Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden. Deel 88
(1973)– [tijdschrift] Bijdragen en Mededeelingen van het Historisch Genootschap– Auteursrechtelijk beschermd
[pagina 317]
| |
10. Johan Huizinga und Ernst Robert Curtius
| |
[pagina 318]
| |
anbahnte und die den Impuls des vorigen Jahrzehnts fortsetzte, indem sie die Einseitigkeiten des ersten revolutionären Elans mäßigte bzw. korrigierte.Ga naar voetnoot2. Standen die achtziger Jahre im Zeichen der Hybris, so war nun die Zeit der Sofrosyne angebrochen; hatten Kloos und Van Deyssel den absoluten Individualismus auf ihre Fahne geschrieben, so bemühte sich die neue Generation um das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft; hatte ‘Achtzig’ l'art pour l'art proklamiert, so war jetzt das Problem von Kunst und Gesellschaft an der Tagesordnung; war ‘Erneuerung’ die Parole der achtziger Jahre gewesen, so besann man sich jetzt auf die Werte der Tradition. Diese Spannungen schufen das Klima, in dem der junge Doktorand, bald Doktor Huizinga, lebte und webte. Es wäre verfehlt, diesem zweiten Bildungserlebnis nur biographische Bedeutung beizumessen. Über das bloß Biographische hinaus lieferten die hier angedeuteten Polaritäten einen nicht geringen Beitrag zu der Problematik und der Thematik, mit denen Huizinga sich in seiner historischen Arbeit befaßte. In dieser Hinsicht ist es geradezu symbolisch, daß seine Groninger Antrittsvorlesung (1905) dem ‘ästhetischen Bestandteil historischer Vorstellungen’ gewidmet war.Ga naar voetnoot3. Huizinga wäre aber kein richtiger ‘Neunziger’ gewesen, wenn er etwa eine Ästhetisierung seines Fachbereichs angestrebt hätte. Er wies dem ästhetischen Bestandteil seine berechtigte Stelle und seine unerläßliche Funktion an, aber zugleich - und späterhin sogar in zunehmendem Maße - war er darauf bedacht, keine ästhetizistischen Übergriffe zu dulden. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang seine schroffe Ablehnung der ‘vie romancée’. Noch in Homo ludens bedauert er die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende ‘himmelhohe Verherrlichung des asthetischen Genusses in der Skala der Lebenswerte’.Ga naar voetnoot4. Das ist nicht etwa die Reaktion eines amusischen Nörglers, sondern eine späte Etappe einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem verführerischen Primat der Kunst, dem er in seinen begeisterten Jugendjahren gehuldigt hatte. Es liegt auf der Hand, daß der Historiker Huizinga diesem für ihn vitalen Problem mit den Mitteln historischer Untersuchung beizukommen strebte. Eine gerade Linie führt von den Debatten seiner Generationsgenossen über ‘Kunst und Gesellschaft’ zu den Fragen, für die er in Herbst des Mittelalters eine Antwort suchte. Eine der Aufgaben, die er sich darin stellte, war ‘die Funktion der bildenden Kunst in der Französisch-burgundischen Gesellschaft, das Verhältnis zwischen Kunst und Leben zu begreifen’.Ga naar voetnoot5. Und wie so oft in diesem Buche geschieht die | |
[pagina 319]
| |
Beantwortung der Frage im Hinblick auf die spätere Entwicklung: Was man sucht, ist nicht die Kunst selbst, sondern das schöne Leben. Man tritt nicht, so wie spätere Zeiten, aus einem mehr oder weniger gleichgültigen Alltagstrott heraus, um zum Trost und zur Erhebung Kunst in einsamer Kontemplation zu genießen; sondern die Kunst wird zur Steigerung des Lebensglanzes selbst benutzt. Es ist ihre Bestimmung, an den Höhepunkten des Lebens, sei es im höchsten Aufschwung der Frömmigkeit oder im stolzesten Genuß des Irdischen mitzuschwingen. Man faßt im Mittelalter die Kunst noch nicht als Schönheit an sich auf.Ga naar voetnoot6.
In einem anderen Passus des Herbst klingt die gleiche Problematik an: ... das Streben, das eigene Leben zu einer Kunstform umzuarbeiten, wenn nicht gar hinaufzuschrauben, ist keineswegs durch die Renaissance eingeführt.
Im Grunde ist es dasselbe Problem, womit sich Curtius an einer Stelle seines Balzac-Buchs befaßt: Balzac schreibt in jener Epoche, in der sich das geistige und das ökonomische Leben der modernen Welt zum erstenmal gegenübertraten. Damals entschied sich für Jahrhundertdauer, ob beide Formen des Kulturprozesses sich verstehen und befruchten, oder ob sie sich den Rücken kehren würden. Die Entscheidung fiel negativ aus. Die Künstler, die ‘Geistigen’ überhaupt, wandten sich resignierend oder verstört oder beleidigt von der groben Arbeit ab, welche das Industrie-Zeitalter verrichtete. Sie schlossen sich in den Elfenbeinturm ein, sie wehrten sich nicht nur gegen die Unterwerfung der Kunst unter Nützlichkeitszwecke... sondern sie vermieden absichtlich jede Berührung mit den neuen Kräften der Epoche.Ga naar voetnoot8.
Was ich nun behaupten möchte, ist, daß das Problem der Funktion der Kunst und ihrer Stelle in der Rangordnung der Werte Curtius mit ebenso großer Intensität beschäftigte wie Huizinga. Es war ihm erstmalig nahegetreten - darüber kann kaum Zweifel bestehen - im Milieu der Blätter für die Kunst. Seit der Herausgabe seines Briefwechsels mit Friedrich GundolfGa naar voetnoot9. weiß man erst recht, wie sehr er sich mit diesem Milieu verbunden gefühlt und welch ein entscheidendes Bildungserlebnis die Poesie Stefan Georges für ihn bedeutet hatte. Hierbei möge man bedenken, daß zwischen der Achtziger-Bewegung in Holland und dem dichterischen Réveil in | |
[pagina 320]
| |
Deutschland eine ziemlich enge Beziehung vorwaltete, die sich sozusagen in dem Dichter Albert Verwey personifizierte. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, daß Curtius' Ausgangssituation eine andere war als diejenige Huizingas. Zunächst war er dreizehn Jahre jünger; seine Kontaktnahme mit dem geistigen Leben der Zeit erfolgte um 1907. Sodann waren die Entwicklungen in Holland und Deutschland einander naturgemäß nicht vollkommen parallel. Am Anfang der Blätter für die Kunst hatte das reine l'art pour l'art gestanden. Wenn Curtius im Rückblick die Atmosphäre gewisser Berliner Kreise um 1907 beschreibt, konstatiert er: ‘Damals stand Dichtung hoch über betrachtender und forschender Geistigkeit’.Ga naar voetnoot10. Das stimmt so ziemlich mit dem achtziger Credo, das Huizinga gelehrt hatte, ‘die Wissenschaft weit unter die Kunst zu stellen’. Aber gerade um 1907 machte sich bei George das Streben geltend, den theoretischen Primat der Kunst in eine praktische Hegemonie zu überführen: in seinen eigenen Worten ‘einen Staat im Staate zu stiften’. Diesem gefährlichen Zuge ins ‘Herrscherliche’ stand der Freund Verwey gleich anfangs mit bangem Bedenken gegenüber.Ga naar voetnoot11. Curtius seinerseits war zugleich fasziniert und, wie er später sagte, ‘beunruhigt’.Ga naar voetnoot12. Das läßt sich dem Ton der zwei Sätze entnehmen, mit denen er, wiederum im Rückblick, Georges zentrales Vorhaben kurz und treffend charakterisierte: ‘Es war ein titanischer Ehrgeiz, der Wirklichkeit des Tages eine esoterische Gegenwelt entgegenzustellen. Eine grandiose Intoleranz gehörte zur Form seines Geistes’.Ga naar voetnoot13. Dieser Intoleranz gegenüber behielt Curtius sich die Freiheit vor, diejenigen Interessen zu pflegen, die im ‘Kreise’ als ketzerisch verfehmt galten: die moderne französische Literatur und das Werk Hugo von Hofmannsthals. Mit dieser Feststellung kommen zwei der vornehmsten ‘fruchtbaren Spannungen’ in den Blick, aus denen Curtius lebte: die Spannung Deutschland vs. Frankreich, die Spannung George vs. Hofmannsthal. Speziell die letztere ist eng mit dem Problem des Ästhetizismus verbunden. Hatte die ästhetizistische Ausgangsposition bei George in dialektischem Umschlag zu solchen Losungen wie ‘Gefolgschaft und Jüngertum’ und ‘Herrschaft und Dienst’ geführt,Ga naar voetnoot14. so war das anfängliche l'art pour l'art bei Hofmannsthal nach der Jahrhundertwende mitigiert und relativiert. Unter Verweisung nach Hofmannsthals Notiz über ‘Madame de la Vallière’ (1904) bemerkte der Schweizer Max Rychner, der dem Dichter und Curtius so nahe stand, in diesem Zusammenhang: ‘Hof- | |
[pagina 321]
| |
mannsthal hat gewußt, daß auch die Kunst ihre Stelle hat im Ganzen des Daseins. Nicht die höchste...Ga naar voetnoot15. Die Kunst war ihm nichts Absolutes; aber sie war hingeordnet auf das Höchste...’.Ga naar voetnoot16. Diese bejahende Relativierung mag auch der späteren Position Curtius' in diesen Dingen entsprochen haben. Sie erlaubte ihm, gelegentlich das relative Recht des ‘Ästhetismus’ (wie er sagte) zu verfechten. Nicht zufälligerweise geschah das eben in dem Nachruf auf Hofmannsthal: Wenn man Künstler ist, ist man immer mehr als nur Ästhet. Der Künstler schafft Leben durch Formen; und ist schon dadurch mit den Gründen des Lebens verbunden; mit einer Potenz also, die seiender und dauernder ist als Märkte und Maschinen. Der Künstler, dessen Schaffen der Schönheitssinn inspiriert, schafft immer mehr als bloße Schönheit.Ga naar voetnoot17.
Zusammenfassend läßt sich sagen: wie Huizinga erlebte Curtius das Problem des Ästhetizismus aus einer fruchtbaren Spannung heraus. Noch eine andere Spannung war mit den literarischen Anfängen beider gegeben. Beide wurzeln in einer Erneuerungsbewegung. Es ist symbolisch für die holländische Poesie der achtziger Jahre, daß sie in einem langen Gedicht gipfelte, das anfing mit den Worten: ‘Een nieuwe lente en een nieuw geluid’. Dieser absolute Anfang drängte nach seinem notwendigen Komplement: in Holland etwas früher als in Deutschland machten sich die Rechte der Tradition geltend. Wenn Huizinga und Curtius in den Jahren nach 1918 - der letztere mit noch größerem Nachdruck in der Folge des ersten Weltkriegs - als Verfechter der Traditionsidee in die europäische Öffentlichkeit traten, so war das nicht nur durch die unmittelbaren Zeitumstände bedingt: der Keim dazu lag in dem Kräftespiel der Jahrhundertwende. Im Falle Huizingas läßt diese Ansicht sich mit seiner Beurteilung der Poesie seines Freundes, des Maler-Essayisten Jan Veth, belegen. Dieser hatte als orthodoxer Achtziger angefangen, aber in reiferen Jahren fand er sich selbst in engerem Anschluß an ‘die vaterländische Tradition’. Diese Entwicklung erhielt Huizingas unbedingten Beifall: ‘Indem er das skrupulös Individuelle preisgab für die feste Tradition, die schwerer wiegt als persönliche Velleitäten der Kunsterneuerung, gab er das Beste was an Poesie in ihm war’. (VI, 458) Mutatis mutandis begegnet dasselbe epitheton ornans et laudans an einer Stelle, wo Curtius auf einen analogen Zusammenhang zu sprechen kommt: In Goethes Jugend hatten die Originalgenies einer verknöcherten Überlieferung den Kampf angesagt. Tradition und Originalität schienen sich auszuschließen. Aber es gibt einen Ausgleich zwischen ihnen... Originalität auf dem festen Grunde der Überlieferung: sie bezeugt sich in Dante, in Shakespeare, in Racine, in Goethe selbst.Ga naar voetnoot18. | |
[pagina 322]
| |
Und dann folgt eine bezeichnende Hinzufügung: ‘In unseren Tagen in Hofmannsthal’. Durch diesen Namen wird der geheime Bezug zu Curtius' eigener Zeit explizitiert. Überhaupt kann man die Bedeutung Hofmannsthals für diese und ähnliche Gedankengänge nicht hoch genug anschlagen. In dem Vorwort des magnum opus Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter liest man: ‘Das vorliegende Buch ist dem Wunsch entsprossen, dem Verständnis der abendländischen Tradition zu dienen, so weit sie sich in der Literatur bezeugt’.Ga naar voetnoot19. In diesem Vorhaben war Hofmannsthal gewissermaßen einer der Kronzeugen; an ihm bewährte sich die schöpferische Kraft der Tradition unter den denkbar ungünstigsten Umständen: in dem zerrütteten Österreich der Nachkriegsjahre. Das gemeinsame Kontinuitätsbewußtsein führte zu analogen Abweisungen melioristischer Ideologien. Als zweiter der von ihm anvisierten ‘fontes errorum’ führte Huizinga die Thesis an: ‘Veränderung ist immer besser als Konservation’. (VII, 223) Curtius konstatierte: ‘Für viele heutige Denker... scheint eine naive Gleichsetzung zwischen Wechsel und Wert einerseits, zwischen Dauer und Unwert anderseits zu bestehen’.Ga naar voetnoot20. Ein Korrelat des starken Traditions- und Kontinuitätsbewußtseins war die Abweisung der Fortschrittsidee. In dieser Hinsicht bestand zwischen Huizinga und Curtius eine weitgehende Übereinstimmung. Schon 1921 stellte der Erstere fest: ‘Eine Reaktion gegen den “Fortschritts”-Gedanken ist allerwegen im Gange’ (IV, 449) und das erste Kapitel des Büchleins Im Schatten von morgen endet mit dem bezeichnenden Satze: ‘Es wäre aufschlußreich, wenn man in einer Kurve ausgedrückt sehen könnte, mit welcher Beschleunigung das Wort Fortschritt aus dem Sprachgebrauch der Welt verschwunden ist’.Ga naar voetnoot21. Huizingas Worte finden sozusagen ihr Echo in Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter: ‘Dieser Fortschrittsglaube und mit ihm der naive Europäismus ist durch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts widerlegt worden’.Ga naar voetnoot22. Der Fortschrittsgläubige hatte naturgemäß die Neigung, alle vorhergegangenen Phasen der Geschichte zu entwerten. Umgekehrt hält der Traditionalist grundsätzlich an der Vollwertigkeit des Vergangenen fest. In diesem Zusammenhang steht Huizingas Auffassung des mittelalterlichen Symbolismus: ‘Die symbolische Denkart steht selbständig und an sich gleichwertig neben der genetischen’,Ga naar voetnoot23. und weiter: ‘Der Symbolismus schuf ein Weltbild von noch strengerer Einheit und innigerem Zusammenhang, als das kausalwissenschaftliche Denken es vermag’.Ga naar voetnoot24. | |
[pagina 323]
| |
An anderem Stoffe entwickelte Curtius seinerseits denselben Gedanken: ‘Wir wissen heute, daß das magische Weltbild der Primitiven eine innere Gesetzlichkeit und Ordnung besitzt, die dem Weltbild des wissenschaftlichen Kausalitätsbegriffes in nichts nachsteht’.Ga naar voetnoot25. Die Vollwertigkeit des Vergangenen impliziert die Möglichkeit seiner Re-aktualisierung. Curtius schreibt zum Beispiel über die Poetica der Aristoteles: ‘So zeitbedingt das kleine Buch ist: es enthält Gesichtspunkte, die sich immer wieder zu aktualisieren vermögen’.Ga naar voetnoot26. Ganz in gleichem Sinne lautet der Schlußsatz von Huizingas Biographie des Freundes Jan Veth: In den Epochen reifer Kultur wirkt dieser realistische Antrieb immer aufs neue als eine Art ästhetisches Gewissen, das die tiefe Wahrheit des Aristotelischen Ars imitatur Naturam in immer neuen Formen und mit immer neuem Sinngehalt ins Gedächtnis ruft. (VI, 480)
Das sind Beispiele einer Denkweise, die ich als ‘restaurativ’ bezeichnen möchte. In diesem Sinne schrieb Huizinga an Julien Benda: ‘la seule catégorie des sept péchés capitaux comme directive de la vie et du jugement vaut toute la psychologie moderne’. (VII, 270) Dieselbe Gesinnung, zufälligerweise gleichfalls in französischer Sprache formuliert, findet man ausgesprochen in einem Beitrag von Curtius in der Nouvelle Revue Française: ‘Il ne serait pas inutile de faire revivre pour nous autres modernes la vieille théorie médiévale de la quadruple signification et de la quadruple interprétation’.Ga naar voetnoot27. Nach alledem ist es wahrlich kein Zufall, daß sowohl Huizinga wie Curtius sich in metalingualer Besinnung um eine Ehrenrettung des Wortes ‘konservativ’ bemühten. Huizinga: Konservatismus scheint eine Unart zu sein, wenn wir es mit Erhaltungssucht übersetzen, - sagen wir: ‘Sinn für Erhaltung’, und denken wir dabei an das Bibelwort: ‘Behaltet das Gute’, dann wird es eine Tugend. (VII, 222)
Curtius seinerseits: Es gibt auch heute noch viele unter uns, auf die das Wort konservativ wie ein rotes Tuch wirkt.... Ich verwende das Wort im Sinne der klassischen Begründer der modernen Staatslehre und Philosophie.Ga naar voetnoot28.
Mit der Fortschrittskritik sind wir schon in unseren zweiten ‘Bereich’, den der Kulturkritik, vorgestoßen. Nimmt doch die Kritik des Fortschritts eine hervorragende Stelle in dem kulturkritischen Repertorium ein. Der Bildungsgang unserer | |
[pagina 324]
| |
beiden Protagonisten hat sich in einer von kulturkritischen Gedanken gesättigten Atmosphäre vollzogen. Im Falle von Curtius ist das besonders deutlich. Die Nähe zu Gundolf brachte ihn in den Bann des Jahrbuchs für die geistige Bewegung, das in den Jahren 1910-1912 das öffentliche Leben des wilhelminischen Deutschlands einer schonungslosen Kritik unterzog. Aber auch die Kroniek, die alerte Wochenschrift der niederländischen Neunziger, läßt sich als ein Organon kulturkritischer Bestrebungen beschreibenGa naar voetnoot29.. Hier wie dort bemühte man sich um eine prinzipielle Kritik, die auf den Grund der Erscheinungen ging. So statuierte der vielseitige Alphons Diepenbrock, Komponist und Latinist, der zugleich Friedrich Nietzsche und Ernest Hello verehrte: Es ist doch zur Genüge bekannt daß bei der stofflichen und geistigen Zersplitterung der heutigen Gesellschaft in vielen Dingen das richtige Verständnis für Proportionen verloren gegangen ist, so daß Zweck geworden ist, was Mittel sein sollte.Ga naar voetnoot30.
Von gleich abstrakter Höhe aus entschied 13 Jahre später Gundolfs Richterspruch: In welchem bereich man sich heute umtun mag, ob man wirken oder betrachten, schaffen oder geniessen will: überall begegnet man demselben merkmal, fühlt sich von demselben prozess ergriffen oder bedingt, gefördert oder gestört: was früher mittel war ist endzweck geworden, die organe haben sich freigemacht von ihrer bestimmung und funktionieren selbständig weiter.Ga naar voetnoot31.
Was, abgesehen von dem fast gleichen Wortlaut - der in Nietzsche seinen gemeinsamen Ursprung haben dürfte - in diesen Urteilen vor allem frappiert, ist die ungeheure Distanz zu dem Lauf der Welt. Voraussetzung der Kulturkritik ist eben, daß man nicht mitmacht. So rühmte Huizinga in Burckhardt ‘einen Geist..., der mit aristokratischer Reserve keiner Tagesmeinung huldigte, nur weil die Zeit es gefordert hätte’. Bezeichnenderweise ließ er folgen: ‘Burckhardt war am allerwenigsten in banalen “Fortschritts”-Ideen befangen’. Fast noch symptomatischer ist der anschließende Satzteil: ‘und schon dadurch konnte er um vieles tiefer schürfen als Michelet’. (IV, 244) Die Wendung ‘schon dadurch’ impliziert, daß für Huizinga die kulturkritische Attitüde ganz besonders dazu angetan war, den Zugang zu dem Eigenwert des Vergangenen zu erschließen. Eins der wichtigsten Themen der Kulturkritik ist das Problem der bürgerlichen Stillosigkeit. Im Jahre 1892 verzeichnete der große Achtziger Lodewijk van Deyssel - der Huizinga in mehr als einer wesentlichen Hinsicht inspiriert hatGa naar voetnoot32. -: ‘Ich | |
[pagina 325]
| |
bin der Meinung, daß der mittelalterliche Monotheismus der letzte Weltstil gewesen ist, Stil des Denkens und Stil des Lebens; in allem, was danach kam, ist eine langsame Ent-stilung zu bemerken’, und weiter: ‘Der letzte Weltstil ist abgetakelt zum bröckeligen Tiefstand der heutigen “Bourgeoisie”’.Ga naar voetnoot33. Aus gleich weiter Sicht heraus lesen wir, mehr als vierzig Jahre später bei Huizinga: Wir wissen es nur allzugut: das neunzehnte Jahrhundert hat keinen Stil mehr gehabt, höchstens noch etwas schwache Nachblüte. Sein Kennzeichen ist die Stillosigkeit, die Verwirrung der Stile, die Nachahmung aller Stile... In diesem Verlorengehen des Zeitstils liegt der Angelpunkt des ganzen Kulturproblems. Denn was sich in den plastischen und musischen Künsten offenbart, ist nur der sichtbarste Teil der Verwandlung der ganzen Kultur.Ga naar voetnoot34.
Das gleiche Problem wurde von Curtius nur gelegentlich gestreift, als er die Ästhetik des l'art pour l'art bezeichnete als ‘die Reaktion des künstlerischen und humanistischen Instinkts gegen den Stilbruch, der in allen Künsten für das 19. Jahrhundert bezeichnend ist’.Ga naar voetnoot35. Er war eben auch kein Kulturhistoriker wie Huizinga, dessen kulturkritischer Blick seine kulturhistorischen Fragestellungen hervorbrachte. Dieser Zusammenhang ist besonders augenfällig im Herbst des Mittelalters, und zwar mit Bezug auf das Problem der ‘Ent-stilung’, das uns hier beschäftigt. Da liest man zum Beispiel: ‘Das späte Mittelalter hat fortwährend in den Kleidertrachten ein Maß von Lebensstil zum Ausdruck gebracht, vom dem heutzutage selbst eine Krönungsfeierlichkeit nur noch ein matter Abglanz ist’.Ga naar voetnoot36. Aber das gleiche Problem war schon mit größerem Nachdruck und auf umfassendere Weise statuiert worden - nämlich im ersten Absatz des langen Buches, ein Absatz, der leitmotivisch bis auf die letzte Seite des Herbstes durchklingt: Als die Welt noch ein halbes Jahrtausend jünger war, hatten alle Geschehnisse viel schärfer betonte äußere Formen als jetzt. Zwischen Leid und Freude, zwischen Unheil und Glück schien der Abstand größer als für uns; alles was man erlebte hatte noch jenen Grad von Unmittelbarkeit und Absolutheit, den Freud und Leid jetzt noch im Gemüte des Kindes haben. Jede Begebenheit, jede Tat war umringt von bestimmten und ausdrucksvollen Formen, war eingestellt auf die Erhabenheit eines straffen, festen Lebensstils.Ga naar voetnoot37.
Der Niveau-Unterschied, das Gefälle, das uns von dieser ‘jüngeren’, formfesten und stilreichen Welt scheidet, bildet eben das kulturphilosophische Problem, das | |
[pagina 326]
| |
die Kulturkritik in den Blick gebracht hatte und das Huizinga sich anschickte, mit kulturhistorischen Mitteln zu klären. Eine analoge und vielleicht sogar dieselbe Wechselbeziehung zwischen Kulturkritik und Kulturgeschichte gilt für Homo ludens. Allein manifestiert sie sich nicht an einer ebenso exponierten Stelle wie im Herbst des Mittelalters. Erst auf S. 310 der deutschen Ausgabe liest man: Ein allgemeines Ernsterwerden der Kultur scheint sich als eine typische Erscheinung des neunzehnten Jahrhunderts kaum ableugnen zu lassen. Diese Kultur wird in viel geringerem Maße als die der vorangehenden Perioden ‘gespielt’. (V, 224)
Auch hier wird kulturkritisch ein Gefälle festgestellt. Man darf vermuten, daß ohne diesen manifesten Niveau-Unterschied das kulturhistorische Problem des ‘Spielelements’ überhaupt nicht Huizingas Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätte. Auch hier spürte er den Drang, ein Phänomen zu klären, das scharfsichtigen Augenzeugen nicht entgangen war. Balzac klagte über ein ‘assombrissement des moeurs’, Barbey d'Aurevilly über ‘la légèreté qui s'en va chaque jour, des livres et du monde’, Nietzsche über ‘den Geist der Schwere’ - bei Hawthorne hört man ‘Life has grown so sadly serious’. In dieser Tradition stand auch Curtius, als er seinen ersten begeisterten Aufsatz über den kurz zuvor von ihm entdeckten Ortega y Gasset schrieb. Man muß sich die Jahreszahl 1924 vergegenwärtigen, um seine reichlich euphorisch anmutende Stimmung zu verstehen. 1924: Europa schien das Ärgste überstanden zu haben; daß hinter dem Horizont Ärgeres drohte, war nur den Wenigsten, etwa einem Carl Burckhardt, bewußt.Ga naar voetnoot38. Im Anschluß an gewisse Gedankengänge Ortegas - namentlich seine Parole vom ‘Leichtgewicht der Kunst’ - heißt es dann bei Curtius: Als Lebensbasis, als Schwerpunkt der Existenz erscheint die Kunst der heutigen Generation unmöglich. Für das neue Lebensgefühl besitzt die Kunst nur dann ihre Grazie und ihren Zauber, wenn sie Spiel und nur Spiel ist. Diese Akzentverschiebung im Ästhetischen entspricht dem neuen freudigen und festlichen Lebensgefühl, das sich dem Arbeitsethos des neunzehnten Jahrhunderts entgegenstellt... Die traurige Gebärde der Arbeit und die pathetischen Betrachtungen über die menschlichen Pflichten und die Heiligkeit des Kulturwerkes haben ihre Überzeugungskraft verloren. Das neunzehnte Jahrhundert empfand das Dasein als harten Werktag. Die heutige Jugend scheint dem Leben in einer Art von Ferienstimmung gegenüberzustehen.Ga naar voetnoot39.
Die Nähe zu Huizinga ist handgreiflich, wenn man sich auf die Schlußpartie seiner Schrift ‘Kleiner Dialog über die Themen der Romantik’ bezieht, die gleichfalls aus den zwanziger Jahren datiert: | |
[pagina 327]
| |
Gerade ihr Charakter eines kindlich vertieften Spieles macht die Romantik zu Literatur in einem echteren Sinne als den schwerfälligen Realismus. Eine Literatur darf sich selbst nie völlig ernst nehmen. Denn wenn sie meint, die Höhen der obersten Weisheit besteigen zu können, und den Bezirk des Spieles verläßt, verwirkt sie ihr Heil. (IV, 391)
Zwei Jahre nach der Wetterscheide, die der Einbruch der Wirtschaftskrise bedeutete - also drei Jahre vor Im Schatten von morgen -, veröffentlichte Curtius sein libellum Deutscher Geist in Gefahr. Wie man das Buch im einzelnen beurteilen mag, die Veröffentlichung war, in dem rasenden Deutschland des Jahres 1932, zweifelsohne eine Tat der Zivilcourage. Wenigstens einer aus der deutschen Professorenschaft hat sich coram publico gegen die heraufkommende Flut gestemmt! So hat das Buch eine hohe ‘valeur de témoignage’, auch wenn man konstatieren muß, daß die darin empfohlenen Mittel der Wiederherstellung sich in historischer Perspektive als peinlich unangemessen ausnehmen. Huizinga suchte die Heilung der wunden Welt bekanntlich in einer ‘Katharsis’ und einer ‘neuen Askese’. Curtius befürwortete ‘eine Wiederbegegnung mit dem Mittelalter’. Man sollte jedoch Deutscher Geist in Gefahr und Im Schatten von morgen nicht auf solche Schlagwörter reduzieren: das würde eine karikaturale Verzerrung ergeben. In beiden Büchern wird aktuelle Zeitkritik großen Stils auf kulturkritischer Grundlage getrieben, und zwar, ungeachtet des ganz verschiedenen Aufbaus, in einer sehr ähnlichen Weise. Davon seien einige besonders frappante Beispiele angeführt. Huizinga sprach von der ‘Allgemeinen Schwächung der Urteilskraft’ und von dem ‘Niedergang des kritischen Bedürfnisses’,Ga naar voetnoot40. Curtius von ‘dem rapiden Abbau wissenschaftlicher Strenge und intellektueller Zucht’;Ga naar voetnoot41. er konstatierte: ‘Man kann heutzutage in den sogenannten führenden Schichten einen fortschreitenden Bildungsabbau bemerken’.Ga naar voetnoot42. Beide kehrten sich gegen den Kult des Irrationalen. Huizinga: Wenn frühere Geistesströmungen dem logischen Instrument, der Vernunft, die Lehenstreue einmal gekündigt haben, dann geschah es stets zugunsten des Übervernünftigen. Die Kultur, die heute den Ton angeben will, sieht nicht allein von der Vernunft ab, sondern auch vom Intelligibelen selbst, und dies zugunsten des Unvernünftigen, der Triebe und Instinkte.Ga naar voetnoot43.
Curtius: Der Appell an das Irrationale ist eine sehr zweischneidige Waffe. Denn es umfaßt nicht nur das, was höher ist als alle Vernunft, sondern auch das Untervernünftige und das Unvernünftige... Der vielgepriesene moderne Irrationalismus hat hier sei- | |
[pagina 328]
| |
nen Gipfelpunkt erreicht und sein Meisterstück geliefert. Wir sind so weit, daß die Vertreter des geistigen Prinzips selber den Geist bekämpfen - weil sie sich seiner schämen.Ga naar voetnoot44.
Im Kapitel ‘Kult des Lebens’ liest man bei Huizinga: ‘Das Besessensein vom Leben ist, um in der Terminologie seiner Propheten zu bleiben, als eine Erscheinung übermäßiger Vollblütigkeit zu betrachten’.Ga naar voetnoot45. Bei Curtius begegnet man in analogem Zusammenhang einer dialektischen Wendung: ‘Was dem Idealismus an bluthafter Fülle fehlte, das fehlte dem Vitalismus an geistiger Macht und ideeller Gestaltungskraft. Alle dieser [sic] Bewegungen sind darum letzten Endes romantische Sackgassen, wo nicht Schlimmeres’.Ga naar voetnoot46. Gleichen Sinnes waren Curtius und Huizinga auch in Hinsicht auf die modische Inflation des Begriffes Mythos. Huizinga: Es interessiert nicht mehr, ob der geistige Stoff auf seinen Wahrheitsgehalt hin geprüft werden kann. Der Erfolg des Begriffes Mythus ist hierfür das bedeutsamste Beispiel. Man anerkennt eine Darstellung, in welcher die Elemente Wunsch und Phantasie bewußt zugelassen werden, aber die nichtsdestoweniger als Geschichte proklamiert und zur Richtschnur des Lebens erhoben wird.Ga naar voetnoot47.
Curtius: ‘Mit einem neuen Mythos ist heute wenig mehr zu gewinnen; besonders wenn dieser Mythos nicht spontan, sondern der taktischen Reflexion entsprungen ist, man müsse einen Mythos haben’.Ga naar voetnoot48. Die letzte Wendung erinnert dann wieder an Huizingas treffende Bemerkung in der mit dem Schatten-Buch fast gleichzeitigen Flugschrift Nederland's geestesmerk: ‘Man kann nicht nach dem Heroischen streben’. (VII, 286) Bekanntlich war einer der schärfsten Pfeile, die Huizinga gegen die faschistische Geistesverfassung richtete, die gut gefundene Bezeichnung ‘Puerilismus’: Puerilismus wollen wir die Haltung einer Gemeinschaft nennen, die sich unmündiger benimmt, als der Stand ihres Unterscheidungsvermögens ihr erlauben würde, einer Gemeinschaft, die, statt den Knaben zum Mann zu erziehen, ihr eigenes Verhalten demjenigen der Knabenzeit angleicht.Ga naar voetnoot49.
Auch in dieser Hinsicht bietet Deutscher Geist in Gefahr entsprechendes: ‘Man muß die Dinge beim Namen nennen und feststellen, daß Deutschland von einer Juvenilitätspsychose befallen ist’.Ga naar voetnoot50. | |
[pagina 329]
| |
Um Deutscher Geist in Gefahr Recht widerfahren zu lassen, möchte ich noch einiges aus den letzten Seiten zitieren, so daß sich deutlicher abzeichnet, welche Bewandtnis es mit Curtius' Mediaevalismus hat: Wenn es... wahr ist, daß vor uns dunkle Jahrhunderte und spätere helle Renaissancen liegen, so folgt daraus, daß der Humanismus von heute weder an die Antike noch an die Renaissance anknüpfen darf; daß er vielmehr an das Mittelalter anknüpfen muß. Der neue Humanismus wird also, um es ganz klar und konkret zu sagen, nicht Klassizismus und Renaissanceschwärmerei, sondern Mediaevalismus und Restaurationsgesinnung sein müssen... Nicht Pindar und Sophokles, wohl aber die erlauchten Gründer unseres Abendlandes von Augustinus bis Dante können uns die Kräfte darbieten, die wir heute am nötigsten brauchen. Das ist die Form, in der sich humanistische Selbstbegegnung und Selbstbestimmung heute vollziehen muß.Ga naar voetnoot51.
Eins ist deutlich: in ganz groben Umrissen wird hier das Programm des 16 Jahre später erschienenen Buches Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter gegeben. Damit haben wir den dritten Bereich unserer Darlegung betreten. Es hat, dünkt mich, keinen Sinn, zwei so ganz verschiedene Bücher wie Huizingas Herbst des Mittelalters und das magnum opus von Curtius zu vergleichen. Statt dessen will ich beider Mittelalter-Erlebnis an einem Doppel-Beispiel illustrieren, das sie in dem Banne des gleichen genius loci zeigt. In Huizingas wenig bekanntem Büchlein Amerika levend en denkend kommt eine Notiz vor, die modern-amerikanische und mittelalterliche Lebensform miteinander konfrontiert: Golf und Auto, Film und flüchtige Lektüre, ‘bathing’ und ‘camping’ und sogar der Gang ins Konzert, was sind es als Kulturformen!
In einem gleichfalls autobiographischen Absatz berichtet Curtius über eine Rheinreise, die er als Achtzehnjähriger machte: Unser Endpunkt war Köln. Dort stand - damals noch - Maria im Capitol. Diese Kirche... tat's mir an, mehr als alles andere. Was lag alles in diesen Worten: Maria-Capitol! Christentum und Römertum; leiblich berührt, geschichtlich bestätigt; in einem Bau verschmolzen und gewährt; gegenwärtig.Ga naar voetnoot52. | |
[pagina 330]
| |
So war die Kölner Sankt Maria im Kapitol für beide eine mit gleicher Inbrunst verehrte Stätte und der Anlaß, einige - übrigens sehr verschiedene - Gedanken vorzubringen, die ihnen ganz besonders nahe gingen. Merkwürdigerweise, aber darum nicht weniger sinngemäß, hätte noch ein Dritter in ihren Hymnus einstimmen können. In dem zweiten Bande von Kaegis Burckhardt-Biographie findet sich die Reproduktion einer Sepiamalerei, ‘Auf dem Capitol in Kölln’ intituliert, die dem Bonner Aufenthalt des Sommers 1841 entstammt.Ga naar voetnoot53. Jacob Burckhardt war für Curtius und Huizinga beide der vorbildliche Außenseiter. Im Schatten vom morgen führt ihn auf als den Mann, ‘der die Unzulänglichkeiten seines Jahrhunderts tiefer sah und schärfer abwies als irgendjemand’.Ga naar voetnoot54. Deutscher Geist in Gefahr macht ihn zum Patron derjenigen, die [gleichsam] leise beiseite [treten], weil ihnen das Schauspiel nicht behagt, das sich auf der Bühne der deutschen Öffentlichkeit abspielt. Sie sind die Stillen im Lande und können trotz ihrer individualistischen Absonderung, trotz ihrer Zerstreuung, eine wichtige Aufgabe für das Ganze erfüllen, indem sie sich begreifen als Traditionsträger, die unser gefährdetes Erbgut bergen und einer späteren Zeit übermitteln.Ga naar voetnoot55.
Aufdeckung und Bewahrung der abendländischen Traditionen war eben das Ziel, das Curtius sich mit den weitausgreifenden Studien über das Lateinische Mittelalter (1938-1944), die die Vorarbeiten abgaben für das 1948 erschienene Hauptwerk, steckte. Selber sagte Curtius über diese Studien, daß sie ihm ‘während des Krieges ein willkommenes geistiges Alibi boten’.Ga naar voetnoot56. In einem gewissen Sinne konstituierten sie seine persönliche Form der inneren Emigration. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Treffend hat Arthur R. Evans, Jr., in seinem gehaltvollen Aufsatz ‘Ernst Robert Curtius’, bemerkt: his wartime studies were a series of Streitschriften, the inevitable sequel to his Deutscher Geist in Gefahr. His ivory tower was in reality a command post from which he defended the values of a way of life and thought which reach back to antiquity.Ga naar voetnoot57.
Bei alledem war seine Methode ein in eminentem Sinne wissenschaftliches Verfahren, und zwar das philologische. Wir betreten also den vierten Bereich unserer Ausführungen. Schon im Wintersemester 1929-30 konnte es vorkommen, daß Curtius, entgegen geisteswissenschaftlichen Exzessen, darauf hinwies, daß es die erste Pflicht des Literaturwissenschaftlers sei, den Text philologisch zu verstehen. Jetzt erhielt das Philologische einen neuen Nachdruck. Man kann sagen, daß Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter von einem philologischen Ethos | |
[pagina 331]
| |
durchzogen ist. An einigen Stellen hat Curtius darüber Rechenschaft gegeben. So z.B. gleich im ersten Kapitel: Ein Buch ist, abgesehen von allem anderen, ein ‘Text’. Man versteht ihn oder versteht ihn nicht. Er enthält vielleicht ‘schwierige’ Stellen. Man braucht eine Technik, um sie aufzuschließen. Sie heißt Philologie. Da die Literaturwissenschaft es mit Texten zu tun hat, ist sie ohne Philologie hilflos. Keine Intuition und Wesensschau kann diesen Mangel ersetzen.Ga naar voetnoot58.
Dann wiederum am Anfang des 13. Kapitels, wenn der mehr als zur Hälfte zurückgelegte Weg einen Rückblick gestattet: Unsere Betrachtung ging von der geschichtlichen Lebenseinheit des mittelmeerischnordischen Abendlandes aus. Das Ziel war, sie auch für die Literatur zu erweisen. Es mußten also Kontinuitäten sichtbar gemacht werden, die bisher übersehen wurden. Eine Technik philologischen Mikroskopierens erlaubte uns, in Texten verschiedenster Herkunft Elemente von identischer Struktur aufzudecken, die wir als Ausdruckskonstanten der europäischen Literatur auffassen durften.Ga naar voetnoot59.
Man beachte die Wörter: ‘eine Technik philologischen Mikroskopierens’. Das philologische Ethos manifestierte sich vor allem in der Beachtung des Kleinen und Kleinsten. Man weiß, daß seine Aufmerksamkeit besonders den loci communes, den topoi galt. An den Kontinuitäten einzelner topoi sollte die Kontinuität abendländischer Literatur exemplifiziert und zur Anschauung gebracht werden. So wurde Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter anstatt zu einer Literaturgeschichte zu einem Panorama, das, in einem Perspektivismus differenziertester Art, die literarische Tradition des Abendlandes vor uns ausbreitete.Ga naar voetnoot60. Heute hat man die Neigung, Curtius und Toposforschung zu identifizieren. Zu Unrecht, denn auf wie vielen anderen Gebieten und mit wie vielen anderen Methoden hatte er sich nicht bewährt! Aber es scheint mir unbestreitbar daß die Philologie der Aktivität seines Alters die Signatur gab. Dabei sollte man übrigens nicht nur an die Toposforschung denken: ein anderes Gebiet, das er mit leidenschaftlicher Hingabe bearbeitete, war das der historischen Semantik. Vielsagend ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung die er in einer Vorlesung machte: ‘Es gibt nichts Interessanteres, als sich auf die Geschichte eines Wortes zu besinnen: wenn man sich auf Wörter besinnt, so stößt man immer auf Sachen’. Er war der Meinung, daß die zeitgenössische Literaturwissenschaft in dieser Hinsicht versagte. Der erste Paragraph des 8. Kapitels seines großen Buches beginnt mit dem lapidaren Satze: Die moderne ‘Literaturwissenschaft’ [wohl bemerkt zwischen Distanz-schaffenden Anführungszeichen!] hat es bisher versäumt, den Grund zu legen, auf dem allein sie | |
[pagina 332]
| |
ein haltbares Gebäude errichten könnte: eine Geschichte der literarischen Terminologie.Ga naar voetnoot61.
Es war nur natürlich, daß er sich daran machte, für seinen Teil diese Lücke auszufüllen. Wenn dann weiterhin sich zum Beispiel herausstellt, ‘daß seit der Spätantike das Wort Philosophie sehr Verschiedenes bedeuten konnte’, läßt er mit sichtbarer Genugtuung folgen: ‘So finden wir uns wieder einmal auf eine terminologische Untersuchung hingewiesen’.Ga naar voetnoot62. Andere Wörter, denen Curtius seine durchdringende Aufmerksamkeit zuwandte, waren ‘civilisation’Ga naar voetnoot63. und ‘Bildung’.Ga naar voetnoot64. Es würde mich wundern, wenn dem Huizinga-Leser hier nicht eine Art déjà-vu-Erlebnis aufginge. Und in der Tat wird die Beweisführung eines Buches wie Im Schatten von morgen u.a. gekennzeichnet durch die Häufigkeit, mit der an die semantische Besinnung appelliert wird. Ich nenne nur ‘Fortschritt’, ‘Kultur’, ‘Evolution’, ‘slogan’, ‘existentiell’. Zweifelsohne wäre es plausibel, diese Neigung Huizingas auf seine anfänglichen linguistischen Studien zurückzuführen, aber damit würde man der Funktion der Semantik in seinen späteren Arbeiten kaum gerecht. Allem Anschein nach spürte er das Bedürfnis, die weitmaschigen kulturhistorischen Perspektiven, die er skizzierte, durch philologische Feinarbeit zu unterbauen. Hier manifestiert sich eben die gleiche Polarität von Makro- und Mikroskopie, die für Curtius' Arbeitsweise in zunehmendem Maße kennzeichnend war. Derselbe Curtius, der sich eingehend mit dem Gestrüpp der topoi befaßte, konnte, in fast Nietzscheschem Stile, sagen: ‘Nur wer sich gewöhnt, Jahrhunderte zusammen zu schauen, kann hoffen, vom Wesen der menschlichen Dinge etwas zu verstehen’.Ga naar voetnoot65. Für beide, Huizinga und Curtius, gilt, daß philologisches Verfahren den exakten Pol ihres Forschens konstituierte. Huizinga hat das Buch Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter nicht mehr lesen können. Hätte er es gekannt, es wäre ihm eine Erfüllung gewesen. Um diese kühne These zu erhärten, muß ich mich auf mündliche Überlieferung berufen: eine Prozedur von deren Gefahren ich mir durchaus bewußt bin! Dabei möchte ich die Gelegenheit ergreifen, für die Zukunft einen bemerkenswerten Umstand festzulegen, der den Wenigsten bekannt sein dürfte. Im August 1944 begegnete ich in Arnheim einer hochbegabten Schülerin Huizingas, Petronella Fransen. Besonders beeindruckte mich, daß sie ihre ‘grandes et petites entrées’ bei dem wenig zugänglichen Huizinga hatte, der damals in dem 10 Kilometer entfernten Dorfe De Steeg seine Verbannung fristete. Die Befreiung Hollands stand vor der Tür. Glücklicherweise konnte man nicht wissen, was alles an Düsterem sich ereignen sollte, | |
[pagina 333]
| |
bevor die Sonne der Freiheit leuchtete, etwa - damit ich mich auf den nächsten Umkreis beschränke - daß Arnheim nach wenigen Wochen zum Schlachtfeld Europas wurde, daß Huizinga den Schreckenswinter 1944-45 nicht überlebte, daß Ella Fransen im Oktober 1944 bei einem Bombardement auf der Brücke vor Zutphen vom Tode ereilt wurde. Sie hatte bei Huizinga ihren Doktor gemacht und in ganz besonderem Maße sein Vertrauen genossen. Welchem Umstand verdankte Ella Fransen ihre privilegierte Stellung? Nach ihrer eigenen Mitteilung lag es an einem Glücksfund, der ihr als Kandidatin in einem Übungskolleg Huizingas gelungen war. Als allgemeines Thema hatte der Meister das Werk Edmund Burkes gewählt (die Wahl scheint mir typisch für den Traditionalisten Huizinga!). Fräulein Fransen hatte die Reden gegen Warren Hastings zugeteilt bekommen. An diesem Punkt erlaube man mir eine Parenthese. Um meine Erinnerungen an das Jahr 1944 wenigstens teilweise zu überprüfen, schlug ich die ‘Stellingen’ nach, die Thesen, die, ehrwürdigem Brauchtum zufolge, auch der Dissertation der Doktoranda Fransen beigegeben waren.Ga naar voetnoot66. In der Tat fand ich da eine - die dritte -, die sich auf Edmund Burke bezieht. Ich übersetze: ‘Es ist als eine erhebliche Lücke in Th. Zielinskis “Cicero im Wandel der Jahrhunderte” anzusehen, daß in diesem Buche der Name Edmund Burke (1729-1797) fehlt’. Warum war diese Lücke dem verdienstvollen Latinisten so schwer anzurechnen? In gewissem Sinne hätte Fräulein Fransen Grund gehabt, ihm dankbar zu sein, daß er eine äußerst treffende Analogie übersehen hatte. Burke war bekanntlich der Ankläger im Prozeß gegen Warren Hastings, wegen der Erpressungen und anderer Frevel, deren dieser sich in Vorindien schuldig gemacht haben sollte. Cicero - nun, jeder gute Gymnasiast weiß von seinem Vorgehen gegen Verres, den Halsabschneider Siziliens. Ella Fransen war zweifelsohne eine sehr gute Gymnasiastin gewesen. Die situationelle Analogie hat irgendwie bei ihr gezündet. Da galt es, philologische Arbeit zu leisten, In Verrem und die Speeches on the Impeachment of Warren Hastings, Esq. textuell zu vergleichen. Es zeigte sich, daß Burke stellenweise seine oratorische Kunst bis in die Redewendungen hinein auf Cicero modelliert hatte! Man vergegenwärtige sich, wie sehr dieses Ergebnis Huizinga angesprochen haben muß. Hier war Tradition handgreiflich gemacht, und zwar in einem Sinne, mit dem er sich ganz speziell befaßt hatte. War nicht seine Leidener Antrittsvorlesung den ‘Historischen Lebensidealen’ gewidmet gewesen? Und war nicht einer der darin behandelten Aspekte eben das an Karl dem Kühnen, Karl XII von Schweden, Ludwig XVI exemplifizierte Phänomen der von historischen Vorbildern bestimmten Modellierung? (IV, 413) Aber eigentlich liegt mir noch etwas Anderes im Sinne. Wie gesagt, das Ciceronianische Vorbild ragte bis in Burkes Redewendungen hinein. Wahrscheinlich hat die Kandidatin Fransen das | |
[pagina 334]
| |
jetzt so geläufige Wort nicht gebraucht, aber man wird mir einräumen, daß es sich hier um topoi gehandelt haben muß. Eine glänzend gelungene Toposforschung hatte genügt, um sie in eminentem Sinne zur Schülerin Huizingas zu machen. Das besagt meines Erachtens, daß idealiter und finaliter Curtius und Huizinga einander begegneten in einem historisch-philologischen Perspektivismus. |
|