Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden. Deel 117
(2002)– [tijdschrift] Bijdragen en Mededeelingen van het Historisch Genootschap– Auteursrechtelijk beschermd
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Der geeichte Eichpunkt - niederländische Kultur um 1650 europäisch kontextualisiert: ‘Bevochten eendracht’ von Willem Frijhoff und Marijke Spies
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I Historiographische Ortsbestimmung - niederländische Kulturgeschichte im europäischen KontextDie IJkpunten-Serie hat sich zum Ziel gesetzt, ‘Nederlandse cultuur in Europese context’ zu schreiben. Für das im ersten Band behandelte 17. Jahrhundert bedeutet das konkret, die von Johan Huizinga und Simon Schama brillant vertretene endogene Gewichtung der niederländischen Kulturblüte aufzubrechen zugunsten einer europäischen Kontextualisierung (67). Diese Akzentverschiebung in den Untersuchungsund Darstellungsprämissen hängt zweifellos mit einer Veränderung in der Zeitlage zusammen. Vor hundert, wahrscheinlich aber auch noch vor fünfzig Jahren hätte das | |
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NWO-Forschungsteam einen anderen Ansatz gewählt. Damals schrieb man Nationalgeschichte, für die Europa nicht als erklärender und bestimmender Kontext galt, sondern allenfalls zur Folie oder zum Hintergrund diente, vor denen sich die autochthone, eigengeprägte Kultur der einzelnen Nationen abhob. Eine wiederum andere Alternative wäre - zumindest in Deutschland, vielleicht aber auch in den Niederlanden - in den 1960er und 1970er Jahren favorisiert worden, nämlich der struktur- und entwicklungsgeschichtliche Essay, der ohne weitere Beachtung der spezifischen Kultur einzelner europäischer Länder oder Nationen die übergreifenden Prozesse und Strukturen der europäischen Neuzeit und deren Entwicklung hin zur modernen Welt der damaligen Gegenwart skizziert hätte. Das primäre Interesse der damals herrschenden Struktur- und Gesellschaftsgeschichte galt den alteuropäischen oder den modernen Gesellschaftssystemen, während die einzelnen Nationalgeschichten den Politik- und Ereignishistorikern überlassen wurden, die als traditionell, wenn nicht antiquiert galten. Wo man noch die Geschichte nationaler Kulturen erforschte, behandelte man sie als konkrete Explikationen der übergreifenden europäischen Kultur oder Zivilisation. So etwa - um die Pfeile der heutigen Kritik zuerst auf die eigene Brust zu lenken - in meinen Untersuchungen zur Gesellschaft und zur konfessionellen Kultur der Nordniederländischen Republik im Lichte der Modernisierungstheorie.Ga naar voetnoot1 ‘Europese cultuur gezien door specifiek Nederlandse ogen’ - so oder ähnlich hätte in dieser Perspektive der Titel des IJkpunten-Programms in den 1970er Jahren wohl gelautet. Wie die von Jacques Le Goff dirigierte, mehrsprachig verlegte Reihe ‘Europa bauen’ beweist, lässt sich ein solches Konzept auch heute noch mit Gewinn verfolgen.Ga naar voetnoot2 Gleichwohl haben die Umbrüche der späten 1980er und der 1990er Jahre vor allem in Ost-, aber auch in Mittel- und Westeuropa die historisch-politische Kultur und damit zugleich die Orientierungsmarken der gegenwartsbewussten Historiographic verändert. Denn es konnte auch dort nicht ohne Folgen für das historische Bewusstsein bleiben, wenn Ostmittel- und Osteuropa eine wahre Renaissance von zuvor durch supranationale Strukturen erdrückten Nationen und nationalen Kulturen erlebte: ‘Jedesmal, wenn wir uns wiedersehen, können wir Vertreter von zwei, drei neuen Nationen begrüssen’ - freute sich 1996 in Budapest die englische Stadthistorikerin Penelope Corfield zu Beginn ihrer Eröffnungsrede zu der alle zwei Jahre stattfindenden ‘International Conference on Urban History’, ausgerichtet von der ‘European Association of Urban Historians’. Diese in den 1990er Jahren fast alltäglich erlebbare Erfahrung musste das historiographische Koordinatensystem in eine Richtung verschieben, die gleichsam wieder mehr den alteuropäischen Wurzeln des modernen | |
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Europa Rechnung trug, als den abstrakten sozialwissenschaftlichen Modellen einer einheitlichen, sich globalisierenden Welt der Moderne. Zugleich damit - dies sei nur en passant erwähnt - öffnete sich eine bis heute nicht überwundene Diskrepanz zwischen dem veränderten historischen Bewusstsein, dass die gerade für Europa konstitutive historische Differenziertheit der Kultur wieder zu ihrem Recht verhalf, einerseits und einer immer rascher voranschreitenden Globalisierung andererseits, die eben jene historische Vielfalt wo nicht negiert, so doch als entwicklungsstörend ins Unrecht zu setzen versucht. Diese Globalisierung wurde von den genannten Ereignissen im Osten keineswegs gebremst, sondern erhielt dadurch eine zusätzliche Dynamisierung, die sich in Ost- und Ostmitteleuropa noch weit weniger als anderwärts mit der neuen historischen Sensibilität vermitteln lässt. Diese Diskrepanz ist auch dafür verantwortlich, dass heute anders als in den achtziger und neunziger Jahren Historiker und historische Erklärungsangebote bei Politikern kaum gefragt sind. Und auch die uns alle alarmierenden, kaum noch kontrollierbaren Erfolge, die die un- und vorwissenschaftlichen nationalen Deutungs- und Lösungsmuster der national-radikalen Rechten in so vielen Ländern Europas augenblicklich verzeichnen, hängt mit diesem Widerspruch zusammen. Einzudämmen ist diese Flut nur durch eine wissenschaftlich-rationale Geschichtsschreibung, die einen auch und gerade im Angesicht der Globalisierung gangbaren Weg von der Vergangenheit beziehungsweise den Vergangenheiten der einzelnen Völker und Kulturen in eine gemeinsame europäische Zukunft weist - eine Geschichtsdarstellung, wie sie mit den IJkpunt-Bänden jetzt für die Niederlande vorliegt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts billigen die Historiker den einzelnen Staaten und Nationen, ihren Politik- oder Kulturgeschichten wieder einen eigenständigen Wert zu, ohne allerdings die übergreifenden Strukturen und Prozesse, in die sie eingebunden und deren Teil sie waren, aus dem Auge zu verlieren. Das trägt dem in den Umbrüchen der 1990er Jahre neubelebten Wissen Rechnung, dass im Vergleich zu anderen Kontinenten und Kulturen es gerade die politische, kulturelle und mentalitätsmässige Gliederung Europas in unterschiedliche Staaten und Völker war und ist, die Europa zu Europa machte. Diese Vielfalt des Kontinents war bereits in den nationes der mittelalterlichen universitas christianorum angelegt. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert trat sie immer deutlicher zutage und bestimmte seit Mitte des 17. Jahrhunderts das Profil Europas - also von dem Moment an, der zum ersten Eichpunkt ausgewählt wurde. Historiographisch gesehen ist somit der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft eine komplementäre Aufgabe gestellt, nämlich sowohl europäische als auch moderne Nationalgeschichten zu schreiben, und zwar beides in enger Verschränkung und Bezogenheit: die Geschichte Europas muss die Pluralität der nationalen Kulturen und Staaten samt dem daraus resultierenden Konzert der Mächte als ein wesentliches Strukturmerkmal des neuzeitlichen Europa herausarbeiten, wie andererseits die Kulturoder Politikgeschichte der einzelnen Länder und Völker nicht mehr als isolierte Nationalgeschichte im Sinne des 19. Jahrhunderts geschrieben werden darf, sondern | |
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in der Perspektive gemeinsamer Haupt- oder Kardinallinien, die das überstaatliche Profil des neuzeitlichen Europa ausmachten und noch ausmachen. Und genau dies ist die Perspektive, in der die Kulturgeschichte der nördlichen Niederlande um 1650 im ersten Band der IJkpunt-Reihe geschrieben wurde. Vorbildlich ist in meinen Augen auch sein weites, integratives Verständnis von Kulturgeschichte. In der gegenwärtigen Methodendebatte werden, so jedenfalls in der deutschen Historiographie, Kultur- und Sozial- beziehungsweise Gesellschaftsgeschichte häufig als Gegensätze dargestellt, wobei nicht selten zusätzlich noch eine Dichotomie zwischen Makro- und Mikrogeschichte konstruiert wird. Auf solche Alternativen lassen sich die Autoren des 1650er IJkpunt-Bandes nicht ein. Sie operieren mit einem synthetischen oder kombinierten Ansatz, der wissenschaftlich sachgerecht und darstellerisch überzeugend kulturgeschichtliche Detailbeschreibung mit übergreifender Strukturanalyse verbindet. Komplementär zur detaillierten Entfaltung der Buntheit und Mannigfaltigkeit des niederländischen Alltags bestimmen sie präzise die demographischen, ökonomischen und religionssoziologischen Rahmenbedingungen des alteuropäischen Wirtschafts- und Gesellschaftstypus. Sie erfreuen den Leser durch sorgfältige Miniaturen oder Genrezeichnungen über einzelne Personen und konkrete Ereignisse, sie bieten ihm aber auch den für eine Einordnung und ein tieferes Verständnis dieser historischen Details unabdingbare Bezugsrahmen, das ‘big picture’ eines europäischen Gesellschafts- und Kulturprofils samt der daraus resultierenden Veränderungsdynamik. Besondere Erwähnung verdient schliesslich die Transparenz der Argumentation und der historischen Urteilsbildung, vor allem aber des historischen Erkenntnisprozesses selbst. Der Leser sieht sich immer wieder einbezogen in die Entscheidung der Autoren über Begriffe und Erklärungskonzepte, über die Auswahl von Themen und Sachzusammenhängen (etwa 52, 54 ,63 etc.). Kleine, gut rezipierbare Auszüge aus verbalen Quellen und Abbildungen zur zeitgenössischen Malerei oder Architektur geben dem Leser beziehungsweise Betrachter Gelegenheit, auch die Sprache, die Symbolik, die Denkbilder, Visionen und Urteile, aber ebenso die Ängste und ‘Vorurteile’ der um 1650 lebenden Niederländer konkret kennenzulernen, wobei sich wieder einmal die Pamphletistik als unerschöpflicher Quellenschatz erweist - etwa zum Bataafs oor (44). Auf diese Weise partizipiert der Leser nicht nur an der Entstehung des Geschichtsbildes dieses Bandes selbst, sondern es muss ihm zugleich bewusst werden, wie sein eigenes, persönliches Geschichtsbild entstanden ist, worauf es beruht und wo es eventuell korrigiert werden sollte. Kulturgeschichte und Geschichte allgemein erscheinen in dieser Darstellung nicht als ontologische Grössen, denen die Zeitgenossen ausgesetzt waren und denen sich die späteren Historiker nur einfühlend annähern können, sondern als Produkt moderner wissenschaftlicher Schlussolgerungen auf der Basis rational überprüfbarer Quellen-, Begriffs- und Analysearbeit. Es wird immer wieder deutlich, dass das Geschichtsbild über das bisweilen fast mystifizierte gouden eeuwGa naar voetnoot3 der Niederlande nicht | |
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vorgegeben ist, sondern ‘gemacht’ wurde und wird. Dieser in der neueren Methodendiskussion stark beachtete konstruktivistische Charakter von Geschichte ist stets präsent, ohne dass allerdings dekonstruktivistische Positionen eingenommen würden, wie das jüngst in bezug auf die Reformation und die traditionell damit verbundene Epochenschwelle geschehen ist.Ga naar voetnoot4 Anders als für die Tat Luthers, die unter heute nicht mehr gültigen konfessionalistischen Prämissen von Philosophen, Historikern, Soziologen und Juristen des 19. Jahrhunderts (Hegel, Ranke, Weber, Jellinek) zu einer universalgeschichtlichen Zeitenwende hypostasiert wurde, ist für den Mythos einer niederländischen aurea aetas im 17. Jahrhundert ein solcher grundsätzlicher Revisionismus offensichtlich nicht notwendig. Sehr wohl aber nimmt die Darstellung Korrekturen und Umwertungen an einzelnen Punkten vor. Darauf ist im letzten Teil zurückzukommen. | |
II Die zeitliche und räumliche Dimension - 1650 als Ausgangspunkt für die Eichung der niederländischen Kulturgeschichte im europäischen KontextEindeutigen Entscheidungs- beziehungsweise Konstruktionscharakter hat auch das Jahr 1650 als Ausgangpunkt für die Vergegenwärtigung der neuzeitlichen Kulturgeschichte der Niederlande und ebenso - wenn auch weniger evident - der konkrete räumliche Zuschnitt ihrer europäischen Kontextualisierung. Wie legitimiert sich dieser Ausschnitt, welche Erkenntnisperspektive wird damit eröffnet und welche historiographische Gewichtung ergibt sich daraus? Was zunächst das Kontingente des chronologischen Rahmens der IJkpunten-Serie und ihres Beginnes mit 1650 anbelangt, so brauche ich nur an die Rolle zu erinnem, die das von Johan Huizinga so meisterhaft beschriebene burgundische Spätmittelalter oder das 16. Jahrhundert mit dem Beginn des Tachtigjarigen oorlogs traditionell in der niederländischen Kultur- und Nationalgeschichtsschreibung gespielt haben. Aber auch nicht nationalgeschichtlich ausgerichtete, integrative Darstellungen der europäischen Geschichten wählen durchaus andere Epochenschnitte als die IJkpunten-Serie. So habe ich selbst unlängst dafür plädiert, die ‘neue Zeit Europas’ bereits im 13., 14. Jahrhundert beginnen zu lassen.Ga naar voetnoot5 Ich muss gestehen, dass mich die Lektüre des 1650er Bandes in dieser Meinung nicht hat erschüttern können. Denn es zeigt sich dort doch auf Schritt und Tritt, dass auch für die niederlandische Geschichte der Neuzeit entscheidende Weichen bereits im späten Mittelalter und allemal im langen 16. Jahrhundert gestellt wurden. Das gilt - um nur zwei, offensichtliche Zusammenhänge zu nennen - für die Modernisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft ebenso wie für die multikonfessionelle Kultur, die ohne den starken niederländischen Humanismus des frühen 16. Jahrhunderts, aber auch ohne die politischen Entscheidungen der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts nicht denkbar wäre. | |
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Und dennoch ist die Wahl der Zeit um 1650 zum ersten Eichpunkt für die niederländische Kulturgeschichte der Neuzeit durchaus plausibel und darstellerisch gut praktikabel. Der Einschnitt für die niederländische Geschichte selbst ist offensichtlich: Völkerrechtlich und verfassungsgeschichtlich, aber auch und vor allem hinsichtlich der politischen und kulturellen Identität war ‘een nieuw vaderland’ entstanden, das sich neu orientierte, unter anderem durch einen Bruch mit der traditionellen ‘orientatie op het Oosten’, so Willem Frijhoff und Marijke Spies (56), oder, wie ich selbst die Umorientierung noch ein wenig radikaler charakterisiert habe, durch den Übergang der nördlichen Niederlande von Mittel- nach Westeuropa.Ga naar voetnoot6 Vor allem aber eröffneten die Jahre um 1650 für die niederländische, aber auch für viele andere Nationalgeschichten eine neue europäische Dimension. Thesenhaft lässt sich sagen, dass um 1650 erstmals dasjenige Europa in Erscheinung getreten war, das uns heute vor Augen steht, wenn wir von der Europäischen Union und ihrer zukünftigen Entwicklung sprechen. Somit passt der chronologische Beginn der IJkpunten-Reihe bestens sowohl zu ihrem Programm einer europäischen Kontextualisierung als auch zu ihrem im vorigen Teil herausgearbeiteten sensiblen Gegenwartsbezug. Denn der Beginn mit 1650 ermöglicht es in einer besonderen Weise, Geschichte vor dem Hintergrund gegenwärtiger Profile und Probleme zu schreiben und damit zugleich historisch sachgerechte Wege in die europäische Zukunft zu weisen. So kann insbesondere ein Beitrag zur Herausbildung einer - wagen wir den nicht von allen Historikern geliebten Begriff - historisch-politischen Identität der Europäer geleistet werden, im vorliegenden Fall in erster Linie der niederländischen Europäer, in zweiter Linie aber auch aller anderen, die ihre eigene Vergangenheit in dieser niederländischen Kulturgeschichte gespiegelt finden. Es sind vor allem vier, in einer langen Phase einer ‘struggles for stability’Ga naar voetnoot7 erkämpfte Grundprinzipien europäischer Kultur beziehungsweise Zivilisation, die uns das Europa zu Mitte des 17. Jahrhunderts besonders nahe und als Vorgeschichte unserer heutigen Visionen von Europa, speziell von seinem gegenwärtigen und zukünftigen Kulturprofil, erscheinen lassen: - das von Theoretikern wie Hugo de Groot entworfene und eben auf dem Westfälischen Friedenskongress politisch umgesetzte Konzept einer auf gegenseitiger Absprache und Verträgen beruhenden, Frieden und Ruhe stabilisierenden völkerrechtlichen Staatenordnung, das zumindest ansatzweise auch Realität geworden war und für dessen zukünftige Sicherung das Instrument der Kongressdiplomatie zur Verfügung stand; - der Grundsatz einer Rechtsgleichstellung aller Mitglieder dieses neugeordneten StaateneuropaGa naar voetnoot8, der auch und vor allem den Klein- und Mittelstaaten wie der | |
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niederländischen Republik oder Staaten, die wie die Adelsrepublik Polen aus strukturellen Gründen zur besonderen Machtentfaltung nicht fähig waren, die gleichberechtigte Beteiligung an Politik, Kultur und Wirtschaft Europas garantieren sollte; - der noch nicht nationalistisch aggressive Zuschnitt dieser Ordnung um 1650, die nicht exklusiv, sondern europäisch integrativ war, also - wie der vorliegende Band immer wieder für die niederländische Kultur belegt - Gesellschaften ermöglichte, die den Willen und die Fähigkeit besassen, Impulse des ‘Fremden’ von innerhalb oder ausserhalb aufzunehmen; - schliesslich eine qualifizierte Säkularität, die Religion und Politik trennte, ohne aber bereits das eine gegen das andere auszuspielen, wie es ein Jahrhundert später die aggressiv antireligiöse Richtung der Aufklärung tat, oder das eine exklusiv an die Stelle des anderen zu setzen, wie es bei der pseudoreligiösen Besetzung der Nationalismen des 19. Jahrhunderts zu beobachten ist. All das lässt die Zeit um 1650, als die Epoche der Staatsbildung und die erste Phase der Staatenkriege beendet und der fundamentalistische Religions- beziehungsweise Konfessionskrieg überwunden war,Ga naar voetnoot9 für das gegenwärtige Europa bestechend nah und für eine historische Vergegenwärtigung attraktiv erscheinen. Und es berechtigt uns - das sei in Parenthese bemerkt -, die provokative Frage von Peter Burke ‘Did Europe exist before 1700?’Ga naar voetnoot10 mit einem trotzigen ‘Ja’ zu beantworten. Komplementär zu dieser Aktualität und Nähe des 17. Jahrhunderts wächst die Fremdheit des 18. und vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts, als die Nationalismen und die Pentarchie der europäischen Grossmächte - beziehungsweise im 20. Jahrhundert der Dualismus der beiden Weltmächte - Europa in eine Richtung veränderten, die keine Anknüpfungspunkte für die historisch-politische Kultur der Gegenwart und der Zukunft bietet, sondern nur als negative Folie dienen kann. Auch dies ist eine Frucht der Lektüre von 1650. Bevochten eendracht - die vorationalstaatliche Welt des frühneuzeitlichen Europa ist für die historisch-politische Bildung in Schule und Gesellschaft aktueller den je. Das schliesst natürlich die Frage ein, warum die damals erreichten Grundprinzipien eines friedlichen Zusammenlebens zwischen den Staaten und die kulturelle wie soziale Integrationskraft der frühmodernen Gesellschaften sich nicht ohne die gewaltsamen Brüche des 19. und 20. Jahrhunderts fortentwickeln konnten - ein Problem, das im Hinblick auf die Sicherung des heute (wieder) Erreichten geradezu von existentieller Bedeutung erscheint. Denn auch und gerade dafür hat der Historiker das Bewusstsein zu schärfen, dass ein ‘Goldenes Zeit- | |
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alter’ wie es die niederländische Kultur um 1650 erlebte, immer gefährdet ist und daher Vorkehrungen für seine Sicherung zu treffen sind. Fragen wir, wie angekündigt, nach der räumlichen Dimension des Europabegriffes, der im ersten Band die europäischen Kontextualisierung bestimmt, so ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass Europa nur scheinbar eine klar umreissbare geographische Einheit ausmacht. Im Mittelalter war Europa als kultureller und zivilisatorischer Typus nach allen Himmelsrichtungen hin unbegrenzt oder offen. Mitte des 17. Jahrhundert hatte sich das längst geändert, jedenfalls in den östlichen Randzonen der Mitte, hier bereits vor Jahrhunderten, im Südwesten bei den arabisch-muslimischen Exklaven auf der Iberischen Halbinsel, und im Norden, hier erst kürzlich durch den von Gustav Adolf eingeschlagenen Weg Schwedens nach Europa. Weiterhin offen und damit einer wissenschaftlichen Abgrenzung bedürftig war Europa damals im Osten und im Westen, also einerseits nach Russland und Asien hin und andererseits über den Atlantik hinweg. Diese beiden offenen Grenzen behandeln die Autoren der Bevochten eendracht durchaus unterschiedlich, namlich exklusiv im Osten und integrativ im Westen. Die klare Abgrenzung nach Osten ergibt sich daraus, dass - wenn ich recht sehe - der Bezugspunkt der europäischen Kontextualisierung der niederländischen Kultur immer und ausschliesslich der lateinisch-christliche Teil des Kontinents bleibt. Damit ist der östliche, griechisch- oder russisch-orthodoxe Teil Europas einem anderen Kontext zugeordnet, der nicht in dem der Darstellung zugrunde gelegten spezifischen Sinne als ‘europäisch’ zu qualifizieren ist. Diese Abgrenzung ist sachgerecht wegen der allgemeinen Unterschiede zwischen dem griechisch- und dem lateinischchristlichen Zivilisationstyp Europa, unter denen ich die religionssoziologischen für besonders wichtig halte.Ga naar voetnoot11 Speziell für die niederländische Kultur gewinnt diese Abgrenzung vom osteuropäischen Kontext noch dadurch zusätzlich an Plausibilität, dass in der Staats- und Gesellschaftsordnung der Nordniederländischen Republik die gemeindlich-kommunalen Elemente besonders stark ausgeprägt waren, und damit spezifische Bedingungsfaktoren des Kulturprofils gegeben waren, die im osteuropäischen Zivilisationstypus so gut wie ganz fehlen. Es wäre zwar reizvoll, in einem interzivilisatorischen VergleichGa naar voetnoot12 durch eine Gegenüberstellung der niederländischen Verhältnisse mit denjenigen in einem nicht gemeindlich-kommunal verfassten Raum Gewicht und Funktion dieser gemeindlich-kommunalen Strukturen für die niederländische Kulturblüte noch schärfer herauszuarbeiten. Für eine synthetische | |
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Darstellung nach Art der IJkpunten-Bände wäre eine solche analytische Komparatistik aber kaum handhabbar gewesen. Im Westen, über die Weltmeere hin ist - und das entspricht wiederum der historischen Situation um 1650 - keine vergleichbar klare Grenze für die europäische Kontextualisierung zu erkennen. Im Gegenteil, zu recht zieht die Darstellung die aussereuropäischen Welten in Amerika, Afrika und Asien immer wieder in die Betrachtung ein. Die niederländische Kultur des goldenen Zeitalters wird somit in einen europäischen Kontext gestellt, der den Kontinent im geographischen Sinne transzendiert und die Aktivitäten der Europäer, speziell natürlich der Niederländer, auf den Weltmeeren und den anderen Kontinenten sowie deren Rückwirkungen auf Kultur und Gesellschaft der Niederlande mit berücksichtigt. Gleichwohl ist auch bei dieser niederländischen Kulturgeschichte im europäischen Kontext eine ‘low visibility of the wider world's mostly involontary participation in the formation of modem Europe’ zu konstatierenGa naar voetnoot13, und zwar weniger bezogen auf den ökonomischen Beitrag der anderen Kontinente, den die Autoren durchaus benennen, als bezogen auf die kulturellen und mentalen Impulse. Eine solche Schwäche ist bei europäischen Autoren, sofern sie nicht auf Überseegeschichte spezialisiert sind, offensichtlich verbreitet. Man wird also - nur soviel lässt sich an dieser Stelle sagen - die eingangs benannte historiographische Komplementäraufgabe von integrierter europäischer Geschichtsdarstellung einerseits und Nationalgeschichten im europäischen Kontext andererseits ergänzen müssen um die Perspektive einer weitergreifenden Austauschs- und Beziehungsgeschichte. Diese hat von zwei Grundzügen des europäischen Kulturprofils auszugehen - erstens von dem bereits für das Mittelalter, Kreuzzüge unter anderem, gültigen Sachverhalt, dass Europa ebenso wie seine einzelnen Teilgesellschaften, und hier natürlich in erster Linie die Träger der frühmodernen Expansion wie die niederländische Republik, auch immer das waren, was sie in der Begegnung mit aussereuropäischen und ausserchristlichen Kulturen geworden sind; und zweitens von der Universalität im Denken und im Handlungshorizont der Europäer, die ebenfalls im lateinischen Christentum des Mittelalters verwurzelt war, ausgangs des 15. Jahrhunderts in der europäischen Expansion aber eine globale räumliche Konkretisierung erfuhr. Auch dieser frühe Zug zur Globalität ist ein Beleg für die besondere Aktualität der frühneuzeitlichen Strukturen und Prozesse. Diese Universalität der europäischen Kultur behandeln die Historiker meist in Art einer Einbahnstrasse, auf der europäisches Denken oder europäische Institutionen sich über die Welt verbreiteten und die aussereuropäischen Zivilisationen neu ordneten - so etwa, um nur zwei berühmte Beispiele zu nennen, die Menschenrechte und der Staat, dessen universelle Erfolgsgeschichte Wim Blockmans und Wolfgang Rein- | |
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hard eben noch in zwei grossen Meisterdarstellungen analysiert und gewürdigt haben.Ga naar voetnoot14 Komplementär zu dieser zentrifugalen Dynamik war Europa aber durch sein Ausgreifen auf die Welt einer zentripedalen Dynamik ausgesetzt, oder besser formuliert: profitierte von einer solchen zentripedalen Dynamik, die der europäischen Kultur allgemein und - in unterschiedlicher Intensität - einzelnen ihrer nationalen Sub-Kulturen Impulse, Anregungen, Bewusstseinserweiterungen, Gewinn von Fähigkeiten, Herausbildung von Mentalitäten etc. etc. brachte. Das qualitative und quantitative Ausmass dieses Zugewinns ist noch weitgehend unerforscht, und es wird auch in der vorliegenden Kulturgeschichte der Niederlande erst andeutungsweise sichtbar. Europa schuldet der Begegnung mit den aussereuropäischen Zivilisationen und Kulturen weit mehr als die von Politikern und Kirchenmännern der Gegenwart bereits wiederholt ausgesprochene ‘Ent-Schuldigung’ für Schmerz, Leid und Ausbeutung. Es ist sich und den anderen Völkern auch schuldig, den Gewinn aus der erwähnten zentripedalen Dynamik zu bilanzieren, also aus den Rückwirkungen der aussereuropäischen Aktivitäten auf Europa. Das gilt natürlich vor allem für eine so prominent an der europäischen Expansion beteiligte Nation wie die niederländische. Und so könnte ich mir vorstellen, dass sich für die niederländische Kulturgeschichte im europäischen Kontext eine sinnvolle Perspektivenerweiterung durch die Schlüsselfrage gewinnen liesse, ob und in welchem Umfang die niederländische Kultur des ‘Goldenen Jahrhunderts’ von einem vergleichbaren ‘frontier’-Geist durchtränkt war, wie ihn die berühmte These von Frederick Jackson Turner für die amerikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts und für den in der amerikanischen Nation bis heute nicht erlahmten Geist des Aufbruchs in Anschlag bringt.Ga naar voetnoot15 | |
III Einzelne SachzusammenhängeDie sachlich-inhaltlichen Themenschwerpunkte können im vorliegenden Zusammenhang nur sehr holzschnittartig gewürdigt werden. Sie spiegeln unverkennbar die Forschungsinteressen der beiden Autoren wider, und doch findet der Leser die ganze Vielfalt und den ganzen Reichtum der in sich so differenzierten Welt im Mündungsgebiet der grossen Ströme eingefangen und in die europäische Perspektive eingeordnet - ein glänzender Beweis für die sachliche Weite, die komparatistische und interdisziplinäre Kapazität und die darstellerische Kraft der beiden Autoren. Meisterstücke sind in meinen Augen insbesondere die methodisch wie inhaltlichsachlich innovativen, die niederländischen Verhältnisse sicher in den europäischen Kontext einordnenden Kapitel zu Bildung und Erziehung sowie zu Sprache und | |
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Literatur samt ihrer Rolle bei der Herausbildung einer gesamtniederländischen Identität und Kultur. Dasselbe gilt für die von beiden Autoren explizit ins Zentrum gestellte städtische Kultur, speziell die historisch-politische Kultur des niederländischen Stadtbürgertums um 1650 sowie den damit zusammenhängenden Prozess der Disziplinierung oder Sozialkontrolle - Kapitel, in denen sich die Autoren, abgesehen von ihren eigenen Arbeiten, auf eine breite, jüngst in den Niederlanden besonders intensiv verfolgte internationale Forschung stützen konnten. Ich erinnere nur an die Untersuchungen von Maarten Prak zu den Städten und zum Bürgertum und von Herman Roodenburg oder Pieter SpierenburgGa naar voetnoot16 zur Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung. Vor allem in diesen Passagen treten sowohl die besonderen Bedingungen und Voraussetzungen als auch das spezifische Profil der niederländischen Kultur zu Tage, in Kunst und Literatur, aber auch hinsichtlich des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese politische Kultur war - wie die Autoren offen und kritisch bilanzieren - alles andere als spannungsfrei; sie war eine bevochten eendracht, die immer aufs neue austariert und gesichert werden musste. Und doch oder gerade deswegen mutet vieles an dieser Politikkultur modern an, und ihre Leistungen nötigen gerade dem heutigen Betrachter Bewunderung ab - die besondere Einbindung des einzelnen in nachbarliche und gemeindlich-kommunale oder republikanische Zusammenhänge; die von eben diesen Nachbarschaften und Gemeinden - kirchlichen wie politischen - betriebene Einübung von Disziplin und Selbstkontrolle als Schritt auf dem Weg zu einer frühen Zivilgesellschaft; der Verzicht auf zentralistischen Dirigismus zugunsten regionaler und lokaler Entscheidungsfindung; schliesslich selbst das allgegenwärtige eigenbelang, zu dem die Autoren kritisch anmerken, dass es ‘het laagst mogelijke niveau tot richtsnoer’ werden liess (34), das aber zugleich Kräfte für die ökonomische und kulturelle Stabilisierung und Dynamisierung der Gesellschaft freisetze, wie es die niederländische Pamphletistik um 1650 unübertrefflich sentenzhaft formulierte: ‘Das Wort “eigen” bedeutet viel. Nur der Bauer selbst fasst seine Kuh am dreckigen Strez und zieht sie aus dem Schlamm.’Ga naar voetnoot17 Die republikanische Politikkultur war um 1650 in den nördlichen Niederlanden besonders markant und besonders effektiv; exzeptionell war sie im damaligen Europa aber nicht. Denn gerade im Hinblick auf die eingangs herausgearbeitete Bedeutung der Frühen Neuzeit für das historisch-politische Bewusstsein der Gegenwart und für das Geschichtsbild, auf das sich das vereinte Europa zukünftig stützen kann, gilt es, Ausmass und Gewicht des partizipatorischen, republikanischen oder kommunalistischen Europa wieder ins historische Bewusstsein zu heben. Denn neben dem absolutistisch-höfischen Europa, das unbestritten gerade in jenen Jahrzehnten einen glanzvollen Höhepunkt erlebte und das daher in den meisten europäischen Ländern | |
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die Geschichtsbücher beherrscht, standen partizipatorische, libertäre Flächenrepubliken wie die Niederlande, Venedig oder die Schweizer Kantone sowie nach Dutzenden zählende Stadtrepubliken, dazu die Adelsrepublik Polen. In gewisser Weise gehört auch das Heilige Römische Reich zu dieser Gruppe, dessen quasi-republikanische Libertät sich allerdings auf Reichsstände fürstlicher oder unterfürstlicher Qualität bezog. Nach dem Gesetz der GröBe und der Zahl, das sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts rasch etablierteGa naar voetnoot18, fielen diese Republiken und nicht machtstaatsmässig organisierbaren, partizipatorischen Gemeinwesen im Kampf der Mächte zurück. Keine von ihnen war später in der Pentarchie der Grossmächte zu finden, auch nicht die eben noch so mächtige und im Krieg erfolgreiche niederländische Republik.Ga naar voetnoot19 Dennoch oder gerade des wegen verdient diese ‘Traditionslinie’ einen besonderen Platz im europäischen Geschichtsbewusstsein, und es gilt daher deren innere integrative, zivilisatorische und pazifikatorische Kapazitäten zu würdigen, wie es in den Forschungen zum alteuropäischen RepublikanismusGa naar voetnoot20 oder zum KommunalismusGa naar voetnoot21, vor allem aber in den genannten Passagen der vorliegenden niederländischen Kulturgeschichte ja auch bereits intensiv geschieht. Nicht weniger aktuell und im gesamteuropäischen Kontext aufschlussreich erscheinen mir - und mit diesen Beobachtungen will ich schliessen - die Passagen zur Beziehungsgeschichte zwischen Staat und Kirche, zwischen Gesellschaft und Religion oder - sozialwissenschaftlich gesprochen - zum religionssoziologischen Typus der frühneuzeitlichen Niederlande. Die Autoren haben zu recht ‘het maatschappelijke effect van de Reformatie, de mate van de tolerantie’ unter die Schlüsselfragen ihrer Kulturgeschichte aufgenommen (13) Und ihre Darstellung besitzt auch in dieser Beziehung autoritativen Charakter, wobei sie sich auf eine Vielzahl von Detailforschungen der letzten Jahrzehnte stützen konnten, genannt seien nur die Arbeiten von Nijenhuis, Meilink, Van Deursen und Bergsma. Dem Calvinismus wird dort und in dem 1650er IJkpuntenband eine deutlich geringere Bedeutung für die kulturelle und politische Identität der jungen Republik zuerkannt als in der älteren, nationalen Geschichtsschreibung - eine historiographische Entsprechung zu der eingangs erwähnten Relativierung der Reformation in der deutschen Geschichtswissenschaft. | |
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Diese Umdeutungen ergaben sich hauptsächlich aus dem seit den 1970er Jahren endgültig vollzogenen Abschied vom alteuropäischen Konfessionalismus und der parallel dazu erfolgten Hinwendung zur konkreten Alltagsgeschichte, beides von Judith Pollmann im Vorwort zu ihrer Buchelius-Biographie so einprägsam an der eigenen, katholischen Familie aufgezeigt, die noch nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Amsterdamer Mietshaus in strenger Isolation von ihren protestantischen Nachbarn lebte, bis beide Seiten anfangs der 1970er Jahre realisierten, dass die traditionellen Konfessionsunterschiede ihnen nichts mehr bedeuteten, und daher Freunde wurden.Ga naar voetnoot22 Das neue Bild ist ohne Zweifel realistischer, etwa in bezug auf die Zahlenverhältnisse, die Mitte des 17. Jahrhunderts den Calvinismus noch in weiten Gebieten eher in der Minderheit als in der Mehrheit zeigen. Realistisch ist auch die Erkenntnis, dass die langen religiösen Debatten des 16. Jahrhunderts im Falle der stark humanistisch beeinflussten, erst relativ spät von einer entschiedenen, calvinistischen Reformationsbewegung berührten Niederländer konfessionellen Abgrenzungsmechanismen eher distanziert gegenüberstanden und dass sie selbst nach der Wahl einer Kirchenzugehörigkeit nur begrenzt dem ‘Zwang zur Konfessionalisierung’Ga naar voetnoot23 folgen konnten, wollten sie nicht die alltäglichen Verbindungen zur Verwandtschaft, Nachbarschaft und den Freunden in Gefahr bringen, auch das genauestens nachlesbar in der erwähnten Buchelius-Biographie. Realistisch ist das Bild schliesslich vor allem auch hinsichtlich des ‘ökumenischen Alltags’, etwa hinsichtlich der nicht-calvinistischen Studenten auf den reformierten Hochschulen (247f.) oder der Rolle katholischer Druckwerke auf dem bekanntermassen grossen und sehr diversifizierten Buchmarkt der Republik (267). Das alles macht das Bild zugleich auch gerechter, indem es nämlich nicht nur die Leistung der Konfessionen und Denominationen ausserhalb der calvinistischen ‘publieke kerk’ für die niederländische Kultur festhält, sondern darüber hinaus deren funktional äquivalente Position gegenüber dem Calvinismus, dem vor allem durch die Weber-These viel zu lange das Monopol auf ökonomische und kulturelle Formierung der frühmodernen Gesellschaften zugebilligt worden ist.Ga naar voetnoot24 | |
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Allerdings behalten neben diesem ‘ökumenischen’ oder besser gesagt multikonfessionellen Alltag auch die makro-historischen Zusammenhänge ihr Gewicht - etwa die Leistung des Calvinismus für die Selbstbehauptung gegenüber dem katholischen Spanien sowie allgemein für die Positionierung der aufständischen Provinzen innerhalb des sich herausbildenden internationalen Systems des frühneuzeitlichen Mächte-EuropaGa naar voetnoot25, später dann auch für die Herausbildung einer spezifischen politischen Identität der jungen Republik. Gerade in dieser strukturellen Komplementarität zwischen Weite und Offenheit eines multikonfessionellen Alltags einerseits und den trotzdem offensichtlich unverzichtbaren Institutionen und Funktionen eines öffentlichkeitskirchlichen-calvinistischen KonfessionalismusGa naar voetnoot26 wird man das Spezifische an der niederländischen Lösung des frühneuzeitlichen Konfessionenproblems sehen können. Als ‘tolérance sans édit’ hat Willem Frijhoff dieses Modell in komparatistischer Perspektive zur französischen Regelung unter dem Edikt von Nantes charakterisiert.Ga naar voetnoot27 Das Jahr 2005, wenn es gilt, anlässlich des 450. Jahrestages den Augsburger Religionsfrieden von 1555 neu zu gewichten, sollte Gelegenheit geben, auf der Basis des 1650er IJkpunten-Bandes das niederländische Modell einer Öffentlichkeits-Kirche kombiniert mit Toleranz ohne Edikt in einer um das Beispiel des deutschen Religionsfriedens erweiterten Perspektive erneut europäisch zu kontextualisieren. Unnötig zu betonen, dass auch diese komparatistische Frage nach den Grundlagen und Bedingungen, unter denen ungeachtet weiterbestehender konfessioneller Unterschiede um 1650 in den einzelnen ‘nationalen’ Kulturen Europas Angehörige verschiedener Religionen und konfessioneller Weltanschauungssysteme zusammenleben konnten, sehr aktuell ist. |
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