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DE GEMEENSCHAP
MAANDBLAD ONDER REDACTIE VAN: MR. LOUIS DE BOURBON, ANTOON COOLEN, ANTON VAN DUINKERKEN, JAN ENGELMAN, MARNIX GIJSEN, A.J.D. VAN OOSTEN EN JAN VERCAMMEN
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Joseph Roth
Glauben und Fortschritt
Vortrag gehalten am 12.6.1936.
Meine Damen und Herren. Bevor ich das eigentliche Thema meines Vortrages berühre, muss ich Sie um Entschuldigung bitten für den allzu allgemeinen Titel, den ich auf die Ankündigungen und Einladungen habe schreiben lassen. Die Aufgabe, die ich mir heute gesetzt habe, ist eigentlich nicht die: über Glaube und Fortschritt zu sprechen. Wenn die sprachliche Formulierung mir nicht so kühn erschienen wäre, ich hätte Ihnen gerne den Vortrag unter dem Titel: ‘Der Aberglaube an den Fortschritt’ angekündigt. Dieser Titel bezeichnet besser den Inhalt und den sogenannten ‘Tenor’ dessen, was ich Ihnen sagen zu müssen glaube.
Es ist keineswegs leicht für einen Schriftsteller, dessen eigentliche Aufgabe es ist, von Angesicht seinen Lesern unbekannt zu bleiben, der sozusagen in einer physischen und physiognomischen Anonymität verharren sollte, der das rein Konkrete zu beobachten und zu gestalten hat, - es ist, sage ich, schwer für einen Schriftsteller, dessen natürlicher Ausdruck das in der Einsamkeit geschriebene Wort ist, zum gesprochenen zu greifen. Damit Solches zustande komme, muss das Unheil, das in der Welt grassiert, so gross sein, dass die Stummen zum Reden gezwungen werden. Bevor jene Schergen kommen, denen wir - allerdings, nach dem klassischen Muster, ebenfalls mit der Gewissheit, einen Selbstmord zu begehen, - das: noli tangere! entgegen zu rufen hätten, drängt es
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uns, dann und wann einen Versuch zu machen, unsere Gedanken, unsere Warnungen, unsere Einsichten, unsere Mahnungen vor einer noch so restringierten Oeffentlichkeit auszusprechen, so mangelhalft auch unser gesprochener Ausdruck sein mag. Denn es ist für einen Autor, der Zeit seines Lebens die Wahrheiten, die er erkannt zu haben glaubte, nicht unmittelbar auszudrücken fähig ist, sondern lediglich durch Darstellung, Beschreibung und Gestaltung konkreter Begebenheiten und Erscheinungen, einen sogenannten ‘belletristischen Autor’ einen ‘Romancier’ oder ‘Novellisten’, wenn Sie wollen, doppelt schwierig, eine Anschauung und eine Ueberzeugung nackt und gleichsam ohne stoffliche, ohne verkörperlichende Einkleidung darzustellen. Ich habe es einmal, mit dem unverhofften Erfolg, den ich in der Hauptsache den Lesern dieses Landes, den holländischen Lesern, zu verdanken habe, in meinem ‘Antichrist’ versucht. Ich kann der legitimen Versuchung nicht widerstehen, derlei Aeusserungen zu wiederholen, sobald meine eigentliche, ich meine: mir gemässe epische Arbeit mir eine Ruhe gestattet; ja, sogar geboten erscheint es mir, wenn es meine Kräfte erlauben, einiges direkt beizutragen zur Entwirrung der Verworrenheiten, in denen wir leben. Diese Verworrenheiten sind es ja eben, die es dem zeitgenössischen belletristischen Schriftsteller unmöglich machen, seine Zeit, die Gegenwart, konkret zu schildern und zu gestalten. Sie werden gespürt haben, in welchem Masse die sittlichen Gesetze unserer Welt täglich und fast stündlich ausser Kraft gesetzt werden. Nun, der belletristische Schriftsteller, das heisst: derjenige, der gezwungen ist, die
Menschen, die Träger und Vollstrecker der sittlichen Gesetze, darzustellen, erfährt dass auch die psychologischen Gesetze keine Geltung mehr haben. Wir, die sogenannten ‘Belletristen’, wir könnten sagen, dass wir uns nach jenen Zeiten zurücksehnen, in denen ein Bösewicht noch ein Bösewicht war, ein guter Mensch ein guter Mensch, dem Lügner nicht getraut werden konnte, dem Wahrheitsliebenden Kredit gegeben werden musste. Nun aber, da die moralischen und psychologischen Kriterien vernichtet erscheinen - zumindest zeitweise, da sie gleichsam in einer Wolke verhüllt sind - wird der Bösewicht zuweilen für das gehalten, was er wirklich ist; bald darauf aber für einen Gerechten; heute ertappt man den Lügner auf seiner Lüge, morgen schon wird man beirrt durch sein Leugnen; und übermorgen gar ist's fast eine Wahrheit, was er gesagt hat. Ja, auch der Wahrheitsliebende selbst wird irre. Die Macht des Teufels ist in unsern Tagen stärker geworden. Das eigentlich Teuflische nun äussert sich nicht etwa in der primitiven Vorstellung, dass für die Dauer seiner - gewiss vorübergehenden - Herrschaft
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die Bösen stärker sind als die Guten. Vielmehr wäre, wie Sie wissen, solch ein Zustand ein natürlicher, will sagen: ein gewöhnlicher. Auch das Böse ist nämlich ein Teil des Guten: ‘Nichts findet man in der Welt’ - wie der Hl. Thomas von Aquino sagt - ‘was vollständig übel ist.’ Aber die Zeiten der Hölle erkennt man nicht an der Herrschaft des schlechtweg Bösen, sondern an unserer Ratlosigkeit, zu sehen, was eigentlich Gut und was eigentlich Böse ist. Es ist nicht Nacht und es ist auch nicht Tag in der Welt. Es ist gleichsam Sonnenfinsternis. Das erzeugt in uns Allen das sogenannte ‘Weltuntergangsgefühl’. Sie werden in dieser Beleuchtung, die weder Licht noch Finsternis ist, sondern eher eine Art: Unlicht als Romancier oder Novellist keinen Menschen sehen, geschweige denn gestalten können. Es ist kein Zufall, es ist auch nicht durchaus immer billige Erfolgssucht, wenn die Schriftsteller unserer Tage zeitentlegene Stoffe zu behandeln versuchen. Es ist auch kein Zufall, dass jene Literatur, die Gegenwärtiges behandelt, manchmal so schwächlich, um nicht zu sagen, jämmerlich ist, im Ausdruck und in der Wahrscheinlichkeit. Eine verworrene Menschheit ist ebensowenig fähig, literarisch dargestellt zu werden, wie irre und wahnsinnige Menschen. Deshalb auch muss, so glaube ich, ein Schriftsteller, ein belletristischer, will er sich über die Gegenwart äussern, manchmal zu einer unmittelbar erklärenden, wenn auch noch so unvollkommenen Form greifen.
Ich habe Ihnen am Anfang gesagt, dass ich eigentlich vom ‘Aberglauben an den Fortschritt’ sprechen möchte. Diesen nämlich halte ich nicht nur für die Ursache unserer Enttäuschungen, welche uns die Menschheit dieser Tage bereitet, sondern auch für eine der entscheidendsten Ursachen der Verwirrung, die über die Welt gekommen ist. Wäre ich leichtgläubig oder ungläubig - was mir, nebenbei gesagt, identisch erscheint - ich wäre eher imstande, jenen harmlosen Naturen recht zu geben, die an Wahrsager, Kartenleser, Sterndeuter und Chiromanten glauben, als den Gebildeten, die seit fast zweihundert Jahren an den Fortschritt glauben. Es gehört zu den paradoxalen Vorgängen in der Geistesgeschichte der Menschheit, dass der Glaube an den sogenannten sicheren endgültigen ‘Sieg der Vernunft über die Barbarei’ naiver ist als jeder Märchenglaube. Nicht nur, wie gesagt, Enttäuschungen bereitet dieser Glauben, sondern auch teilweise die Ursachen dieser Enttäuschungen. Man sollte meinen, es bestünde in einer Zeit, in der auch die A-Religiösen und sogar die Ungläubigen an der Lösbarkeit der Rätsel zweifeln, kein Grund, an den sogenannten naturnotwendigen Fortschritt
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der Menschheit zu glauben. Es erweist sich aber - noch ein Paradoxon! - dass der wirklich Gläubige, im religiösen Sinn Gläubige, weitaus skeptischer ist als der Ungläubige. Der Gläubige hat eine Ahnung von der Allmacht Gottes, die ihn niemals enttäuschen kann, und er kennt auch genau die Ohnmacht des Menschen, die ihn infolgedessen ebenfalls nicht enttäuschen kann. Jener aber, der glaubt, die irdische Vernunft allein könnte eines Tages die Menschheit regieren, wird mindestens alle fünfzig Jahre enttäuscht. Und es ist ein billiger Irrtum und ein noch billigerer Trost, wenn der und Jener, im Angesicht der Greuel, die sich heute vor seinen Augen vollziehen, in den Ruf ausbricht: ‘Das ist ein Rückfall in 's Mittelalter!’ Ich glaube, dieser Ruf ist eine schwere Beleidigung des Mittelalters. Die Greuel unserer Tage sind keineswegs mittelalterlich! Sie erinnern auch nicht im Entferntesten an die Greuel des Mittelalters, die gewiss nicht zu leugnen sind. Nein, meine Damen und Herren, die Schrecken unserer Tage sind nicht etwa ‘ein Rückfall’ - sondern viel eher authentische blutige Zeugnisse gegen unsere Neuzeit; vielleicht sogar ein Probe-Ausfall in die Zeiten, die noch kommen werden. Sie vermitteln uns, diese neuzeitlichen Schrecken, keineswegs etwa einen Nachgeschmack des Vergangenen, sondern, so fürchte ich, einen entsetzlichen Vorgeschmack des Kommenden.
Diegewiss verdammenswerten Schrecken des Mittelalters nämlich waren immer die Folgen einer verirrten, verfälschten, auch einer in die Irre geführten Gläubigkeit. Das Sündhafte geschah, gewiss unter Missbrauch Gottes, so doch pro Nomine Dei. Auch dort noch, wo sich um jene Zeit der Zynismus unmenschlich äusserte, war er doch gezwungen, die Maske des gläubigen, Gott zugerichteten Eifers anzulegen. Die Lüge noch hielt sich selbst für eine Wahrheit. Gewiss wurde der Name Gottes missbraucht: denn in Seinem Namen tötete man ja. Heute aber tötet man nicht unter missbräuchlichem und missverständlichem Anruf des Göttlichen, sondern unter dem Anruf des gang und gäbe Gesetzlichen einer menschlichen Gewalt; im Namen der Vernunft; im Namen der oder jener Klasse; im Namen des National- oder Staatsgedankens; im Namen einer bestimmten irdischen Lehre; auf Grund von Rezepten, die in den Apotheken der rationalistischen Menschheitsbefreier hergestellt werden. Ich sage: der rationalistischen, obwohl sie gelegentlich von der ratio so weit entfernt sind wie der echte Rationalist von der religiösen Wahrheit. Deshalb ist es kein Mittelalter, das wir heute erleben, sondern eine authentische Neuzeit, eine Gegenwart, die aktuellste Gegenwart, eben unsere Zeit!
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Erlauben Sie mir etwas Selbstverständliches zu sagen, was Sie wahrscheinlich oft selbst gedacht haben: dass wir nämlich seit der Hexenverbrennungen eine noch tiefere Schmach und Schändung unserer Menschlichkeit erlebt haben; wie die Giftgase, um nur ein Beispiel zu nennen. Es wäre billig, alle anderen Beispiele, die Beweise für meine Behauptung sind, aufzuzählen. Die aktuellen politischen Vorgänge der letzten zwanzig Jahre kennen Sie alle. Es ist aber nun keineswegs meine Absicht, heute vor Ihnen eine Apologie des Mittelalters zu halten. Ich wollte nur den Ruf des Mittelalters retten vor der Schande, dass es mit der Gegenwart verglichen werde, und der Gegenwart die Ehre absprechen, mit dem Mittelalter verglichen zu werden. In der Geistesgeschichte nämlich hört das Mittelalter viel später auf als in der gewöhnlichen - nennen wir sie, der Bequemlichkeit halber: körperlichen Geschichte der Menschheit. Das Mittelalter hört erst in dem Zeitpunkt auf, in dem das menschliche Sittengesetz als praktische Norm, unabhängig vom Göttlichen wird. Gott ist entweder dann nicht existent oder, wo Er geglaubt wird, eine Art unbekümmerter Lenker der Billionen Welten, den unser Gut oder Böse nichts angeht. Man könnte sagen: der neuzeitliche Mensch hat gewissermassen vergessen, dass er das sittliche Gesetz von Gott, am Sinai bekommen hat. Er meint, es sei gleichsam sein geistiges Eigentum. Man ist versucht, zu sagen: die Neuzeit begann mit einem Plagiat. Der Mensch plagiierte die zehn Gebote. Er erfindet, unbewusst, um sein Plagiat zu cachieren, noch weitere zehn oder zwanzig Gebote hinzu, ja, das ganze bürgerliche Gesetzbuch. Der irdische
Richter setzt sich an die Stelle des göttlichen. Gott ist nicht mehr über uns, sondern Er ist fern von uns - wenn überhaupt vorhanden.Auf keinen Fall ist er nach dem Glauben des typischen Menschen der Neuzeit noch mitten unter uns: Der Mensch ist ein durchaus tugendhaftes Geschöpf. Wenn ihm hie und da Fehler, sogar Verbrechen unterlaufen, so ist er gleichsam daran unschuldig. Es ist nicht das immanent Böse, das ihm von Natur zugewiesen ist - um nicht zu reden vom Fluch der Erbsünde. Der Mensch wird also gleichsam entmündigt - und er gleicht auf ein Haar einem Kinde. Das Kind ist unschuldig. Es ist nämlich unverantwortlich. Der Mensch ist ebenso unverantwortlich. Wenn er fehlt, so geschieht es gewissermassen nur deshalb, weil er noch nicht so recht erwachsen ist. Ebenso, wie das Individuum aus einem verantwortungslosen Kinde zu einem verantwortungsreifen Menschen heranwächst, wird mit der Zeit die ganze Menschheit, hat man nur Geduld mit ihr, zu einer sittlich verantwortlichen Art irdischer, diesseitiger Gottheit heranreifen. Da Gott so weit entfernt ist, ist auch der Teufel so weit entfernt. Man glaubt,
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die Menschheit wachse wie das Kind, mit der Zeit aus den Kinderschuhen. Eines Tages wird sie reif und sittlich genug sein, nicht mehr Hexen im Namen Gottes zu verbrennen. Der Mensch hat nicht das Paradies verloren, nein! er ist erst auf dem Wege, es zu gewinnen. Aber, siehe da! Kaum, dass er aufgehört hat, die Hexen im Namen Gottes zu verbrennen - und schon fängt er an, seinesgleichen im Namen der Götzen zu verbrennen. Das ist eigentlich das Glaubensbekenntnis der neuen Zeit. Aber, siehe da! kaum hat Moses begonnen, den Sinai emporzusteigen, und schon haben sie ein goldenes Kalb! Ach die Menschen haben viel mehr symbolische Kälber als es auf Erden wirkliche gibt. Jetzt haben sie, zum Beispiel, das Nationalkalb und das Rasse-Kalb, wieviel mehr Opfer haben diese beiden Kälber allein schon verschlungen, als einst das goldene! Es gibt meine Damen und Herren, auch ein sogenanntes Klassenkampf-Kalb! Und auch dies verschlingt gar viele Opfer.
Am gefährlichsten erscheint mir das Fortschritts-Kalb. Deshalb sprach ich vom ‘Aberglauben an den Fortschritt’. Dieser Aberglauben hat - wie übrigens jeder Aberglauben - etwas Rührendes, und nichts Erfurcht Gebietendes. Denn gewiss gibt es eine menschliche Vernunft. Löst man sie aber von ihrem Ursprung, das heisst: von der göttlichen, so ist sie fast eine Torheit. Und es ist meine Intention, meine Damen und Herren, Ihnen, wenn auch nicht beweisen, so doch einigermassen begreiflich zu machen, dass die menschliche Vernunft, sobald sie ihren Ursprung, nämlich die göttliche, leugnet, oder missachtet, oder geringschätzt, oder auch nur ausser acht lässt, keinen anderen Namen mehr verdient als Irrtum, im besten Fall...
Sie wissen dass die Vernunft nicht nur eine Gabe ist, sondern auch eine Tugend. Um den heiligen Thomas anzurufen: ‘Zu den Werken der Sittlichkeit’ - so sagt er - ‘leitet uns die Vernunft an, welche die Regel des menschlichen Handelns ist.’
Zu den Werken der Unsittlichkeit - so könnte man folgern - leitet uns, unter Umständen, der Glaube an die rein menschliche, irdische Vernunft an, welche die unsichere und verwirrende Regel des menschlichen Handelns werden kann.
Der Glaube an die rein menschliche Vernunft ist nämlich in der Tat: der Aberglaube an den Fortschritt, an den notwendignaturgegebenen Fortschritt der Menschheit. Ich greife auf mein früher gebrauchtes Bild zurück: Der zum analogisierenden Optimismus neigende Verstand betrachtet die Entwicklung der Menschheit ähnlich der Entwicklung des Kindes. Daher die üblichen Redensarten: ‘Die Menschheit stecke noch in den Kinderschuhen’
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oder: ‘sie werde sich schon auswachsen’. Ist es schon höchst fraglich, ob das physische Wachstum des Individuums notwendig und naturgegeben sein moralisches Wachstum bedeutet, so ist es doch gewiss ein Irrtum, das Individuum mit der Species zu vergleichen, beziehungsweise zu verwechseln.
Man täte mir unrecht, wenn man meine skeptische Stellung zur species humana für einen Pessimismus halten wollte. Ich möchte vielmehr an dieser Stelle, und etwas abweichend von meinem bisherigen Gedankengang, meinem Glauben Ausdruck geben an das immanent Gute im Menschen und meiner Ueberzeugung von der Vorherrschaft der Vernunft auf dieser Welt. Und nicht etwa, weil ich ein Pessimist bin, der die Menschheit, wie man sagt: ‘aufgegeben’ hätte, spreche ich gegen den Aberglauben an den Fortschritt; sondern, wenn Sie wollen, als gläubiger Optimist: wenn ich nicht glaube, dass die Menschheit im Laufe der Zeiten immer besser werden könne, so geschieht es darum, weil ich überzeugt bin, dass sie zu allen Zeiten seit ihrer Entstehung gleich gut war, beziehungsweise gleich böse. Wobei selbstverständlich zu begreifen wäre, dass auch das Ueble bestimmt ist, von vornherein bestimmt ist, zum Guten hinzuführen.
Denn mich, den gläubigen Optimisten, unterscheidet vom ungläubigen Optimisten - der oft identisch ist mit dem Fortschritts-Gläubigen - nicht etwa die Tatsache, dass ich etwa meinte, die Vernunft stritte gegen das Metaphysische, dem ich verschworen bin, und also könnte ich sie nicht als oberste Richterin unseres Handelns auf Erden anerkennen. Im Gegenteil: da, meinem Glauben nach, die menschliche Vernunft nicht nur eine Tugend, sondern auch geradezu ein Gebot ist; da ohne sie ein sittliches Handeln gar nicht sein kann; da sie der einzige und alleinige Ursprung der wirklichen lex humana ist; da sie gleichsam das Echo jenes Atems ist, mit dem Gott den ersten Menschen beseelt hat: deshalb glaube ich an sie, verehre sie und bemühe mich, ihr überall dort die Wege wieder zu bereiten, wo sie verschüttet worden sind. Nur bin ich mir, erstens, bewusst: dass die menschliche Vernunft begrenzt ist -; zweitens, dass, um der irdischen Vernunft Gehör verschaffen, die verschütteten Wege bahnen zu können, dass dazu mehr als Vernunft selbst gehört: nämlich Gnade. (Wobei es selbstverständlich ist, dass der Gnade teilhaftig nicht immer und nicht ausschliesslich nur der in unsern Augen Gläubige werden kann.) Der Glaube nämlich, man könnte der Vernunft Gehör verschaffen, ohne dazu begnadet zu sein, führt zum Aberglauben an den Automatismus der wachsenden Vernunft, der moralischen Besserung, des Fortschritts also. Dieser Aberglaube führt zu Enttäuschungen, notgedrungen, wie jeder Aberglaube. Es
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heisst nämlich, das immanent Gute degradieren, wenn man an seinen selbstverständlichen, automatischen, integralen Sieg glaubt. Automatisch kommen nur die Sünde und das Uebel. - Ich setze bei all dem voraus, dass Sie bereits wissen, in meinem Sinne sei das Gute gleich dem Vernünftigen. - Indem wir also die irdische Vernunft, die uns gegeben ist, nicht als ein Teil nur der unbegrenzten göttlichen begreifen und an ihren Automatismus gleichsam glauben, verringern wir sie und verringern die Chancen ihres Siegs. Erlauben Sie mir eine billige, eine Allerweltsweisheit: Wer seine Kräfte überschätzt, verliert sicherlich.
Dies ist leider der Fall, seit nunmehr fast zweihundert Jahren. Seit fast zweihundert Jahren kursieren die Ausdrücke und Wendungen: die Welt geht vorwärts, unaufhaltsam! Oder: in unsern Tagen ist so was nicht möglich! - Oder: Religion ist Opium für das Volk! Oder: Die Massen werden immer aufgeklärter! Oder: Der freie Mensch der Neuzeit! Oder: In unserm Zeitalter der Technik! Oder: Der völkerverbindende Sport! Eine noch so sinnlos scheinende scholastische Formel aus dem Mittelalter hat mehr Wert als alle diese Phrasen. In unsern Tagen ist so was nicht möglich? - Wir sehen, dass in unsern Tagen Alles, aber auch Alles möglich ist. Bildung ist Macht? - Wir sehen vielmehr, dass die Macht in den Händen der Unbildung liegt. - Religion ist Opium für das Volk? - Wir sehen, dass Aufklärung Opium für das Volk sein kann. - Werden die Massen immer aufgeklärter? - Verbindet der Sport die Völker? - Er verbindet höchstens die Manager und Unternehmer der internationalen Sportveranstaltungen. Den wahren Ausbruch niedrigster nationaler Leidenschaften können Sie nirgends in dem Masse erleben wie eben bei jenen Matches, von denen es heisst, sie verbänden die Völker inniglich.
Leider verbinden die Flugzeuge und die Radioapparate - die neuesten Errungenschaften der Technik - die Völker ebensowenig wie der Sport. Sie stellen höchstens geschäftliche Beziehungen her zwischen den Fluggesellschaften und den Fabrikanten der Radioapparate. Ich spreche dabei noch gar nicht von den Kriegsflugzeugen, wohl verständlich! Man könnte ebenso gut von dem patenten völkerverbindenden Mittel der sogenannten Flieger-Angriffs- und Verfinsterungs-Proben sprechen, die heute in allen Städten der zivilisierten Welt stattfinden.
Halten Sie mich, bitte, weder für einen törichten Feind der Technik, noch einen des Sports, noch für einen stupiden Gegner der sogenannten Zivilisation! Es handelt sich mir nur um den Versuch, die gebotenen und natürlichen Masse wieder herzustellen und die natürliche Hierarchie der Werte. Ich möchte versuchen, Ihnen
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nachzuweisen, dass der Aberglaube an den Fortschritt gewissermassen mit jedem Augenblick, mit dem er seine Kraft schwinden sah und seinen Inhalt, sich an die nichtigsten und oberflächlichsten Vorwände zu klammern begann, an die äusserste Peripherie der Vernunft, an ihre oberflächlichsten und zufälligsten Erzeugnisse: nämlich an die sogenannten Erfindungen. Wollte man in einer paradoxalen Weise denken, man könnte formulieren: in dem Masse, in dem die Gedanken in Europa abgenommen haben, haben die Erfindungen zugenommen. Das Erfinden hat geradezu den Platz des Denkens eingenommen. Und die Ehren, die vorher dem Denken vorbehalten waren, haben wir dem Erfinden eingeräumt; und nicht nur dem Erfinden, sondern dem Erfundenen; und nicht nur dem Erfundenen, sondern dem Nutzniesser des Erfundenen. So ist zum Beispiel Zeppelin berühmter als Montgolfier; wer kennt Laplace? wer kennt den armen Oesterreicher König, den ersten Erfinder des Aeroplans? sogar Blériot hat man vergessen! - Wer aber, meine Damen und Herren, kennt nicht den Ozeanflieger Lindbergh? - Erlauben Sie mir eine kleine Abweichung ins Politische: wie wenige wissen, dass der Erfinder des fascio, also des Fascismus, der Dichter d'Annuncio war, und wie viele sind überzeugt, dass es Mussolini ist? - Ich mache diese Abweichung nur, weil ich Ihnen zeigen möchte, in welchem Masse die Ueberschätzung des rein erfinderischen Genies - Edisons und Marconis zum Beispiel - zu der würdelosen Popularität ihrer Nutzniesser führt. Es ist auch gar nicht anders möglich, sobald die Weihe des Gedankens und des Denkens zugesprochen wird der Zufälligkeit des Erfindens. Wer weiss noch was von
Lumière, dem Erfinder des Kinematographen? Und wer kennt nicht Tom Mix und Lia de Putti und wie sie alle heissen mögen, die ‘Helden der Leinwand’, die wahren Leinwandhelden? Die Erfinder erleiden ein schmählicheres Schicksal als die Denker. Ich bedaure es, ich beklage es nicht, einfach deshalb, weil alle Erfindungen, eingeschlossen jene, die wahrscheinlich noch kommen werden, uns nicht einen Schritt höher bringen werden; im besten Fall zehntausend Schritte weiter.
Aber die Probleme der Menschheit sind, gewissermassen, nicht horizontale, sondern vertikale. Deshalb sind auch die heutzutage üblichen politischen Begriffe: Rechts oder Links so bedeutungslos und so schnell abgenutzt. Der Begriff: ‘Fortschritt’ allein setzt bereits die Horizontale voraus. Er bedeutet ein Weiterkommen und kein Höherkommen. Dies allein aber, das Höherkommen, wäre würdig eines Versuchs, die Menschheit, wenn es überhaupt möglich ist, zu erziehen. Je schneller Sie in horizontaler Richtung weiterkommen, desto schneller gelangen Sie auf dieser Erde,
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die bekanntlich eine Kugel ist, zu Ihrem Ausgangspunkt zurück. Die Erfindungen und technischen Vollendungen sind gewiss wichtig: aber nicht etwa als Triumphe und Krönungen der Macht menschlichen Geistes, sondern vielleicht als Voraussetzungen dafür, dass die Menschheit, zum Teil von der körperlichen Last durch die Mechanismen erlöst, einst die Möglichkeit findet, sich ihrer wahren Würde zu überlassen: nicht dem Weiterschritt, nicht dem Fortschritt, sondern dem Weg nach der Tiefe und nach der Höhe: dem Glauben also; dem Vertikalen und nicht dem Horizontalen.
Deshalb nannte ich den Glauben an den Fortschritt einen Aberglauben, weil er eben Götzen schafft. Er lenkt nicht nur vom Glauben an Gott ab, sondern er führt auch irre unser natürliches Verlangen nach der Vernunft, nach den wahren Resultaten der wirklichen Vernunft, meine ich. Wir sind zehntausend Meilen weiter, aber nicht einen Zentimeter höher gekommen durch irgendeine der Erfindungen - es sei denn in physischem Sinne höher durch den Aeroplan, wenn Sie wollen.
Ich scheue mich nicht, selbst auf die Gefahr hin, auf Widerspruch zu begegnen, die Erfindungen unseres gerühmten ‘Zeitalters der Technik’ mit den Kunststücken zu vergleichen, die wir gelegentlich verblüffender Weise von den Ihnen allen bekannten sogenannten Zauberern im Variété ausgeführt sehen. Und ebensowenig, wie einer von Ihnen imstande sein könnte, überzeugt von den Kunststücken, die allerdings verblüffend sind, zum überzeugten Anhänger der Magie zu werden, ebensoweinig, glaube ich, könnten Sie durch den allerdings verblüffenden Erfolg der technischen Erfindungen, überzeugte Anhänger des Glaubens werden, dass die menschliche Vernunft durch die Technik und den Fortschritt immer vollkommener werde. Ebensowenig, wie Sie imstande sind, aus der Tatsache, dass Ihnen der Zauberer im Variété eine soeben zersägte Jungfrau nach einer Weile wieder lebendig und ganz präsentiert, den Schluss ziehen können, dass der Zauberer mit übernatürlichen Mitteln arbeite - ebensowenig können Sie aus den Tatsachen des Radios, des Flugzeugs, des Fernsehens den Schluss ziehen, dass die menschliche Vernunft gewachsen sei. Um vernünftig zu sein, brauchen Sie nicht einmal den Pythagoräischen Lehrsatz zu begreifen. Ja, es gibt wahrscheinlich viele Weise unter Jenen, die ganz und gar unfähig sind, ihn irgend jemals zu begreifen. Es gibt sehr viele Vernünftige unter jenen naieven Menschen, die noch glauben, die Erde sei eine Scheibe. Und es gibt unzählige Dummköpfe unter jenen, die beweisen können, dass die Erde eine Kugel ist.
Wit hätten nicht so viele und so schwere Enttäuschungen erlebt,
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wenn wir nicht die Erfindung für den Gedanken genommen hätten; nicht das mehr oder weniger zufällige Ergebnis für das schicksalshafte; nicht den Zauber für wirkliche Magie; nicht den Fortschritt für einen Hochschritt, für einen Höherschritt; nicht die Ergebnisse exakter Wissenschaft für ein Zeichen des Wachstums der menschlichen Natur; nicht das horizontale, ausgedehnte, verbreiterte Wissen für ein Zeichen waschsender Moral. Ich wage mich bis zu der Formulierung vor, von der ich fürchte, sie wird wie eine Lästerung klingen: man kann das Radio erfunden haben, das Kino, - und dennoch ein Schuft sein. Die wirklich Heiligen aber, ich meine nicht nur die kirchlichen, sondern auch die profanen Heiligen, haben gar nichts ‘erfunden’, sie haben für den sogenannten Fortschritt nicht das Geringste getan: sie haben gar nichts anderes getan, als was seit zweitausend Jahren das sittliche Gebot der Welt ist, nämlich: liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst! Es ist die simpelste aller Wahrheiten. Es ist die grösste aller Weisheiten! Alle anderen sind lächerlich, sie sind nicht nur lächerlich, sondern auch lästerlich. Es ist, als wären alle Fortschritte der Menschheit entstanden nach lästerlichen Grundsätzen, wie etwa: ‘Fliege höher, oder schneller, als Dein Nächster!’ - ‘Uebertriff Deinen Nächsten!’ - ‘Besiege Deinen Nächsten!’ - Ja, sogar, nach dem mörderischen Grundsatz: ‘Vernichte Deinen Nächsten!’
Das ist der Moment, in dem der sogenannte Fortschritt ausartet zum sogenannten ‘Rekord’. Hier schliessen Sport und Erfindung die Ehe, die wir längst vorausgesehen haben. Der törichte Muskel bemächtigt sich der immerhin noch geistigen Zufälligkeit. Der fliegt vierzehn Stunden, zwanzig Minuten, fünfundfünfzig Sekunden über den Ozean - und Jener zwanzig Sekunden weniger. Triumph! Triumph! Wer zweifelt noch am Fortschritt? Siehe da! es ist mehr als ein Fortschritt: es ist ein Fortflug geworden! Ist die Welt nicht herrlich? Ist das nicht die beste aller Welten? Kann eine Welt, in der man 20 Sekunden weniger braucht, um über den grossen Ozean zu fliegen, noch wirklich böse sein? Sind wit nicht alle Brüder, schon einfach deshalb, weil wir einander so ungeheuer schnell erreichen können? Wir sind deshalb noch keine Brüder, weil wir einander schneller erreichen oder übertreffen. Wie lieben einander deshalb noch lange nicht, weil wir einander aus ungeahnter Ferne sehen und hören können! Wier hassen einander vielmehr abgründig. Wir hassen einander, weil unser Schiff das blaue Band hat und nicht das Eurige; wir hassen einander, weil Eure Aeroplane besser sind als die unsern; wir hassen einander, weil Ihr mit Eurem stärkeren Lautsprecher unsere Sendungen unbedeutend macht; wir hassen einander, weil
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unsere Fussballmannschaft im letzten Wettkampf 2 zu 1 war, im Verhältnis zur Eurigen. Wir hassen einander, weil wir Euch überlegen sein wollen: im Fussball, im Boxsport, im Fliegen, im Segeln, mit dem blauen Band, mit dem violetten Band, mit dem carmoisinroten Band - was weiss ich, mit welchen Bändern noch! Der Hass verfügt über alle Farben.
Gewiss ist der technische Fortschritt der menschlichen Vernunft zu verdanken. Aber ihn glatterdings an die Stelle der menschlichen Vernunft zu setzen, beziehungsweise, zu glauben, er sei, weil das sichtbarste, so auch das einzige oder das vorzüglichste Produkt der menschlichen Vernunft, ist ein Wahnsinn oder ein Verbrechen. Zumindest ist es ein Hochmut. Und welch ein Hochmut! Es ist gleichsam ein Hochmut, der die schnelle Rache in sich selber trägt. Ein Hochmut, der sich selber rächt.
Ich hoffe, Sie überzeugt haben zu können, dass wir: erstens: unrecht daran getan haben, den sogenannten sichtbaren Insignien - ich möchte sie keineswegs Beweise nennen - der menschlichen Vernunft den Vorzug zuzugestehen, den nur Beweise verdienen; ich hoffe ferner, Ihnen dargelegt zu haben, dass die sogenannten technischen Errungenschaften noch keineswegs einen Triumph der menschlichen Vernunft bedeuten, sondern im besten Fall, im allerbesten, eine Voraussetzung dafür bieten, dass der Mensch zum richtigen Gebrauch seiner Vernunft gelange, indem er durch Hilfe dieser technischen Errungenschaften Zeit gewinnt seine Vernunft zu nützen.
Ich hoffe, drittens, Ihnen dargelegt zu haben, dass der sogenannte Fortschritt, weit entfernt davon, ein unmittelbares Zeugnis für das Wachstum menschlicher Vernunft abgeben zu können, vielmehr gelegentlich sogar einen Rückschritt der menschlichen Vernunft bedeuten kann.
Es ist Ihr Recht - und selbst Ihre Pflicht - mich nunmehr zu fragen, auf welche Weise denn unser göttliches Erbteil - unsere irdische Vernunft, ein Teil der göttlichen - wie anfangs gesagt - wir am besten zu verwalten hätten. Erlauben Sie mir, Ihnen mit Thomas von Aquino zu antworten:
‘Die Vernunft ist eine für das menschliche Leben höchst notwendige Tugend. Das gute Leben besteht nämlich im guten Wirken. Dazu, dass Einer gut wirkt, wird nicht nur das Was erfordert, sondern auch, wie er es macht .... Aller menschlichen Werke erste Quelle ist die Vernunft. Besonders aber für die Werke der Liebe’.
Es ist, wie wir wissen, ein immanent Gutes im Menschen vor- | |
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handen. Es ist, wie wir ferner gesehen haben, nicht möglich, dass dieses Gute ausgeführt werde ohne Vernunft, ... geschweige denn auf eine unvernünftige Weise. Auf eine törichte Weise ausgeübt, gewinnt das Gute nicht nur den Aspekt, sondern auch die Konsequenz des Bösen. Es ist also notgedrungen das Vernünftige ein Bestandteil des immanent Guten in uns - ebenso wie das Törichte und Blöde ein Bestandteil des immanent Bösen in uns ist. - Ich zitiere noch einmal:
‘Für alle menschlichen Werke ist die erste Ursache die Vernunft; besonders für die Werke der Liebe’.
Besonders für die Werke der Liebe, und keineswegs für die Werke des Fortschritts. Es heisst: ‘Wer das Wissen mehrt, mehrt auch den Schmerz.’ Es gibt nicht nur kein Wissen ohne Schmerz, es gibt ohne Schmerz auch keine Einsicht und keine Vernunft. In einem alten chinesischen Märchen wird erzählt, wie ein Blinder, der durch ein Wunder plötzlich sehend geworden ist, bei dem Anblick einer Lotosblume in Tränen ausbricht; und, da man ihn fragt, ob ihn die Blume so enttäuscht habe, sagt er: ‘Keineswegs! sie ist vollkommener, als ich sie mir vorgestellt hatte während meiner Blindheit; aber, dass man die Wahrheit wirklich sehen kan .. Das macht mich weinen!’
Ich will Sie nicht durch Allegorien zu trösten versuchen! Insbesondere deshalb nicht, weil ich die stille Empfindung habe, ich sagte nur wenig Neues; und Sie selbst hätten längst, belehrt durch die jüngsten Vorgänge in der Welt und von dem immer eklatanter werdenden Gegensatz überzeugt, der zwischen den zunehmenden Fortschritten und den noch auffälliger abnehmenden Tugenden der Menschheit besteht, längst den Glauben, den Aberglauben an den Fortschritt aufgegeben. Zumindest fällt es Ihnen wahrscheinlich schwer, im Dneprostroj der Sowjetunion, in den grossartigen Strassenbauten des Dritten Deutschen Reiches oder in der Errichtung der Marconi-Apparate in Abessinien irgendeine Spur von Höherzüchtung der menschlichen Seele zu erblicken. Ich fürchte aber - und ich habe es an mir selbst erfahren - dass das Gesetz der Trägheit auch für die Phrase und die Wendung gilt, deren Bewegung längst abgelaufen ist. Dreiste Phrasen, wie: ‘Die Menschheit schreitet dennoch vorwärts’, und ähnliche, tönen, eben dank dem schnöden Gesetz der Trägheit, auch in den betrübten Herzen der Skeptiker und Pessimisten fort... der metaphysisch Gläubigen und der metaphysisch Ungläubigen. Was Wunder? - Die Hoffnung ist die Häuptlingsschwester der Sirenen. - Was Wunder? - Wir sind Menschen und blind verliebt in unser eigenes Geschlecht.
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Ich wollte Sie nicht durch Allegorien zu trösten versuchen. Obwohl ich mir nicht einbilde, Ihnen durch das heute Gesagte allzuviel Illusionen genommen zu haben - eine so hoge Gnade ist mir nicht zuteil (Denn es ist ein Verdienst - und es gehört Gnade dazu - Illusionen zu nehmen.) hoffe ich immerhin, dass Sie mit mir übereinstimmen, wenigstens teilweise übereinstimmen. Wenn Sie mir wohlwollend bis daher gefolgt sind, bitte ich Sie im die Freiheit, einige Axiome äussern zu dürfen:
Setzen wir an die Stelle des Aberglaubens an den Fortschritt den Glauben an das immanent Gute im Menschen;
Versuchen wir durch den festen Glauben an das immanent Gute im Menschen die Macht und die Stimme des immanent Bösen, das ebenfalls in ihm vorhanden ist, zu übertönen;
Lassen wir uns weder durch einen eitlen und törichten Optimismus verirren, noch durch einen bösen, wenn auch weniger törichten, so doch gleich eitlen Skeptizismus verwirren;
Versuchen wir, das Gute zu glauben, das Böse misstrauisch zu beobachten;
Stellen wir, vor Allem, die Vernunft in den Dienst dessen, wozu sie uns gegeben ist: nämlich in den Dienst der Liebe.
Vergessen wir dabei niemals, dass sie begrenzt ist, diese unsere Vernunft;
Sehen wir ihre Abfallsprodukte, die Erfindungen, nicht als ihre Triumphe an;
Versuchen wir, nicht der Tyrannei des unbarmherzigsten aller Diktatoren zu erliegen, nämlich der Tyrannei des Fortschritts. Mögen Jene, die areligiös sind oder gar unglaübig, wenigstens ein Bruchteil der Skepsis gegen ihre eigene Urteilskraft und den Fortschritt aufzubringen versuchen, der Skepsis, die sie gegen Glauben und Religion aufbringen können.
Und mögen Alle es nicht als eine Art Demonstration, sondern als eine ehrliche innerliche Notwendigkeit ansehen, wenn ich mit einem frommen Wort schliesse:
In Tuo lumine lumen: In Deinem Lichte sehen wir das Licht.
(Ch. Roelofsz.)
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(Lambert Simon)
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