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Der Stern von Lokarno und der Stern von Bethlehem
Der eine stand über einem Hotel, der andere über einem Stall. Der eine beleuchtete üppige Tafeln, Komfort und weltliche Klugheit, der andere äusserste Dürftigkeit, Niedrigkeit und Einfalt. Beim Frieden von Bethlehem war die Welt nicht zugegen, Engel sangen, weltfremde Hirten beteten, und es dauerte Jahrzehnte und Jahrhunderte, bis das Ereignis der grossen Welt bekannt wurde. Beim Frieden von Lokarno war die Welt mit tausend Fern- und Lautsprechern eingeschaltet, in wenigen Minuten wusste alle Welt, was geschehen war, aber die wenigsten beteten, die meisten redeten klug, begossen die Sache oder schimpften darüber.
Haben Bethlehem und Lokarno irgendetwas miteinander zu tun?
Beide wollen den Grund legen zu einem Frieden. Ist es der gleiche Friede? Gans gewiss gehört alles zum Programm von Bethlehem, was irgend wie zum wahren Frieden gehört. Wenn irgendwo die Menschen sich vertragen, sei es dass sie einen Vertrag zur Beendigung einer Feindschaft schliessen, sei es dass sie nie entzweit gewesen sind, so ist das Geist vom Geiste Christi. Christus ist nicht gekommen, das Alte, die Natur, das Reinmenschliche, das natürlich Gute aufzulösen, sondern zu erfüllen. Er segnet den heidnischen Samariter um seiner natürlichen Güte willen, er weint uber das jüdische Jerusalem, weil es nicht erkennen will, was ihm zum Frieden dient - er meint den Gottesfrieden, aber auch den politischen, denn die Weissagung, die er an seine schluchzende Klage knüpft, bezieht sich auf die Zerstörung dieses politischen Friedens, auf die greuelvolle kriegerische Einnahme Jerusalems durch die Römer.
Und so segnet Jesus jeden Minister bis in die fernsten Zeiten, der mit den Gegnern seines Volkes einen wahren Frieden schliesst. Das der Friede von Lokarno ein solcher sei, ist gewiss. Es ist ein erster ruhig leuchtender Stern in der politischen Finsternis der Nachkriegszeit. Bis dahin war alles auf das ‘Recht’ des Stärkeren gestellt, auf die Macht des Säbels; die eine Seite diktierte d.h. kommandierte, und die andere hatte, ohne zu einer gleichberechtigten Widerrede zugelassen zu werden, zu gehorchen. Vielleicht ist diese Methode nicht um der schönen Augen der Deutschen willen in Lokarno verlassen worden, vielleicht hat aber ein menschliches Rühren doch mitgespielt, wie es ja überhaupt lächerlich und sehr überheblich wäre, alle Gegner Deutschlands, mit Einschluss der massgebenden Regierungsmänner, für übelwollende Menschen und Sadisten zu halten. Aber richtig ist
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schon, dass in Lokarno nicht der Idealismus die treibende Macht war, sondern der Utilitarismus. Auf diesen eben haben sich die führenden Pazifisten stets als Grund für die Richtigkeit ihrer Anschauung und ihres Zukunftsglaubens berufen. Alfred Fried ging so weit, den Pazifismus im Grunde nur als ‘ein Problem der geistigen Optik’ zu erklären. ‘Wir haben eben nichts zu erschaffen, schrieb er, wir haben die Welt nicht zu organisieren. Lediglich die Erkenntnis dafür wachzurufen, dass sich die Welt organisiert, ist unsere Aufgabe ... Unsere Aufgabe besteht demnach in erster Linie nur darin, das Schvermögen unserer Zeitgenossen zu schärfen. Sie sollen den Gang der Entwicklung kennen lernen, damit sie ihre Handlungen danach einrichten.’ Inzwischen haben immer mehr Menschen sehen gelernt, und das Lächeln der Bellizisten über die Utopieen der Pazifisten gleitet immer mehr auf die Gesichter der Pazifisten. Also nicht weil die Menschen besser wurden, sondern weil sie einsehen mussten, dass nicht der Friede, die Verständigung, wohl aber der Krieg und die militaristische Verhandlungsmethode zur Erreichung menschenwürdiger Verhältnisse zur Utopie geworden sei, kam der Friede von Lokarno als ein grosser Teilsieg der pazifistischen Idee zustande.
Weil aber die pazifistische Idee als vernünftige Idee auch eine sittliche ist, liegt Lokarno trotz aller Nützlichkeitspolitik nicht ausserhalb der Gotteswelt. Weder negativ noch positiv. Nicht negativ, weil alles, was geschieht, irgendwie unter die Weltregierung Gottes fällt. Und das politische Geschehen mit seinen volklichen und staatlichen Entwicklungen, das politische Geschehen als Folgeerscheinung der freien persönlichen Selbstbestimmung, als Ausschlag menschlicher Leidenschaften, spielt auf seinem Schachbrett eine besonders grosse Rolle. Lokarno wäre ein Knotenpunkt im Weltgewebe Gottes auch dann, wenn nur böse Mächte es heraufgeführt haben und nur böse Mächte es in ihren Dienst stellen sollten. Aber ein solcher Pessimismus ist ungehörig. Nicht nur negativ, auch positiv gehört dieser Pakt in die Gotteswelt. Wenn fünf Staaten sich verpflichten, gegeneinander wenigstens keinen Angriffskrieg zu führen, so ist das ein Stück natürlicher Sittlichkeit. Und abgesehen von dem materiellen Inhalt des Paktes zeigt seine Tendenz eine aufsteigende Linie, Loslösung vom politischen Individualismus, Niederlegung des Trennenden, wozu nicht in letzter Linie der überspannte hochmütige Souveränitätsgedanke gehört, Besinnung auf das Gemeinsame, das alle Staaten, insbesondere Nachbarstaaten, miteinander verbindet, sind Dinge, die zweifellos einen Fortschritt auch im Sittlichen darstellen. Dazu kommt ein Weiteres. Die Einsprüche von den nationalistischen Flügeln aller Länder gegen Lokarno
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beweisen, dass alle Länder in diesem Pakt nicht die letztmöglichen nationalen Interessen durchgesetzt, dass also alle um des Friedens willen Opfer gebracht haben, wenn auch teilweise nur Opfer an Aspirationen. Man denkt an einen Verständigungsfrieden der Bibel. ‘Und das Land konnte sie nicht fassen, dass sie hätten beisammen wohnen können, denn ihre Habe war gross, und sie konnten nicht beieinander wohnen. Daher entstand auch Streit zwischen den Hirten der Herden Abrams und Lots ... Deshalb sprach Abram zu Lot: Möge doch nicht Streit sein zwischen mir und dir, und zwischen meinen und deinen Hirten; sind wir doch Brüder. Siehe, das ganze Land steht dir offen, trenne dich, ich bitte dich, von mir: gehst du zur Linken, so werde ich zur Rechten bleiben; wollst du aber die Gegend zur Rechten wählen, so wende ich mich zur Linken’ (Gen. 13, 6-9). Die grosse Geste Abrams, die Wahlfreiheit gab, hatte keiner der Männer von Lokarno. Aber es war doch ein gegenseitiges Verzichten auf Länderstücke zur Rechten und zur Linken, auf die nationalistischer Geist, weil bar jedes Verständnisses für den Wert solcher Opfer, nie verzichtet hätte.
Um dieser Opfer willen möchte man fast sagen, der Friede von Lokarno gehöre sogar zur Welt Christi. Allein dazu fehlt doch noch zu viel. Es führt ein Weg von Lokarno und Genf nach Bethlehem und Golgatha, jedoch der Weg ist weit. Der heiligmässige Bischof Aurelius Bacciarini von Lugano, zu dessen Sprengel Lokarno gehört, hat das Ideal und die Kraft des Friedens Christi an die Verhandlungen der Staatsmänner herangetragen, indem er von diesem Frieden sprach und durch Gebet und Opfer die politischen Bemühungen zu befruchten suchte, aber die Staatsmänner ihrerseits haben, wenigstens offiziell, die Berührung mit dem Reiche Christi vermieden. Die Zeiten, wo eins vom anderen sich durchdringen liess, die politischen Friedensbestrebungen von den religiösen und die religiösen von den politischen, wo man eines im Namen des anderen forderte, sind versunken. Beide Teile haben sich auf sich zurückgezogen. Die Politiker verkapseln sich in ihre rein politischen Interessen und die Christen in ihre rein religösen. Auf jeder Seite herrscht Misstrauen gegen die andere, jeder sagt der anderen: du störst mich. du trübst meine Welt; bleibe mir fern mit der Religion, sagt der politische Mensch, bleibe mir fern mit der Politik, der religiöse. Mögen die Politiker in ihrer Isolierung verharren - wir Jünger Christi müssen den Graben überschreiten! Wenn die Köninge nicht mehr mit uns Hirten, den einfachen Glaübigen, nach Bethlehem wollen, dann lasst uns Hirten zu den Königen gehen! Wir müssen wieder etwas von dem Erobererwillen unserer Besten uns aneignen, die mit der Kraft des Evangeliums vor Fürsten und Könige hintraten,
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um dem Geiste Christi und seines Reiches Geltung zu verschaffen. Es war nicht selten eine unmittelbar staatliche Angelegenheit, in die sie eingriffen, im übrigen aber wirkten sie durch ihren Glauben mittelbar auf die Gestaltung der politischen Dinge. Die Regierung muss sich immer nach dem Volkswillen richten. Ist dieser Wille ein tiefer, starker Friedenswille, dann kann, zumal heutigen Tags, keine Regierung Kriegspolitik treiben. Man kann leider nicht behaupten, dass die Christenheit als Ganzes das Friedensideal in Vergangenheit und Gegenwart so hochgehalten hätte wie ihre Religion es vorschrieb, und, wenn eine Friedenssehnsucht da war und da ist, dass dann diese Sehnsucht zu dem Willen und der Tatkraft sich verdichtet hätten, die nötig sind, um in den Lauf der Dinge richtunggebend einzugreifen. Die Klagen über die religiöse Indifferenz des Völkerbundes mögen berechtigt sein - aber warum hat die religiöse, die christliche, die katholische Welt nicht selbst einen Völkerbund, einen besseren als den gegenwärtigen, geschaffen, warum geht nich von ihr die Initiative, die Organisation und Zielsetzung aus? Warum hat sich die Christenheit das Heft aus der Hand nehmen lassen, warum hat der Unglaube dem Völkerleben seinen Stempel aufgedrückt und nicht der Glaube? Das sind Fragen, die uns in unserer Kritik bescheiden machen können.
Dann aber müssen sie uns aufrütteln, das Versäumte nachzuholen und wenigstens bei der Ausgestaltung und Verbesserung des Weltfriedenswerkes mitzuwirken. Vielleicht gilt auch hier: gratia supponit naturam, die Gnade, die Uebernatur, setzt die Natur, setzt natürliche Anknüpfungspunkte, voraus, um dann das Natürliche zu vollenden. Jedenfalls ist es für die Beteiligung der Katholiken an der weltpolitischen Neuordnung noch nicht zu spät. Ueber das Thema ‘Die Katholiken und der Völkerbund’ hat der bisherige Rektor der Universität Freiburg (Schweiz) P. de Munnynk O.P. kürzlich in der Aula der Warschauer Universität einen bedeutsamen Vortrag gehalten. Er hob alles hervor, was die Katholiken an dem Genfer Parlament auszusetzen haben: die wenig religiös motivierte Ideologie des Bundes, die starken freimaurerischen und kalvinischen Einflüsse, das Vorherrschen der Juden in der Organisation. Aber er vergass auch nicht, die vielfach allzu absprechende Kritik in ihre Schranken zu verweisen und die sehr erheblichen positiven Leistungen darzulegen, die in Genf zur Sicherung des Weltfriedens und der Ausbildung des Völkerrechts bisher vollbracht wurden. Und eindringlich rief er dann die Katholiken auf, aus ihrer misstrauischen Reserve herauszutreten. ‘Für die Katholiken sei es einfach eine logische Konsequenz der von ihnen anerkannten übernatürlichen Solidarität aller Menschen, hierbei mitzutun.’ (vgl. ‘Germania’, 3 Nov. 1925).
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Nie liegen uns solche Gedanken näher als in der Weihnachtszeit. Jeder Christ, dem die Weihnachtsbotschaft ‘Friede den Menschen auf Erden’ ein teures Vermächtnis ist, muss sich innig freuen über jeden Fortschritt, den der Friedensgedanke im Leben der Völker macht. Genf und Lokarno können Stationen werden auf dem Wege zum Frieden Christi im Reiche Christi. Nur ist es dann nötig, dass die ‘Seinen’ die Abstinenz und Indolenz, die sie der Weltbefriedung gegenüber vielfach geübt haben, aufgeben; dass die Kinder des Lichtes von Bethlehem sich von denen des Lichtes von Genf und Lokarno nicht übertreffen lassen, damit es nicht abermals heisst: ‘Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen, er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf.’ Viel, sehr viel müssen die Männer, die in Lokarno an reich gedeckten Tischen sassen, von denen lernen, die in Bethlehem an der Krippe knieten, aber viel, sehr viel müssen auch zahlreiche fromme Nachfahren der beschaulichen bethlemitischen Hirten von den Männern der Tat lernen, die in ratsloser Arbeit die Geschicke der Völker zu gestalten suchen. Am Himmel des Vaters der Völker gibt es viele Sterne. Der Stern von Bethlehem und der Stern von Lokarno müssen sich finden!
P. FRANZISKUS STRATMANN O.P.
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JAN F. CANTRÉ DE STER (houtsnede)
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JAN F. CANTRÉ WINTER (houtsnede)
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