rasse an, die verfehmt sein soll, damit das Nordlicht germanischen Geistes umso reiner erstrahle. Wie wenig das selbst höchsten Parteifunktionären und Exponenten des gegenwärtigen Deutschlands einleuchtet, bewies noch vor wenigen Jahren der Reichspressechef Dr. Dietrich, als er in einer Rede Husserls Phaenomenologie unter den grossen Leistungen deutschen Geistes nannte; beweisen der Rassenpsychologe und -physiognomikerLudw. Ferd. Clauss und der Metaphysiker des heroischen Nihilismus Martin Heidegger, die beide Schüler und Assistenten Husserls gewesen sind. Besser passte schon in's offizielle Blutbild, dass die phaenomenologische Bewegung durch ihr neues Vertrauen zur anschaulichen Fülle und Ordnung der Wirklichkeit sehr wesentlich zur ‘Rückkehr des Katholizismus aus dem Exil’ beigetragen hat, in einem Lande, dessen Geistesgeschichte überwiegend vom Protestantismus geprägtist. Mag diese Rückkehr für den deutschen Aspekt auch Episode geblieben sein, ein Oeuvre wie das von Scheler, des bedeutendsten Mannes aus der Husserlschen Schule, erschöpft sich nicht in dieser zeitgeschichtlichen Wirkung. Aus ihm wird die katholische Haltung und Weltsicht auch in Zukunft neue Kräfte ziehen können, die sie dem Prinzip der Phaenomenologie verdankt. Wer war Husserl? Was hat er mit seiner Phaenomeno- | |
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logie gewollt? Warum konnte sie eine tiefere und nachhaltigere Wirkung auf Wissenschaft und Leben haben als selbst der Intuitionismus Bergsons oder der Pragmatismus von William James? Wenn man
seine Schriften zur Hand nimmt, die ‘Logischen Untersuchungen’ (1900-'01), die ‘Ideen zur reinen Phaenomenologie’ (1913) und selbst noch die ‘Méditations Cartésiennes’ (1931), muss man sich wundern, dass ein derart esoterischer Schreiber, dessen Bücher jeden Glanz und Charme entbehren und vom Leser allergrösste Geduld verlangen, eine so umfassende Resonanz finden konnte. Schwerfällig wie sein ganzes Wesen vollzog sich sein Aufstieg. Er stammte aus Prossnitz in Mähren, wuchs also in einer Welt auf, deren Zentrum Wien war. Er studierte zunächst Mathematik, besonders bei Weierstrass in Berlin, später Philosophie und Psychologie bei Brentano in Wien. Beiden Quellen suchte er die Treue zu halten. Mathematik war ihm durch sein ganzes Leben das Ideal aller Wissenschaft und wie so viele Vernunftgläubige vor ihm fahndete er für die Zonen der Erfahrung, denen wir mit Figuren und Zahlen nicht beikommen können, nach Prinzipien von gleicher Gewissheit. Als echter Rationalist blieb er bei seiner jugendlichen Ueberzeugung, dass der Mensch über Erkenntnisquellen verfüge, welche ein dauerndes Einverständnis in Dingen der moralischen, sozialen und politischen Ordnung gewährleisten. Wie aber sie finden? Darauf hatte sein katholischer Lehrer Brentano, im Gegensatz zu dem damals aufkommenden Kantianismus, die Antwort: durch das Studium der inneren Erfahrung, durch Psychologie.
So begann Husserl als Privatdozent in Halle mit einer Psychologie der Arithmetik, aber er erkannte bald die Unmöglichkeit, sein Ideal der Begründung zeitloser Wahrheiten auf dem Boden einer wenn auch inneren Erfahrung zu erreichen. Aus dieser Spannung zwischen Rationalismus und Positivismus ist der Gedanke seiner
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Phaenomenologie geboren. Eine Fundamentalwissenschaft sollte es sein, offen für alle Erfahrung, offen wie alle Erfahrung und doch nicht von der Erfahrung und ihren Relativitäten abhängig. Sie sollte die Prinzipien nicht allein der Natur, sondern darüber hinaus der ganzen Welt erarbeiten, die sich im Erkennen ebenso gut erschliesst als im Fühlen, Wollen und Glauben, kein blosses Panorama, sondern auch Kampfplatz und Kampf, Bild im geschlossenen Rahmen und grenzenlose Weite wechselnder Horizonte in Einem.
Eine derart universale Grundwissenschaft durfte die Prinzipien nicht einseitig etwa den Wissenschaften entnehmen, wie es damals die sog. kritische Erkenntnistheorie versuchte. Die Welt des Erkennens stellt bereits eine Interpretation der unmittelbaren Welt dar, sie verhält sich zu ihr wie ein Photo, eine Skizze zur Wirklichkeit. Ebensowenig durfte die Fundamentalwissenschaft sich einseitig durch Glauben, Willen oder Fühlen leiten lassen. Husserl fürchtete die Gefahr willkürlicher Hierarchie, gewaltsamer Einengung der Horizonte durch herrscherliche und herrische Systematik, welcher Gesinnung sie auch entstammen mochte. Wie für Nietzsche war auch für ihn der Wille zum System ein Mangel an Rechtschaffenheit.
Er wollte sich der Wirklichkeit in ihrer ganzen Frische und Ursprünglichkeit versichern. Dieser für das ausgehende 19. Jahrhundert typische Trieb, der die akademisch-romantische Tradition in der Kunst durchbrach, um Impression und freien Rythmus zu gewinnen, führte auch ihn zu den Quellen der unmittelbaren Anschauung als den Prinzipien, die gleichermassen Erfahrung und Denken bestimmen. Prinzip, Kategorie, Idee - das konnte für Husserl nichts sein, was dem erkennenden oder wollenden Subjekt des Menschen entspringt und einer an sich unfassbaren Welt das Gepräge ihrer Fassbarkeit aufdrückt. Das musste zur Welt gehören, Struktur der Sache selber sein, die vom
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menschlichen Subjekt Anerkennung erzwingt und jedem Relativismus von Standpunkten und Betrachtungsweisen entrückt ist. Prinzipien, Kategorien, Ideen sind Strukturen des Seienden, wie es sich von sich her zeigt, wie es erscheint, nicht Forderungen oder Antworten des Bewustsseins. Man sollte eigentlich nicht glauben, dass ein Mann von so ausgesprochen liberal-positivistischer Haltung, von vollkommener Indifferenz gegen die Autorität christlicher Offenbarung so feindlich dem ganzen kritischen Idealismus Kants und seiner Nachfolger gegenüberstand. Und doch war es so. Die Isolierung des Menschen in seinem Bewusstsein, der ethische Rigorismus, die Betonung der sittlichen Autonomie, die Emanzipation der Gewissensentscheidung, die Ueberwertung des exakten Denkens in der naturwissenschaftlichen Erfarung, die in der Kantischen Philosophie ihre Rechtfertigung fanden, waren ihm zuwider. Er war Ontologe aus Leidenschaft. Der Kontakt mit dem Sein ging ihm über alles. Ich erinnere mich einer kleinen Szene am Tor seines Gartens in Göttingen. Wir sprachen über Fichte und seinen seltsamen Begriff vom Ich, das die Natur aus sich hervorbringt. Da nahm er seinen Spazierstock, stemmte ihn gegen den Türpfosten und sagte: ‘So wie ich diesen Widerstand hier erfahre, muss die Philosophie sich des Seins versichern.’ Das Bewusstsein sollte die Welt tausendfach hereinlassen, nicht in Erscheinungen von etwas, das es nicht kennt und nie erreichen kann, gegen das Sein sich abschliessen. Darum galt es, den Menschen zur Demut, zur Ehrfurcht vor der Anschauung zu erziehen, die er so leicht verliert, weil er durch das übliche Gerede der Sprache dazu verleitet wird, über ihren Abstraktionen und bequemen Verständigungsmitteln die Sachen selbst zu vergessen.
Erziehung zur Ehrfurcht vor der Anschauung durch Besinnung auf die ursprünglich begreifende Funktion der Sprache ist der Sinn der Phaenomenologie. Nicht
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stehen bleiben bei Phaenomenen, wie es der Positivismus und Phaenomenalismus der sinnlichen Erfahrung wollte, der eine Philosophie des Misstrauens war und die Beobachtung im Experiment zur Richtschnur der Anschauung machte. Wir sollen vielmehr zum Logos der Phaenomene durchdringen, der sich daran offenbart, dass das Wort sie bezeichnet und begreift. Das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung, in seiner von jedem einsehbaren und mitzuvollziehenden ‘Intention’ erfasst Husserl als den natürlichen Leitfaden zur ‘quellgebenden’ Anschauung und damit zu den fundamentalen Prinzipien von Sein und Leben.
Der Menschheit grosse Gegenstände und Anliegen spiegeln sich in Worten, d.h. in Begriffen, berufen sich auf Begriffe, erzeugen Begriffe. So wird die Wortbedeutung zum natürlichen Träger aller Intentionen, in denen wir uns auf das Sein wahrnehmend, denkend, wollend, glaubend, fühlend beziehen. Indem wir sie aufklären und analysieren, was eigentlich mit ihnen gemeint ist, dringen wir zu dem letzten Endes nur anschaulich, d.h. intuitiv zu fassenden Sinngehalt der gemeinten ‘Sache’ hindurch. Er macht ihr Wesen aus. Es ist nicht so, dass wir dieses Wesens einer Sache uns rein verstandesmässig erst versichern müssten. Wir haben es irgendwie immer schon, es hat uns schon und wir haben es nur vergessen. Unser Sprachgefühl weist uns den Weg. Der treffende Ausdruck kann nur darum treffend sein, weil er den Wesensgehalt gleichsam erinnernd zur Anschauung bringt.
Wir sprechen etwa von Leben. Was ist Leben? Die übliche Antwort lautet: das können uns nur die Wissenschaften sagen, die Leben zum Gegenstand haben. Wendet man sich aber an Biologen, Mediziner, Historiker, Soziologen, dann werden sich alle mit irgendeiner behelfsmässigen Definition zufrieden geben, einem Begriff, der ihrer Arbeit eine gewisse Richtung und Abgrenzung sichert. Und alle werden uns auf die
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allmähliche anschauliche Anfüllung des Begriffs durch die wachsende Erfahrung vertrösten.
Nein, sagt die Phaenomenologie. Wir wissen, was Leben ist. Wüssten wir es nicht, könnten wir den Begriff niemals bilden, könnten wir das Wort nicht einmal verstehen und sinnvoll gebrauchen. Wir haben schon - in welcher Sprachschicht auch: in der Umgangssprache, in der Sprache des Dichters, des Gelehrten, des Mystikers - einen Vorbegriff davon, der zwar nicht definiert werden kann, weil er kein Abstraktum ist, wohl aber Praezision besitzt und nicht etwa die Verschwommenheit des Gefühls oder die Unbewusstheit des Instinkts. Seine Klarheit und Bestimmtheit lassen sich allein exemplarisch zum Bewusstsein bringen, wie irgend eine andere anschauliche Gegebenheit auch. Zu solcher beispielhaften Verdeutlichung taugt jede sprachlich bezeugte Wendung, in der Ausdrücke wie Leben, Lebendigkeit, Lebhaftigkeit und ihre Derivate nachdrücklich gebraucht werden.
Für die Phaenomenologie spielen Sprachbedeutung und Sprachgefühl nur die Rolle eines Zugangs zu den eigentlichen Wesenheiten, die uns an irgend einem der Wirklichkeit oder der Phantasie entnommenen Beispiel intuitiv klar werden; in der Art klar werden wie die Ideen in den Sokratischen Dialogen. Man hat Husserl wohl einen Platoniker genannt, aber er hat sich bei dem platonischen Verhältnis von Idee und Einzelfall nie beruhigt. Eher könnte man ihn einen Aristoteliker nennen, weil seine Arbeit darum bemüht war, an jeder Erscheinung die Struktur ihres ‘Typus’ (signalisiert im treffenden Ausdruck) zur Transparenz zu bringen. Und nur die uferlose Breite der mit der heutigen Erfahrungsund Ausdrucksfülle hereinbrechenden Wesensmöglichkeiten trennt die moderne Phaenomenologie von dem klassischen Bild aristotelischer Systematik.
Mehr als die um die Methode der Wesensforschung kreisende Arbeit Husserls haben die Arbeiten seiner
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Schüler den Sinn und Wert dieser Wendung in der Philosophie vom Subjekt zum Objekt, zur Fülle des Seins demonstrieren können. Die Starre der kantischen Weltinterpretation war überwunden. Ein Strom unverbrauchter Themen riss das Denken einer ganzen Generation mit sich fort. Es gab keine verbotenen Fragen mehr. Die bis zur Sterilität gepflegten Grenzen zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen begannen sich zu lockern. Die Philosophie sah sich nicht mehr auf Logik, Erkenntnistheorie, Ethik und Kategorialanalysen beschränkt. Am Leitfaden der Sprache fand sie in der Fülle unabgeschlossener Erfahrung ihr neues unabgeschlossenes Arbeitsfeld. Schelers Ethik der materialen Werte überwand den kantischen Pflichtformalismus. Sie erschloss wieder die Leidenschaften, die Reue, den Stufenbau der Person dem philosophischen Verständnis. Dietrich v. Hildebrand, der Sohn des grossen Bildhauers, der 1933 von München nach Wien ging und dort für den katholischen Ständestaatsgedanken wirkte, bis der Anschluss ihn abermals vertrieb, hat Schelers Werk fortgesetzt. In die Religionsphilosophie kam neues Leben. Was in der scholastischen Tradition behütet und verfeinert, aber auch dem Leben der Zeit langsam entfremdet war, natürliche Theologie und Naturrecht - erinnert sei nur an Ottos Buch ‘Das Heilige’, an Schelers ‘Vom Ewigen im Menschen’ und an Reinachs ‘Apriorische Grundlagen des bürgerlichen Rechts’ -, erhielt durch die Phaenomenologie unerwartete Hilfen. Neues Verständnis unter den Konfessionen bahnte sich an.
Um 1910 hat die Phaenomenologie sich durchgesetzt. Auf allen Wisssensgebieten macht sich ihr umwälzender Einfluss geltend. Die Psychologie rebelliert gegen die Herrschaft des Naturalismus und entwickelt im neuen Kontakt mit der geistigen Wirklichkeit, auf dem Boden der Personalität des Menschen Ausdruckslehre, Charakterkunde, Typologie der Konstitution. Psychiatrie und
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innere Medizin, Biologie und Soziologie, Kunstwissenschaft und Geistesgeschichte beginnen umzulernen und ihre Grundlagen zu revidieren. Der Sinn für Formung und Stufung, für Eigenart und Wesensgrenzen wird empfindlicher. Das so lange durch den Mechanismus verdrängte morphologische und funktionelle Verstehen der anschaulichen Naturgestalten im Sinne Goethes und des Aristoteles erhält neuen Impuls. Eine für die moderne Welt unverständlich gewordene Tradition, die scholastische Philosophie, begegnet nicht mehr dem Lächeln hochmütiger Aufklärung.
Obwohl allein die Wiedereinführung des scholastischen Gedankens der Intentionalität sein Werk ermöglichte, hat Husserl diese Entwicklung nicht voraus gesehen. Er dachte selbst noch viel zu positivistisch, um das Vertrauen in die stetige Ausbaufähigkeit seiner Phaenomenologie zu einer Einzelwissenschaft zu verlieren. Strenge Wissenschaft mit tausend Einzelproblemen, endlosen Arbeitsmöglichkeiten, uferlos wie das Sein und die Sprache, in der es sich spiegelt, war sein Ideal. In diese Beliebigkeit Ordnung zu bringen, methodische Linie, terminologische Disziplin erkannte er als seine Aufgabe. Sie wurde ihm zum Verhängnis. Denn er verlor dadurch den Kontakt mit der von ihm selbst proklamierten Richtung zur unmittelbaren Fülle der Anschauung. Im Grunde hat er sie gefürchtet und die Sicherkeit des Bewusstseins dem Wagnis des Seins vorgezogen. Er entwickelte sich zum Erkenntnistheoretiker seiner Methode und lenkte damit, fast wider sein besseres Wollen, in die alten idealistischen Bahnen zurück. So glaubte er sich sehr bald schon von seinen Schülern missverstanden und alleingelassen. Er wollte Scheler und Heidegger, Anthropologie und Existenzphilosophie nicht als legitime Konsequenzen seiner phaenomenologischen Methode gelten lassen.
So hat ihn das typische Schicksal des Liberalen in dieser Zeit ereilt, ehe noch die Schatten des dritten
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Reiches seine letzten Jahre verdunkelten. Aber das Werk, das mutiger und vertrauensvoller war als sein Urheber, wird seinen Namen kommenden Geschlechtern bewahren. Die Möglichkeiten, die in ihm schlummern, sind noch lange nicht erschöpft. Auf sie wird immer zurückgreifen müssen, wer nicht will, dass Christentum und platonisch-aristotelische Ueberlieferung im Humanismus aus unserem Leben verschwinden.
(Lambert Simon)
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