Bijdragen en Mededelingen van het Historisch Genootschap. Deel 79
(1965)– [tijdschrift] Bijdragen en Mededeelingen van het Historisch Genootschap– Auteursrechtelijk beschermd
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Politischer Neustoizismus und Niederländische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen.
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päische Gesamtentwicklung des Jahrhunderts tief beeinflussende Anstoß zu einer modernen Staatsstruktur und Kulturbildung breitete sich rasant über die Grenzen der jüngsten europäischen Macht aus. Er zog die Angehörigen vieler Völker zum Studium von Wissenschaft und Künsten, Militärwesen und Staatsfinanzen, Handel und Wirtschaft an ihre Universitäten. Das erste Jahrhundert der 1575 gegründeten Universität Leiden fällt in jene Epoche Europas, in der sich für die meisten Monarchien die große Wandlung vom konfessionell-ständestaatlichen Gemeinwesen zur Durchsetzung eines moralisch-naturrechtlich gebundenen ‘Absolutismus’ vollzog. Die heutige politische Ideengeschichte blickt unter dem Eindruck der Verfassungskämpfe des 19. Jahrhunderts bei diesem Wandel zuerst auf die Machtverteilung und den Machtgebrauch, sie erörtert die unendlichen Debatten zwischen Ständen und Fürsten, bemächtigt sich der Fragen von Souveränität, Staatsräson und Absolutismus. Dagegen werden bisher die Erörterungen über die Bildung neuer und die Erweiterung vorhandener Macht als eine Voraussetzung des sich ausbildenden modernen, des postfeudalen Staates kaum erforscht. Die in der politischen Praxis verwirklichten Theorien der Intensivierung und Disziplinierung, der Anspannung und Vermachtung des öffentlichen Lebens bleiben ziemlich unbeachtet, denn es herrscht die Meinung, daß die Wirklichkeit der Staatsgestaltung einer solchen Überlegung oder gar weisenden Theorie nicht bedurft hätte. Ausbau und Formung des Heerwesens und der Staatsfinanzen, zwei der wichtigsten Instrumente der Staatlichkeit des 16. und 17. Jahrhunderts, hätten sich allein aus der militärisch-politischen Notwendigkeit ergeben, in der Realität entfaltet; alle Antriebe zur Entwicklung seien dort zu suchen. So ließ man die mehr gouvernemental-praktischen Theorien jener Zeit gegenüber den rechtsund staatsphilosophisch interessanten Diskussionen, die noch der Gegenwart Dienste leisteten, weithin ununtersuchtGa naar voetnoot1. Mein | |
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langsam gereiftes Verständnis der Dinge stützt sich auf langjährige Forschungen, die ich hier nicht ausbreiten kann. Ich muß mich stets auf ihre verkürzte Wiedergabe im Rahmen meines Themas beschränkenGa naar voetnoot1. | |
IDer politische Späthumanismus, wie er in den Niederlanden begründet und weitergegeben worden ist, wandte sich gerade den obengenannten praktischen Aufgaben, dem politischen Unterricht für die Regierenden, dem Aufbau des Militärs und der Administration, zu. Hugo Grotius' Lebenswerk, das in diesem Zusammenhang zu nennen ist, besteht nicht nur in der Theorie der Hegung des Krieges und in der Humanisierung der in einem chaotischen Naturzustand befindlichen zwischenstaatlichen Beziehungen, er durchdachte vielmehr alle innerstaatlichen Aufgaben der Zeit und die Möglichkeiten, diese am gerechtesten zu bewältigen. Das grotianische Natur-, Völker- und Staatsrecht stellt bereits eine zweite Stufe in der Entwicklung des niederländischen Späthumanismus dar. Ihr voraus gingen Justus Lipsius und die Denker, die in der Krise des konfessionellen | |
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Zeitalters die Theorie einer starken, militärisch gestützten und autoritären Staatsmacht durchdachten und in ihren Handbüchern vertraten. Damit eng verbunden war die Vorstellung einer gemäßigten, durch religiöse, moralische und rechtliche Prinzipien gebundenen Staatsführung. Beide Stufen des späthumanistischen Staats- und Rechtsdenkens lassen sich nicht scharf voneinander trennen. Sie hängen in Fragestellung und Antwort zusammen, ganz abgesehen von der unmittelbaren Berührung des jungen Grotius mit dem alten Lipsius. Die gleiche Anschauung über viele Probleme ruht auch auf der bisher unerkannten gemeinsamen Kenntnis der spanischen Rechts- und Staatslehren, die der eine, Lipsius, bereits beobachtete und verarbeitete, der andere, Grotius, in den Mittelpunkt stellte und in neuem Ansatz weiterführte. Daß Lipsius über die Werke der spanischen Spätscholastiker seiner Zeit korrespondierte, hat noch kein Forscher gesehen und dargestellt. Welches sind nun die Beweggründe für die politische Ausrichtung des Späthumanismus auf niederländischem Boden gewesen? Sie liegen wohl 1. in dem eigenartigen Werdegang des in sich theologisch nicht gefestigten, aber nach außen zu verteidigenden nordniederländischen Gemeinwesens; 2. in den geistigen Auswirkungen des militärisch-politischen Kampfes gegen den konfessionell-administrativen Absolutismus Philipps II.; 3. in den allgemeinen Bedingungen der Staatenwelt, verursacht durch die Religionskriege und die Gegenreformation; und schließlich 4. in dem Lebensgang der beiden niederländischen Gelehrten Lipsius und Grotius selbst. Zunächst schien der durch Erasmus bestimmte Humanismus wenig direkte Beziehungen zum werdenden modernen Staat und zum europäischen Staatensystem zu besitzen. Gewiß haben die politischen Gedankengänge des Großen aus Rotterdam in führenden Kreisen, z.B. auf dem spannungsreichen Augsburger Reichstag von 1530, eine Rolle gespieltGa naar voetnoot1. Die Anhänger des Erasmus trugen in beide Konfessionen die Bereitschaft zu friedlichem Ausgleich, bis durch das Trienter Konzil auf der einen Seite der religiös-politische Kampf um den großen Humanisten entschieden wurde. So war es in den nördlichen Niederlanden ein Ereignis, als der reformierte Theologe Martin Lydius, ein Freund und Kritiker des Lipsius, schon um 1589 ‘die Übereinstimmung der erasmischen Lehre mit dem | |
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Protestantismus’ nachzuweisen suchteGa naar voetnoot1. Die Auseinandersetzungen des Erasmus mit dem Papsttum und den kirchlichen Mißbräuchen wurden nun im Sinne der konfessionspolitischen Gegenwart ausgelegt. Die unmittelbaren Schüler des Lipsius, seine direkten Nachfolger auf dem Leidener Lehrstuhl Paulus Merula und Dominicus Baudius, auch Petrus Scriverius oder Jacobus Arminius, haben sich dann des erasmischen Werkes angenommen, u.a. das Compendium vitae, die Autobiographie von 1524, zum erstenmal veröffentlicht. Die Besinnung auf Werk und Geist von Erasmus im Leidener Philologen- und Theologenkreis, bei den Lipsianern und den Arminianern, denen Grotius sich verbunden fühlte, scheint mir charakteristisch für die Freiheit und die Weite des Denkens, in der und zu der Lipsius seine Anhänger erzogen hat. Aber nicht unmittelbar von diesem Gedankengut ist der Anstoß zu dem geschlossenen weltanschaulich-politischen System des Neustoizismus gekommen, vielmehr bewirkten die politisch-religiöse Situation und die Lebensumstände jene wohl typisch niederländische Hinwendung zum Konkret-Staatlichen in der Theorie. Vergegenwärtigen wir uns kurz die allgemeine Problematik im Zeitalter der Konfessionskriege. Diese waren ebensosehr großmächtliche Kämpfe wie interne Bürgerkriege, meist beides zugleich, äußere und innere Auseinandersetzungen um die neue Staatlichkeit. Der teilweise revolutionäre politisch-religiöse Gestaltwandel der ersten Hälfte des Jahrhunderts verschärfte sich in vielen Staaten Europas seit den 60er Jahren zum Krisenhaften. Die Bezeichnung ‘Krise’ ist für alle möglichen Übergangszustände modern geworden und heute zur Klärung sehr komplizierter Erscheinungen schnell zur Hand. Mit dem bloßen Begriff ist jedoch nichts gewonnen, denn in der Geschichte sind alle Zeiten der Eruptionen und des Werdens von Neuem, das das Alte bedroht und, weil das Alte nicht weichen will, mit Gewalt an seine Stelle zu treten sucht, Krisenzeiten. Die Krise ist geradezu der nicht gewünschte, aber einmal gegebene Normalzustand vehementer Entwicklungen. Darum besagt der viel benutzte Begriff wenig. Ich verstehe hier darunter den fieberhaften Verlust und Untergang von öffentlicher Ordnung, politischer und privater Zucht sowie persönlicher Sicherheit als Folge des Schwundes oder der Überhitzung kirchlicher Auto- | |
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ritäten und des Versagens oder der Auflösung älterer politischer Gewalten. Umfang und Ausmaß der Krise wechseln im Laufe eines erbitterten ideologischen und militärischen Kampfes der kirchlichen Parteien und im Fortgang einer ebenso heftigen, teils blutigen Auseinandersetzung zwischen der lokalen und regionalen Ständemacht und der fürstlichen Zentralgewalt. Ich bin mir bewußt, nur eine Seite des komplexen Geschehens herauszuheben, in das auch ökonomisch-soziale Momente hineinspielen, aber ich hoffe, das Zentrum der Krise zu benennen und in parte pro toto einen Spiegel zu erhalten, in dem alle Fragenkreise aufgefangen werden können. In der religiösen Spaltung der Welt fehlte auf staatlichem und moralischem, auf militärischem und sozialem Gebiet ein allgemein verbindliches Prinzip; vielmehr rangen zwei Glaubensrichtungen miteinander um die neuen Ordnungen. Die mittelalterliche, in der Historie oft überschätzte geistige Einheit war gewiß schon früher zerstört worden, aber erst infolge der protestantischen Revolution wie der katholischen Reformation standen sich überall aufs äußerste bekämpfende Parteien gegenüber. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts traten die beiden gewaltigen militanten Bewegungen, der erneuerte Katholizismus unter Führung des Jesuitentums und der Calvinismus als Vertreter der bedrängten protestantischen Minderheiten, hervor. In den europäischen Ländern vollzog sich, verstärkt durch die Kriege und Verschiebungen im europäischen Staatensystem, mehr oder weniger deutlich die Wandlung zum postfeudalen, zum modernen Staat, vielfach im Zeichen eines gemäßigten Frühabsolutismus. Die Stände - insbesondere der Adel - versuchten, eine innere Neuordnung durch das erstarkende Fürstentum aus berechtigter Furcht vor dem Verlust ihrer Privilegien zu verhindern. Die nur für einen festen Zweck und auf kurze Zeit ad hoc angeworbenen Soldtruppen, ohne jede politisch-ethische Bindung ihrer Befehlshaber, einer internationalen militärisch-ökonomischen Unternehmerschicht, bewiesen eine erschreckende, oft beschriebene Disziplinlosigkeit. Die Landes- und Polizeiordnungen der europäischen Staaten und die entsprechenden Kirchenordnungen mühten sich um die Aufrichtung weltlicher oder geistlicher Zucht und Autorität. Die schlimmsten aller Kämpfe, die ideologischen Bürgerkriege, die sich zudem über Jahrzehnte erstreckten, steigerten die Disziplinlosigkeit und Unsicherheit aufs höchste. Frankreich war zunächst besonders betroffen. Von 1562 bis | |
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1598 wurde das Land durch die aus der konfessionellen Spaltung entstandenen und zum Kampf zwischen Krone und Adel gesteigerten Bürgerkriege zerrissen und ruiniert. Die niederländischen Territorien durchfegte 1566 der calvinistische Bildersturm; anschließend brachte das Regiment Albas die Todesurteile gegen die Vertreter der neuen Religion und zugleich die Härte des modernen Staates in Form scharfer Steuererhebungen. Seitdem währte die Auseinandersetzung in den niederländischen Provinzen, militärisch verkörpert im Kampf Wilhelms von Oranien und seiner Söhne Moritz und Friedrich Heinrich gegen Philipp II. und dessen Nachfolger. Aber auch in Deutschland, das noch nicht von der Furie seines 30 jährigen Krieges getroffen war, herrschte trotz des reichsrechtlichen Kompromisses im Augsburger Religionsfrieden nach 1555 der kalte Krieg zwischen den drei Konfessionen und unter den konfessionalisierten Territorien, der ständig seine Opfer forderte. In den Räumen seiner unmittelbaren Lebenserfahrung, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland, sah sich Lipsius in diese Ereignisse verstrickt. Er floh vor den Unruhen seiner Heimat, um bald in Wien am Kaiserhof und als Universitätsprofessor im lutherischen Jena neuen zu begegnenGa naar voetnoot1. Im Zeitalter der Gegenreformation löste sich durch die intensive Durchdringung von Politik und Religion, von Staat und Kirche, die ja noch das gesamte äußere und innere Kultur- und Bildungssystem bis zur Feiertagsgestaltung bestimmte, vielfach die staatliche Ordnung auf. Eine Epoche, deren Grundproblematik wir heute im Zeitalter der ideologischen Konflikte eher erkennen können als die Generationen vor uns. Die tiefen religiösen Erregungen, die verschiedenartigen Frömmigkeits- und Freiheitsbegriffe erfaßten die Gruppen wie den Einzelnen, trennten zusammengehörige Länder und zerschnitten Völker und Familien. Denn die Theologie herrschte oft unbestritten im öffentlichen Leben, und ihre Meinungsverschiedenheiten griffen tief in die Existenz der Menschen ein. Die Führer der Religionsparteien rangen um politischen Einfluß und um die Kontrolle der Macht im eigenen Lande. Sie fühlten sich darüber hinaus berechtigt und verpflichtet, ihre Partei in den anderen Staaten moralisch, politisch und militärisch zu unterstützen. Die Frage des Überlebens in den immer schärfer werdenden | |
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Verfolgungen wurde für die dogmatisch nicht gebundene, zwischen den konfessionellen Gruppen und ihrem Fanatismus existierende Schicht zu einer Lebensfrage. So entstand zuerst in Frankreich aus der humanistischen Jurisprudenz die Partei der Politiker unter dem Kanzler L'Hopital, der nicht von dem konfessionellen Kampfgedanken, sondern von den staatlichen Bedürfnissen ausging und bewußt die Politik über die Religion stellteGa naar voetnoot1. Lipsius begrüßte den Druck von L'Hopitals WerkenGa naar voetnoot2. Nun erhob sich inmitten des Kampfes der ständisch-freiheitlichen Partei im protestantisch-calvinistisch geprägten Norden der Niederlande mit der ersten Militärmacht Europas, dem katholischzentralistischen Spanien, ein wirksamer geistiger Faktor: der politische Neustoizismus, Erbe und Fortsetzer des europäischen Humanismus. Denn als alle Bemühungen Wilhelms von Oranien um die Durchsetzung der Toleranz in seinem Bereich scheiterten und die von seinem Begleiter, dem Hugenotten Duplessis-Mornay, übersetzten Schriften Castellios für Glaubensfreiheit und gegen Ketzerverfolgung erfolglos blieben, wurde aus der stoischen Tradition des 16. Jahrhunderts die neue Philosophie und Staatslehre geboren, die Versöhnung und Kampf miteinander vereinigte. Ethik, Psychologie und Anthropologie der antiken Stoa standen im Vordergrund des Humanismus und seines Eklektizismus. Die entscheidende Bedeutung jenes Stoizismus für die allgemeine philosophische Bewegung der frühen Neuzeit hat Wilhelm Dilthey als erster erkannt. Die weitere Einzelforschung in der europäischen Literatur- und Geistesgeschichte hat seine Dar- | |
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stellung vollauf bestätigt. Jüngst auch ist die große Kraft des stoischen Gedankengutes bei den spanischen Naturrechtsdenkern seit Franz von Vitoria aufgezeigt wordenGa naar voetnoot1. Es ergibt sich das einzigartige Bild, daß fast jede der großen Persönlichkeiten seit der Hochrenaissance mit der stoischen Philosophie direkt oder indirekt in Berührung gekommen ist. Nach dem Einsetzen der mannigfachen Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare gerade der römischen Stoiker Epiktet, Marc Aurel und Seneca wurden ihre Lebenswerte durch die Essais Montaignes und besonders durch das Lebenswerk von Justus Lipsius, Guillaume du Vair und Pierre Charron zum Allgemeinbesitz der Gebildeten um 1600. Seitdem fließt der Strom römisch-stoischen Gedankengutes in christlicher Anpassung oder versteckter Feindschaft zu den Konfessionen, zumeist bewußt überkonfessionell. Erst vor kurzem hat der Soziologe Alexander Rüstow auf diesen weltanschaulichen Untergrund der europäischen Barockphilosophie und Barockliteratur mit Recht hingewiesen: ‘Der geistige Einfluß der Stoa im 17. und 18. Jahrhundert war ungeheuer und innerhalb der gesamten Nachantike, von Aristoteles abgesehen, weit größer als der aller anderen antiken Philosophien zusammen. Daß wir uns dessen im allgemeinen noch nicht bewußt sind, liegt nur daran, daß es noch keine auch nur von fern ausreichende Darstellung dieses Einflusses gibt und daß stoische Lehren meist anonym auftraten und infolgedessen | |
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heute oft übersehen werden’Ga naar voetnoot1. Die Ethik der römischen Stoa wurde in Frankreich und England, in Schweden und Deutschland zur Morallehre. Auch Descartes, der seine neue Philosophie in den Niederlanden aller bisherigen Philosophie entgegenstellte, errichtete seine Ethik auf den Handbüchern des stoischen Systems von Justus Lipsius. Der stoisierende Moralismus der Geschichtsschreibung aber war noch weit bis in das Zeitalter der Aufklärung vorherrschend. An der wissenschaftlichen Begründung und Befestigung dieser weltanschaulichen Bewegung hat Justus Lipsius mit seinen Schülern einen hervorragenden Anteil. Mit Recht sieht die Forschung jetzt in ihm den eigentlichen Systematiker des Neustoizismus, einer Lehre, die bestrebt war, dem echten religiösen Bedürfnis des Zeitalters durch ein religiöses, wenn auch undogmatisches Fundament und schließlich durch eine gewisse Anpassung an die christliche Frömmigkeit entgegenzukommen, so daß die Führer des französischen Neustoizismus Geistliche sein konnten: Charron war Priester, du Vair Bischof. Der strenge niederländische Calvinist Philipp Marnix begrüßte sofort das Erscheinen der ‘Constantia’ des Lipsius überschwänglichGa naar voetnoot2. | |
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Constantia, Standhaftigkeit oder Beständigkeit, constance usw. wurde in allen europäischen Sprachen zu einem Kernbegriff des moralisch-weltanschaulichen Empfindens jener Zeit. Dies war die Wirkung des 1584 veröffentlichten, in glänzendem Latein mit rhetorischem Schwung geschriebenen Buches ‘De constantia in malis publicis’. Mit seinen über 50 Auflagen im Lateinischen und den schnellen Übersetzungen in alle modernen Sprachen - die französische erschien sogar gleichzeitig mit dem Original - hat der Niederländer das Ideal des stoischen Weisen erneuert und gewandelt. Geduld und Selbstbeherrschung (patientia et temperantia), Ertragen aller Schicksalsschläge in den Nöten der Zeit, Zügelung der Leidenschaften wurden zum Vorbild, der innere Widerstand war das Gebot der Stunde. Jeder entnahm aus der stoischen Ethik, was er hören wollte und benötigte, aber das Buch wurde doch, wie ich einmal gesagt habe, vornehmlich zur Bibel der Humanisten und aller Kreise, die nicht für die Dogmen der Religionsparteien die Waffen führen wollten. Lipsius lehnte es offen ab, Theologie zu treiben. Sein Anliegen war die Stärkung der Kraft zur Selbstbehauptung, des robur animi. Der Mensch soll in den Schrecken der Bürger- und Religionskriege sich nicht mutlos und verzweifelt zurückziehen, nicht aufgeben, sondern durchstehen und aushalten. Lipsius sah im Schicksal oder in der göttlichen Vorsehung die prima causa. Aber daneben stehen die secundae mediaeque causae, zu denen der freie Wille des Menschen gehört. Gott und Mensch müssen zusammenwirken. In dem Lebensschiff, das Gott steuert, muß jeder tüchtig zum Riemen greifen. Fünf Jahre später stellte er in seiner ‘Politik’ den Bau des modernen Staates als aktive Aufgabe. Lipsius trat für die ratio, das vernünftige Denken, die ruhige, klare Überlegung bei allen Handlungen ein und wandte sich gegen den blinden Nebel der Emotionen und Vorurteile des Meinens, gegen die opinioGa naar voetnoot1. In dieser Philosophie waren manche weltanschaulichen Elemente des militanten Calvinismus und des die Willensfreiheit betonenden Jesuitentums enthalten. Sie bildeten die Grundlage einer aktiveren Haltung auch im politischen Geschehen. Denn, was bisher von der philosophisch- | |
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gelehrten oder literarisch-ästhetischen Forschung wie von Dilthey und seinen Nachfolgern übersehen wurde: der Neustoizismus war die wesentliche Grundlage für das politische System des Späthumanismus. Sein Verhältnis zur Theologie hat Lipsius mehrfach berührt. Er betrachtete sich als Vertreter der praktischen Philosophie. Stolz bekannte er später: e Philologia Philosophiam feci - gemeint war die Praktische Philosophie im Umfang der damaligen Universitätsdisziplin als Ethik, Ökonomie und Politik. Geschrieben hat er nur eine Ethik, die Constantia, und eine Politik, die Politica seu civilis doctrina (1589). In den Vorworten zu beiden Werken sprach er es deutlich aus: meine Aufgabe ist nicht, Theologie zu treiben, sondern Philosophie. Für ihn bedeutete sie Lebenslehre und -weisheit, Führungskunde für den privaten wie den öffentlichen Bereich, für das Individuum wie das Gemeinwesen, für die Regierten wie die Regierenden. Wie kam es zu einer solchen weltanschaulichen Grundlegung der Politik, wie kam insbesondere Lipsius dazu als Lehrer an der Stiftung Wilhelms von Oranien und der Staaten von Holland und Seeland, der Leidener Universität, die zugleich eine Hochschule des protestantisch-calvinistischen Geistes sein sollte? Die auch in Deutschland immer noch verbreitete Vorstellung von einem spezifisch calvinistischen Bollwerk Leiden ist falsch. Die neuere holländische Forschung hat mehrfach den gemischten Charakter der niederländischen Universitäten, das Auseinandertreten der Lebensbetrachtung des Humanismus und des Calvinismus mit Recht betontGa naar voetnoot1. Man kann in der Tat von einem Doppelcharakter der Universitäten sprechen. Die Disziplin der Praktischen Philosophie, die Geschichte und die Rhetorik bewegten sich außerhalb der Theologischen Fakultät, die ‘die treue Wächterin’ über die reinen dogmatischen Prinzipien war. Im Kampf gegen Lambertus Danaeus, der als Professor und Prediger die strenge Genfer Kirchenzucht in Stadt und Hochschule Leiden einführen wollte, wirkten sogar die Bürgermeister, Lipsius und die milderen Theologen 1582 zusammen, um den zu Orthodoxen nach nur einjährigem Wirken zu verdrängen. Als 1589 nach längerer Unterbrechung der Arbeit die ‘Politik’, das Hauptwerk des politischen Neustoizismus, erschien, | |
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hatte sich Lipsius als bewußte oder unbewußte Vorarbeit über 1½ Jahrzehnte mit dem größten römischen Historiker Tacitus beschäftigt. Seine berühmte Tacitus-Ausgabe von 1574 war nicht allein das Werk eines genialen Textkritikers und Philologen, vielmehr war schon hier die Verbindung von Historie und Politik charakteristisch. Der niederländische Humanist aktualisierte in der Einleitung den römischen Geschichtsschreiber und lobte dessen Darstellung als Erfahrungsschatz zur Lösung der Probleme seiner Zeit. Verstärkt zeigte sich diese Tendenz zu einer praktischen Verwertung im Kommentar zum Tacitus (1581). Rom und das Römertum, die Zeit des Prinzipats wurden von Lipsius als Leitbild der Gegenwart immer erneut beschworen. Diese Wiederbelebung des römischen Geistes und der römischen Institutionen hat zu einer Beeinflussung der zivilen und militärischen Einrichtungen des 17. Jahrhunderts geführt, die bisher zu wenig beachtet worden ist. Denn nicht allein ‘die großen allgemeinen Gedanken, die den aufsteigenden Absolutismus fort und fort befruchtet haben... waren wirklich römischer Herkunft’Ga naar voetnoot1. Die erneuerte Überlieferung der Realien durch den Späthumanismus schuf auch die Voraussetzung, um im vorhandenen Parallelismus der antiken und der neuen Geschichte viele bedeutende reale Anverwandlungen vorzunehmen, die die internationale Forschung zum Nachleben der Antike nicht genug berücksichtigtGa naar voetnoot2. Mit Nachdruck hat jedoch Otto Brunner auf die Bedeutung der ‘technischen’ Wissenschaften im Humanismus hingewiesen, nicht nur auf die griechische Medizin und die römische Jurisprudenz. ‘Diesem Typus “tech- | |
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nischer” Wissenschaften, denen noch die antike Kriegswissenschaft und Architekturlehre zuzuzählen sind, gehört nun auch die Agrarlehre an’Ga naar voetnoot1. Die Literatur dieses ‘technischen’ oder ‘realen’ Humanismus, wie ich sagen möchte, blieb im heutigen philologischen Vorfeld liegen. Nicht ihr Umfang, nicht einmal die imponierende Höhe der Auflagen spornte zu ihrer Bearbeitung an. Die Nachahmung der Heereseinrichtungen, die bis in die wörtliche Übernahme der antiken Exerziersprache ging, wurde von der Militärgeschichte allerdings bis ins einzelne nachgewiesenGa naar voetnoot2. Doch daß die Heeresreform der Oranier mit ihrem Ansatz zum miles perpetuus nur ein Teil im politischen Programm des niederländischen Späthumanismus war, wurde nicht gesehen. Man hat nicht zu Unrecht das 17. Jahrhundert als das neurömische bezeichnet. Für Lipsius und seine älteren und jüngeren Zeitgenossen bot die römische Vergangenheit eine Fülle von Beobachtungen, die nun für die Staatsverwaltung und die Gestaltung des öffentlichen Lebens fruchtbar gemacht werden sollten. In der Dedikation seines Tacitus-Kommentars gab Lipsius der niederländischen Regentenschicht den Rat, die Geschichte und die Erfahrung als Grundlagen einer Wissenschaft von der Politik zu nutzen. Seine eigene Tätigkeit als vielbesuchter Lehrer, als vielgelesener Schriftsteller und als anerkannter Herausgeber der klassischen Autoren war stets auf diese praktische Wirkung gerichtet. Sie hat er in der Tat erreicht. Seine Werke und Editionen erlebten - die dreibändige Bibliographie Lipsienne von Van der Haeghen zeigt es uns - eine einmalig hohe Zahl von Ausgaben | |
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bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Die Verbindung von kritisch-praktischer Philologie, Geschichtsforschung und Realwissenschaft zeichnet den Späthumanismus aus. Auf den kritisch edierten Geschichtsschreibern, vornehmlich eben Tacitus, baute Lipsius sein Fachbuch der Politik auf, wie sein eigenes Register bewußt bezeugt. Wenn der Leidener Professor in seiner ‘Politik’ (1589) neben dem üblichen Vorbild Aristoteles ausdrücklich Machiavelli als seinen großen Lehrmeister nannte und sich zu dem Scharfsinn, dem subtilen und dynamischen Ingenium des Italieners bekannte, so wies er auf die Kenntnis und Verarbeitung der bedeutenden italienischen politischen Wissenschaft durch den niederländischen Späthumanismus hin. Im Zeitalter der Gegenreformation, in dem Katholiken wie Protestanten entrüstet die Lehre Machiavellis verdammten, war dies offene Bekenntnis eine mutige Wendung. Nicht zuletzt hat der Vorwurf, den der humanistische Vorkämpfer uneingeschränkter Toleranz, Dirck Coornhert, gegen Lipsius' ‘Politik’ erhob: ‘Ille machiavellisat’, den in der Öffentlichkeit angegriffenen Lipsius mitbewogen, die Nordniederlande zu verlassen. Dabei hatte er solchen Vorwürfen von vornherein die Spitze abbrechen wollen, indem er sich an der gleichen Stelle moralisch von Machiavell distanzierte, da der Italiener den Weg zur Tugend verfehlt habe. Für diesen fehlenden ethischen Untergrund stellte Lipsius nun seine eigene neustoische Philosophie der Constantia bereit. Sie enthielt eine umfassende politische Ethik. Kein Wunder, daß in späteren Ausgaben, auch bei Übersetzungen der Werke, die Constantia und die Politik von den Verlegern zusammen gebunden wurden. Aber wir spüren über die italienische Literatur hinaus in weiten Teilen, z.B. in den Büchern über das Kriegsrecht, die Lehren des spanischen Naturrechts, etwa die Auffassungen von Franz von Vitoria oder Covarruvias, den Lipsius höher als Vasquez einschätzte. Doch in die Diskussion der rechtsphilosophischen und staatstheoretischen Probleme der Spätscholastik über die Entstehung des Staates und die Trägerschaft der politischen Gewalt wollte Lipsius sich nicht einlassen. Er bot vielmehr ein unmittelbares Erziehungs- und Lehrbuch für den Fürsten und den Staatsmann, den Beamten und den Heeresreformer, ein Handbuch der politischen Ethik und Psychologie, ein Fachbuch der zivilen und militärischen Institutionen im modernen Staate. Er trieb keine Rechtsphilosophie, sondern gab eine unmittelbare Regierungshilfe durch die Schilderung von | |
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Staatspraxis und Verwaltungstechnik, durch das Aufzeigen der römischen Grundprinzipien der Herrschaft über Land und Leute und ihrer Verteidigung. Wer allein mit der einseitigen Fragestellung der meisten politischen Theoretiker des 19. Jahrhunderts, wer soll regieren, wer soll die Macht ausüben, an Lipsius herantritt, wird wenig Verständnis für sein Werk aufbringen. Es wird ihm in der Tat kaum Stoff zum Denken und zur Erörterung geben, wie die Fehlurteile auch der bedeutendsten internationalen Geschichtsschreiber der Staats- und Rechtstheorien von Robert von Mohl bis Friedrich Meinecke in Hülle und Fülle offenbaren. Denn es geht hier um ein anderes Problem: wie soll ein in der Krise stehendes Gemeinwesen gelenkt, durch welche Mittel kann ein instrumental und funktionell neu zu ordnender Staat gesichert werden. Es handelt sich nicht um Erörterungen über die Machtverteilung im Innern, um Fragen der Verfassungskämpfe, sondern um praktische Staatslehren zum Aufbau einer festen öffentlichen Ordnung inmitten säkularer Umwälzungen. Als Sprachrohr seiner politischen Gedanken bedient sich Lipsius der Zitate aus den lateinischen und griechischen Schriftstellern. Alle Kommentare zu den eigenen Definitionen, alle vorgetragenen Ansichten werden durch das Gewicht antiker Weisheit bekräftigt. Als ihr Kronzeuge steht Tacitus obenan. Die Historie ist so eindeutig der Magister Politicorum. Der Fürst und seine zivilen und militärischen Helfer stehen im Mittelpunkt der unmittelbaren Ansprache. Ihre Aufgabe sei, Macht und Mäßigung, potentia und modestia, die so weit auseinanderstreben, zu vereinigen. Lipsius' Lehre erstrebt den starken, nach römischem Vorbild geordneten Staat, eine militärische Gewalt und die gemäßigte Benutzung der Macht, wie sie die römischstoische Lebenslehre fordert. Im Fürstenspiegel des 2. Buches erscheinen die hohen Forderungen der politischen Ethik des Neustoizismus, die maiores virtutes der iustitia und clementia, der fides und modestia, nachdem im 1. Buch von der pietas und probitas des Fürsten gehandelt wurde. Wie in der Constantia hält sich Lipsius auch in der Politik von der Heiligen Schrift fern. Seine Gotteslehre ist allein auf antike Denker und Dichter gegründet und wird durch ihre Sentenzen umschrieben. Sein Begriff der Religion zeigt die neustoische, auf die Tat gerichtete Haltung, ‘non in subtilitate religio, sed in factis’. Obwohl Gott alles lenkt und ordnet, die göttliche Vorsehung allmächtig ist, muß der Mensch selbst Hand anlegen, tapfer zupacken und | |
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arbeiten. Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt. Das Amt des Regenten wie aller Magistrate ist nicht ein dominium, ein frei nutzbares Eigentum, sondern ein munus, eher eine Last (onus), eine Verpflichtung zum Schutz der Untertanen, denn das Ziel aller Herrschaft ist commodum, securitas, salus subditorum. Das Gemeinwohl wird aus Senecas De clementia verdeutlicht. Der Regent, der das große Vorbild für die Untertanen sein soll, wird an die Gesetze gebunden. Lipsius lehnte also die Bodinsche Auffassung vom absolutistischen Herrscher ab und trat ferner dafür ein, gleiches Recht für alle ohne Ansehen der Person zu sprechen. Seine betonten Reformwünsche auf dem Gebiet des Rechtswesens wurden jedoch nicht näher erläutert im Gegensatz zur Heeresreform, die er im einzelnen vorbildlich abgehandelt hat. Vom Fürsten fordert er ein persönliches Regiment in Verbindung mit einer Regierung aus dem Rate. Ebenso aktuell war in den Religions- und Bürgerkriegen der Grundsatz, Ketzern und Feinden auch unter den Waffen das gegebene Wort zu halten (Fides infido servanda etiam hosti). Man sieht, wie bereits über Lipsius aus dem spanischen Naturrechtsdenken ältere stoische Vorstellungen übermittelt wurden, mit denen Hugo Grotius (pacta sunt servanda) das moderne Völkerrecht ausbauen sollte. Lipsius schwebte die Verbindung von prudentia und virtus, von italienischer Staatsräson und neustoischer Ethik vor, die Entschärfung der Staatslehre Machiavellis durch die Ethik Senecas. Von großer Bedeutung, wenn auch sogleich von verschiedenen Seiten bekämpft, war die Lehre über das Verhältnis von Staat und Kirche. Lipsius gestand dem Fürsten keine freie Entscheidung über die kirchlichen und religiösen Fragen zu, aber das Inspektionsrecht. Das Ideal wäre die Einheit der Religion in einem Staate, da sonst Streit und Aufruhr sich leicht entzünden. Daher solle der Herrscher gegen die vorgehen, die eine bestehende Einheit stören. Lipsius lehnte die volle Religionsfreiheit ab, jedoch nicht aus konfessionellen Gründen, sondern, wie er am Rande hinzufügte: status publici causa!, allein aus staatlichen. Aber in der realen Situation Europas unterschied er die öffentlichen Unruhestifter, gegen die er dem Fürsten die medizinische Losung ‘ure, seca!’ zurief, von den Stillen im Lande - Lipsius sprach von den quieti, den errones simplices, ‘qui in religione peccant privatim’. Sie wollte er nicht verfolgen noch bestrafen, indem er Curtius zitierte: ‘Kein König kann den Herzen befehlen wie den Zungen’. | |
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Diese Stelle hat dem Verfasser von Vertretern der unbedingten Toleranz wie Dirck Coornhert den heftigen Angriff eingetragen, er habe die Fürsten zur Ketzerverfolgung mit Schwert und Feuer aufgerufen. Die katholische Kirche wiederum erzwang später die Auslassung aller Stellen über die Duldung der Stillen und weitere Änderungen wie: ‘sie sind nicht sogleich zu bestrafen’ statt des ursprünglichen ‘sie sind kaum zu bestrafen’. Das waren Zugeständnisse, die der konvertierte Professor machen mußte, damit die Index-Kommission in Rom die ‘gereinigte’ Politica wieder freigab. Die ursprünglichen Stellen zeigen deutlich, was Lipsius beabsichtigte, was die Angehörigen des europäischen Späthumanismus bewegte. Sie wollten eine begrenzte Toleranz. Man könne nicht, wie es im anfänglichen Text hieß, den Glauben befehlen, weil niemand gezwungen sei, gegen seinen Willen zu glauben. Die Unterscheidung zwischen aufständischen und stillen Andersgläubigen hat Lipsius von französischen Humanisten wie L'Hopital übernommen, aber stärker publice und privatim gegenübergestellt. Er trennte in diesem Sinne auch die äußeren und die inneren Dinge scharf (res externa und sacra). Damit ebnete er den Weg zur Unterscheidung von öffentlichem Bekenntnis und privatem Glauben, von confessio und fides. Lipsius suchte eine beschränkte Religionsfreiheit, die Duldung jener ‘Stillen’. Er verstand darunter die Humanisten, im weitesten Sinne des Wortes die Unkonfessionellen, die sich nicht dogmatisch binden konnten und wollten. Sie sollten von keiner Seite bedrängt werden. Der Staat mit seinem Aufsichtsrecht über das Geistliche sollte hier dem Drang der Religionsparteien entgegenwirkenGa naar voetnoot1. Von hier aus wird auch das Bemühen um den Aufbau einer starken Staatsgewalt verständlich, die eben in der Lage sein mußte, kirchliche Verfolgungen zu verhindern. Eine volle Religionsfreiheit lehnte Lipsius aus den gleichen politischen Überlegungen heraus ab. Die von dem Spiritualisten Coornhert geforderte licentia religionis konnte angesichts der konkreten religionspolitischen Situation Europas nur zur Auflösung aller Staatsgewalt führen und damit den Zweck des Staa- | |
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tes, Ruhe und Ordnung im öffentlichen Leben zu gewährleisten, aufheben. Das Prinzip der beschränkten Toleranz in Verbindung mit einer diese schützenden politischen Gewalt ist auch in der zweiten Phase der Niederländischen Bewegung, im grotianischen Kirchen- und Staatsrecht, erhalten geblieben. Lipsius hat allerdings durch die von Rom erzwungene Veränderung seiner gereinigten Politica nach der Rückkehr zum Katholizismus diesen Zusammenhang durchschnitten. Nur so konnte in den katholischen wie den protestantischen Monarchien die Begründung einer starken Staatsgewalt zu einer rein innenund außenpolitischen Machtangelegenheit werden, die nicht mehr im Dienste des ursprünglichen humanen Zweckes stand. Wir werden aber gerade bei der Betrachtung der Einwirkung der Niederländischen Bewegung auf Brandenburg-Preußen diesen alten Zusammenhang von Toleranz und fürstlicher Macht wiederfinden, die allen protestantischen Sekten eine Zuflucht im Lande ermöglichte - gegen die widerstrebenden landeskirchlichen und landständischen Gewalten. Zumeist aber spielten außen- und machtpolitische Momente in den von der Niederländischen Bewegung mitbestimmten Staaten in die Entwicklung des europäischen Militärstaats und ‘Militarismus’ hinein, der in dem politischen Späthumanismus einen Geburtshelfer wider Willen besaß. Denn im 5. Buch der Politica legte Lipsius die Programmschrift für das neue europäische Heerwesen vor, das zuerst auf niederländischem Boden verwirklicht wurdeGa naar voetnoot1. Sein umfassender Begriff der Disciplina militaris, grundlegend für die weitere Entwicklung, entstammte wieder dem römischen Arsenal (Disciplina repetenda a Romanis, qui felicissime ea usi. Pol. V, c. 13). Dieser Begriff erläuterte die Notwendigkeit des täglichen Exerzierens, der klaren Heeresgliederung, einer geistigmoralischen Zucht und neuen Auffassung von Verdienst und Strafe. Durch Beachtung dieser vier Forderungen haben die Reformer in den Niederlanden das erste disziplinierte Heer der Neuzeit geschaffen, dessen taktische und strategische Führung gleichfalls allgemein vorbildlich wurdeGa naar voetnoot2. | |
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Man darf nicht vergessen, daß der Krieg und die Aufgabe, sich militärisch zu behaupten, am Anfang der Freiheit der Republik der Vereinigten Provinzen stand und somit der Krieg ein erstes Element der Freiheit war. Mit Recht hat jüngst E.H. Kossmann auf den Wandel vom kriegerischen Denken des holländischen Calvinismus am Anfang des 17. Jahrhunderts zum pazifistischen Isolationismus nach 1648 aufmerksam gemachtGa naar voetnoot1. Kossmann gibt die mannigfachen Gründe für diese ‘Dichotomie’ der Ideale der niederländischen Gesellschaft an und zeigt die Faktoren auf, die eben am Anfang des Jahrhunderts den Krieg als eine unabwendbar-natürliche Erscheinung begreifen und bejahen ließen. Und in der Tat stand auch der ‘technische’ oder ‘reale’ Humanismus im Dienste der militärischen Bewahrung von Selbständigkeit und Freiheit. Die Werke des Lipsius in ihrer Spezialisierung von der allgemeinen Kriegslehre (1589) über die Heeresgestalt (De militia Romana, 1595) zur Kriegstechnik (Poliorceticon, 1596) sind beispielhaft für das weitere Wirken des Späthumanismus. Teilweise wurden die Philologen von den nassau-oranischen Heerführern mit Aufgaben der Militärwissenschaft betraut. Der Nachfolger von Lipsius nach dessen Fortgang von Leiden, J.J. Scaliger, edierte 1606 die Opera Caesaris. Der Lipsius-Schüler Meursius in Leiden ließ 1612 die editio princeps der Tactica Leonis Imperatoris erscheinen und fügte auf Wunsch von Moritz von Oranien dem griechischen Text eine lateinische Übersetzung bei. Sixtus Arcerius in Franeker gab offenbar auf Anregung des Hauptes der Reform, des Grafen Wilhelm Ludwig von Nassau, Aelian und Teile von Polybios 1613 heraus. Salmasius erhielt von Friedrich Heinrich von Oranien direkt den Auftrag zur Abfassung eines Werkes De re militari Romanorum, das geheim gehalten wurde | |
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und erst nach dem Tode von Verfasser und Auftraggeber 1657 erscheinen konnte. Wissenschaftliche Forschungsreisen (1641-43) brachten neue Handschriften der antiken Taktiker für dieses Werk zum Vorschein. Es handelt sich bei diesen Publikationen um Grundwerke der antiken Militärwissenschaften, die eine Voraussetzung der Wehrschöpfung und neuen Kriegführung bildeten. Der mit der niederländischen Philologenschule in engster Beziehung stehende Bibliothekar Heinrichs IV. von Frankreich, Isaac Casaubonus, veröffentlichte die editio princeps von Polyaens Stratagemata (1589) und 20 Jahre später die berühmte Polybios-Ausgabe in Absprache mit LipsiusGa naar voetnoot1. Der Lipsius-Schüler und Professor in Heidelberg Janus Gruterus edierte 1624 ‘Florilegii... Martis et Bellonae... de re militari’, eine Sammlung griechischer und römischer Kriegsschriftsteller auf über 2000 Folioseiten. Eine der letzten Taten der niederländischen Philologie auf dem Gebiet der Militärwissenschaft war die erste und bisher einzige Ausgabe des Strategikon des sogenannten Maurikios durch den in Holland ausgebildeten und in Uppsala lehrenden Politikwissenschaftler Johan Scheffer 1664, auch mit lateinischer Übersetzung. In der zweiten Phase der Niederländischen Bewegung stand in Europa gewiß das Denken des Grotius im Vordergrund, ohne daß das Gedankenwerk des Lipsius ganz vernachlässigt wurde, wie die ständigen Nachdrucke seiner Bücher und die Vorlesungen der Universitätsprofessoren über seine Schriften beweisen. Nun aber wurden die mäßigenden und einschränkenden Sätze im lipsianischen Kriegsrecht aktueller. Grotius goß sie in wirksamere Rechtsformen und suchte der Stimme der Vernunft im Völkerverkehr und Staatsleben stärkeres Gehör zu verschaffen. Und die aufblühende Staatsverwaltungslehre der Kameralisten baute systematisch weiter aus, was in der ersten Phase der Niederländischen Bewegung von Lipsius (Buch IV der Politica) und seinen Nachahmern durch die Schilderung der römischen Administration und Finanzen begonnen worden war. Was die ‘Philologen’ boten, waren die Erkenntnisse und Erfahrungen | |
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der Antike auf dem Gebiet des Politischen. Die Wissenschaft von den Kriegs- und Friedensordnungen wurde in Editionen der Originale, in zahllosen Sentenzensammlungen oder in den wenigen, die Originale nutzenden Darstellungen ausgebreitet. Deren Zitatenkunst, uns fremd, ja abstrus, hat gerade eine ihrer Ursachen in jener Richtung auf die Praxis. Nichts sollte von dem Gold der antiken Weisheit verloren gehen, nichts durch das Umgießen in eine zeitgemäßere Sprache verschüttet werden. Die Stimmen von Tacitus und Seneca, von Aristoteles und Xenophon sollten unverändert sprechen. Auch die Eigenart von Lipsius' Hauptwerk ist nur aus dieser Überzeugung zu erklären. In seinem Nachlaß finden sich wohl die Anfänge zu seiner Politik, unter ihnen auch Entwürfe von Überschriften, deren eine charakteristischerweise lautet: J. Lipsii Cento PoliticusGa naar voetnoot1. Durch die Literatur des ‘politisch-technischen’ Humanismus sollte das antike Schrifttum wie in einem riesigen Aktenordner zusammengefaßt werden, um jederzeit griffbereit zu sein. Man sollte auch ein Tagesproblem studieren können, für das bisher kein unmittelbarer neuzeitlicher ‘Geschäftsvorgang’ existierte, sich noch keine Lösungsmöglichkeit durch eine zeitgemäße Bearbeitung abzeichnete. Die Philologen waren sozusagen die findigen und kundigen Registratoren und Archivare, die ältere, verschollene ‘Vorgänge’ ans Licht zogen. Ich denke hier an das großartige Beispiel der aktuellen Bedeutung der griechischrömischen Schriftsteller für die Militärreform. Aus der zuerst verlachten und verachteten Arbeit am Schreibtisch, aus der Nachahmung der Marsch- und Schlachtordnungen Caesars mit Bleisoldaten ging das neue europäische Heer hervor. Wie sehr der reale Humanismus auch die staatliche Entwicklung mit der Wiederaufnahme der römischen Auffassung von Steuer, Statistik und Polizei (z.B. tributa, census, censura bei Lipsius Polit. IV, 11) förderte, ist noch unerforscht. Nur die Rezeption des römischen Rechts als ein Forschungsproblem wurde immer erneut diskutiert. Doch handelt es sich auf diesen Gebieten nicht nur um eine Verwissenschaftlichung wie im Rechtsdenken, | |
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sondern oft um deutliches Nachahmen der Vorbilder, um echte Rezeption. Holland bildete den zentralen Umschlagsplatz der praktischen Altertumswissenschaft. Von hier wurden die Geistesgüter in die Welt verteilt, wofür die in Europa führenden niederländischen Verleger eine materielle Vertriebsorganisation aufbauten. Sie unterhielten in den europäischen Hauptstädten eigene Kontore und Absatzlager. Das Rückgrat der ideellen Vertriebsorganisation aber schufen die Universitäten, damals noch eine internationale Korporation: Durch die perigrinatio academica der Hofmeister, der Prinzen- und Adelserzieher, durch häufige Reisen blieben die persönlichen Kontakte erhalten. Aus jener Schicht rekrutierten sich zumeist die zukünftigen Professoren und Gelehrten. Durch intensiven Briefwechsel, der die heutige Zeitschriftenlektüre und das Übersenden von Sonderdrucken ersetzte, wurde der geistige Zusammenhalt gewahrt. Man möchte von einem europäischen Stand der Späthumanisten sprechen, der über Bekenntnis und Nation eine Einheit bildete. Er umfaßte aber nicht nur die noch so kleine Schicht der unmittelbaren Universitätsprofessoren, sondern darüber hinaus die fürstlichen und städtischen Beamten, die Ärzte, Richter und LateinlehrerGa naar voetnoot1. Sie blieben auch nach ihrem Studium mit der Wissenschaft aufs engste verbunden und wurden oft selbst hervorragende Gelehrte. So mußte es auch von großer Bedeutung sein, daß Lipsius als Universitätslehrer seine Wissenschaft von der Politik betrieb. Bereits in zwei bis drei Jahrzehnten seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts sind an den meisten europäischen Hochschulen und den deutschen Akademischen Gymnasien Neugründungen oder Umgestaltungen von Lehrstühlen für Politik zu verzeichnen, fast stets verbunden mit anderen Disziplinen wie Geschichte, | |
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Ethik oder RhetorikGa naar voetnoot1. Eine Bewegung im Rahmen der Philosophischen Fakultäten, die ein halbes Jahrhundert später mit | |
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der Einrichtung von Professuren für Natur- und Völkerrecht durch die zweite Welle der Niederländischen Bewegung erneuert wurde. Die politisch-weltanschaulichen Bezüge im Werke von Lipsius sind uns lange verschleiert worden durch die berühmte Autobiographie, die er im Jahre 1600, in die katholische Kirche und an die Universität Löwen zurückgekehrt, wohl für Kreise der spanischen Regierung geschrieben hat. Der Brief an seinen Schüler Johannes Woverius ist eine geniale Fälschun des Lebensinhaltes, der politischen Wirkungen und Beziehungen. Er zeigt den Späthumanisten nur im Lichte eines unpolitischen Professors, der allein dem Lesen, Lehren und Schreiben (legere, docere et scribere) nachgegangen sei. Die Irreführung der Nachwelt gelang dem GelehrtenGa naar voetnoot1. Seine Rolle in der philosophisch-politischen Bewegung des Neustoizismus, der umittelbare Erfolg seines Handbuches der praktischen Staatslehre, der Versuch, neuzeitliche Staatseinrichtungen auf den ethischen Prinzipien der römischen Stoa zu gründen, schließlich die Wirkung seiner Werke auf die Heeresreform und Kriegführung der Nassau-Oranier blieben verborgen. Man sah seitdem, was man nach dem Willen des Briefschreibers sehen sollte: einen stillen, rechtgläubigen Gelehrten, fern der hohen Politik und jeder politischen Verstrickung. Die politische Lehrzeit in Rom als lateinischer, d.h. außenpolitischer Sekretär des Kardinals und Ministers Granvella wurde zum humanistischen Studienaufenthalt. Von der politischen Vergangenheit, seiner engen Verbindung mit den Führern der Nordniederlande, mit Oldenbarneveldt und Aerssen, von seinem Schüler Moritz von Oranien, der in den Anfängen der militärischen Reform den Lehrer unmittelbar um Rat fragte, von all diesen Dingen sprach der Autor nicht. Die hier relevanten literarischen Leistungen, die Herausgabe des Tacitus, die zu der historisch-politischen Richtung des Tacitismus in Europa führte, die Sechs Bücher der Politik, die Militia Romana und das Poliorceticon wurden nur schlicht mit dem Titel genannt. Diese so verschleierte Wirklichkeit ist aber grundlegend für die Erkenntnis des Späthumanismus als einer politischen Strömung. An der letzten Wirkungsstätte von Lipsius, der Universität Löwen, gehörte zu dem Latein-Lehrstuhl des berühmten Humanisten die Vertretung der Geschichte und der Politik. Diese Ver- | |
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bindung blieb bis zur theresianischen Neuordnung (1768) erhalten, nachdem der Lipsius-Schüler Erycius Puteanus (1574-1646) der erste Nachfolger seines Lehrers geworden warGa naar voetnoot1. Bezeichnend, daß auch er ein kriegswissenschaftliches Werk veröffentlichte, De Stipendio militari apud Romanos syntagma, in dem er Lipsius ergänzte. Ein anderer Schüler des Lipsius war Nikolaus Vernuläus (1583-1649), Kollege und Nachfolger von PuteanusGa naar voetnoot2. Er verfaßte mehrfach aufgelegte Werke im Rahmen der praktischen Philosophie, die als Institutiones politicae, morales et oeconomicae 1646-1649 gesammelt erschienen. Sie gingen bewußt den Weg der Verwissenschaftlichung der Politik. Seine Institutiones politicae wandten sich schon 1623 gegen die moralischen Fürstenspiegel und theoretischen Tugendlehren und forderten eine praktische Staatswissenschaft. Sein überlegener Geist führte die politische Lehre des Lipsius weiter. Im Sinne der Gegenreformation räumte er dem katholischen Priesterstand eine Mitwirkung im Staate ein und sprach ihm die Stelle des ersten Standes zu. Sacerdotes et qui religionem curant peculiari ordine censentur et sicut primum in republica munus ita locum tenentGa naar voetnoot3. Die von Lipsius auf neustoischer Grundlage errichtete Staatslehre wurde auf die Erfordernisse der katholischen Monarchien in Spanien und Österreich umgestellt. Auch die äußere Form, der Verzicht auf Zitate und die völlig eigene Sprachgestaltung deuten den Anspruch an auf Originalität und Selbständigkeit. Materien, die Lipsius übergangen hatte, wie die sozialen Mächte, die niederen Magistrate, das Gesandtschaftswesen usw. wurden ausführlich behandelt. Die Erörterungen brachten das Für und Wider, es herrschte eine | |
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Diskussion mit Gründen und Gegengründen. In der gleichen Form sind die politischen, religiösen und militärwissenschaftlichen Dissertationen seiner Schüler gehalten. Die Ideen und Formulierungen seines Lehrers jedoch haben sich bei Vernuläus so manifestiert, daß nur eine direkte Ableitung infrage kommt, ‘ci manifeste, que nous pouvons conclure à une filiation directe’Ga naar voetnoot1. Lipsius' Vorstellungen gewannen über Vernuläus auf die Frömmigkeitsauffassung und politische Ethik der österreichischen Habsburger einen starken EinflußGa naar voetnoot2. Wenden wir uns kurz der ersten Wirkungsstätte von Lipsius und dem Zentrum der Niederländischen Bewegung zu. Die politikwissenschaftliche Tradition der Universität Leiden ist noch nicht erhelltGa naar voetnoot3. Gehen wir einmal von den Lernenden aus: | |
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Die Matrikel kannte auch das Fach ‘Politica’, und viele Studenten ließen sich dafür eintragen. Während des 30jährigen Krieges sind unter den aus dem Herzogtum Preußen stammenden 32 Studenten allein 21, die ‘Politik’ studieren wollenGa naar voetnoot1. Insgesamt habe ich zwischen 1613, der ersten Erwähnung eines Politik-Studiums in der Leidener Matrikel, und dem Ende des Jahrhunderts 762 Eintragungen für das Studienfach Politik gezählt, manchmal auch in Verbindung mit Jurisprudenz, Geschichte oder Rhetorik. Der Strom der Studenten setzt erst nach 1620 ein (1622: 16, 1623: 26), steigt 1641 auf 50, zählt 1661 noch einmal 31 und fällt bereits nach 1670 völlig ab, wahrscheinlich weil das neue Studium des Natur- und Völkerrechts das Fach der Politik mit umschloß. Für über 80 Jahre jedoch wird die eigene Sparte der Politischen Wissenschaft angegeben; in den 50 Jahren von 1621 bis 1670 haben 707 Studenten die Hochschule zum Studium dieses Faches bezogenGa naar voetnoot2. Schweden und Dänen, Polen und Deutsche kamen also zu diesem Zwecke nach Holland. Schon die Zahlen sprechen nicht nur für das Vorhandensein der politischen Lehre, sondern auch für ihr Ansehen. Es ist nicht nur der philologische, sondern ebenso der politische Späthumanismus, der zur Blüte der niederländischen Universitäten im 17. Jahrhundert beitrug. Die politische Wissenschaft hatte nicht zuletzt dank der Arbeiten der Lipsius-Schule die Bahnen des Aristoteles verlassen. Mochte auch der Text der aristotelischen ‘Politik’ den Vorlesungen oft amtlich noch zugrundegelegt werden, so bestimmte doch die moderne Staatsauffassung den Kommentar und die Erläuterungen. Jedenfalls finden wir in den Werken der Leidener Politik-Professoren Paulus Merula, Dominicus Baudius, Petrus Cunaeus, Caspar Barlaeus, Boxhornius den neuen politischen Geist. Eine Ausnahme dürfte der den orthodoxen Calvinismus vertretende Daniel Heinsius bilden, der 1621 die ‘Politik’ des Aristoteles neu herausgab. 1612 erhielt er als Nachfolger des verstorbenen | |
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Baudius die politische Professur. 1613 ermahnten ihn die Kuratoren, die Politica latine zu lesen. Schon 1614 wurde der Lipsianer Petrus Cunaeus zum Professor Politices ernannt. Ob dieser Wechsel aus Unfähigkeit von Heinsius oder wegen seines Aristotelismus erfolgte, kann ich nicht entscheiden. Er zeigt aber, welchen Wert die Kuratoren auf die politische Vorlesung legten. Ich darf mir angesichts der kommenden Arbeit von Herrn Wansink ersparen, hier die politischen Schriften dieser Professoren zu betrachten. Besonders interessant ist ihr Begriff der Staatsräson. Das Kapitel ‘Die Verbreitung der Lehre von der Staatsräson in Italien und Deutschland’ in Meineckes bekanntem Werk benötigt dringend eine Ergänzung für die nördlichen und südlichen Niederlande. Diese Lehre beeinflußte die studierende Jugend unmittelbar. Auch die beiden an der Hohen Schule in Amsterdam seit 1632 nebeneinander wirkenden Arminianer Gerhard Johann Vossius, der den Lehrstuhl für Geschichte und Politik innehatte, und Caspar Barlaeus zeigen einen neustoisch-politischen Einschlag. Barlaeus empfahl in einer Schrift über das politische Studium den nach Amsterdam gekommenen jungen Herzögen von Mecklenburg und den Prinzen von Lüneburg Aristoteles, Plato und Lipsius als die besten Lehrer für die Politik. Er riet ihnen besonders ‘Politica Justii Lipsii perlegere saepius’ wegen der kunstvollen Disposition des Ganzen sowie der Überfülle und der Autorität der SentenzenGa naar voetnoot1. In seiner Dissertatio de bono principe führte Barlaeus Lipsius an als magnus ille et celebratus politicorum in hac Batavia scriptor. Die berühmte Amsterdamer Antrittsvorlesung | |
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des Barlaeus über den Mercator sapiens, die auch den hohen Handelsherrn in die humanistische Moralphilosophie einbezog, ist durch den lipsianischen Eklektizismus unter Bevorzugung der römischen Stoa charakterisiert. Wenn es für die Blüte der politisch-staatenkundlichen Studien in den Niederlanden noch eines Beweises bedürfte, so liegt er ganz offen zutage in der ca. 20 Bände umfassenden Serie ‘Res publicae’ des Leidener Universitätsdruckers Elzevier. Es ist doch bezeichnend, daß die erste geschlossene Pocketbook-Serie der Welt, die im Kleinstformat (24o) zwischen 1626 und 1634 erschien, der politischen Unterrichtung dienteGa naar voetnoot1. Ihr klarer, schöner Druck erfreut noch heute das Auge, sie sind besser zu lesen als viele gegenwärtige Taschenbücher. Als politische Länderkunden gestaltet, die das Staatsrecht und die Verfassungszustände schildern, mit besten Mitarbeitern wie Cunaeus, Boxhornius, Scriverius, Arnisaeus und Thomas Smith - z.T. gewiß einfache Nachdrucke -, verbreiteten sie ein Grundwissen über alle europäischen Staaten einschließlich Rußlands und der Türkei. Käufer der Elzevier-Taschenbücher waren sicher nicht zuletzt die internationalen Studierenden der politischen Wissenschaft. Dieses Studium der Politik wurde auch in Deutschland von den Studenten gefordert. Charakteristisch dafür ist eine Aufzeichnung David Mevius' (1609-1670), der bei Cunaeus, Heinsius und Boxhorn in Leiden studiert hatte. Bei Antritt einer juristischen Professur in Greifswald wurde er gebeten, Politik zu lehren. Mevius berichtet darüber selbst: ‘Viele vom Adel zu Greifswald studieret, welche mehr Lust zu dem Studio politico als juridico bezeuget, deren etliche hernach zu vornehmen Functionen geraten’. Daraufhin habe er ‘um Martini 1636 seine lectiones politicas angefangen und in frequenti collegio privatim die | |
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Politicam Lipsii expliziert, dazu dann aus dem Tacito einige Discursus formiert’Ga naar voetnoot1. Aus dem Bestreben, an der Landeshochschule Pommerns das nachzuholen, was an den holländischen und anderen Universitäten üblich war, erwuchs das Studium politicum, ergänzt durch die historische Lektüre. Zu den Schülern des Mevius, die ‘hernach zu vornehmen Functionen geraten’, gehörte sicherlich der spätere Minister des Großen Kurfürsten, der Oberpräsident Otto von Schwerin, der seinen gleichnamigen Sohn wiederum die Rechte und Geschichte in Leiden studieren ließ. Die Verbreitung der Werke von Lipsius ist für das 17./18. Jahrhundert einmalig. Das lateinische Original der ‘Politik’ ist in den ersten 29 Jahren bis zum Beginn des 30jährigen Krieges 26 mal aufgelegt worden! Insgesamt bis 1751 zählen wir 53 lateinische Ausgaben, dazu 22 Auflagen von Übersetzungen in niederländischer, französischer, englischer, polnischer, deutscher, spanischer, italienischer und ungarischer SpracheGa naar voetnoot2. In Frankreich muß das Erscheinen der ‘Politik’ ein echtes Politikum gewesen sein. Im Zeitalter Heinrichs IV. und des jungen Richelieu zwischen 1590 und 1613 sind allein 10 französischsprachige Auflagen festzustellen. Die Höhe dieser Editionen betrug, wie wir dank der bei Lipsius' Verleger Plantin geführten Statistik wissen, im Durchschnitt 1500 Stück. Das zweite, kleinere politische Werk des Lipsius, die Monita et exempla politica (1605), wurde in den ersten zwei Jahren zusammen mit der französischen Übersetzung in 10-11.000 Exemplaren gedruckt. Stellt man diesen Ziffern vergleichsweise die für das Jahr 1600 von Trunz errechnete Zahl aller deutschen Universitätslehrer von nur 200 beamteten Professoren gegenüber, so tritt erst die Verbreitung der Schriften des Lipsius ganz in Erscheinung. Es war eine Lektüre des humanistischen Standes in Europa. | |
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Ich kann an dieser Stelle nicht die Schicksale der lipsianischen ‘Politik’ in den europäischen Ländern verfolgen. Nur einige Hinweise: Sir Walter Raleigh (1552-1618), der Günstling Elisabeths, der in den langen Jahren seiner Haft unter Jakob I. schriftstellerisch arbeitete, gehört zu den ersten englischen Politikwissenschaftlern. Seine bedeutendste staatstheoretische Schrift, The Cabinet Council, wahrscheinlich zwischen 1603 und 1607 geschrieben, erst 1658 durch Milton und dann noch dreimal veröffentlicht, referierte die Politica des Lipsius beinahe vollständig mit Ausnahme des ersten BuchesGa naar voetnoot1. Lipsius war in England bekannter als Bodin. Raleigh glaubte jedenfalls nichts besseres tun zu können, als die Politica des Lipsius zum größten Teil in wörtlicher Nachfolge zu übernehmen. Auch Thomas Hobbes hat sich 1629 in dem Einführungskapitel zu seiner Thukydides-Übersetzung, einem Lehrbuch für den jungen Adel, neben Cicero und Lucian auf das Urteil des Lipsius in den Notae zur ‘Politik’ gestützt. Mit Recht meint Leo Strauss, daß Hobbes durch die Kenntnis der politischen Lehre von Lipsius mit der systematischen Richtung der politischen Philosophie in Berührung gekommen seiGa naar voetnoot2. In Schweden war das Hauptwerk des politischen Neustoizismus am Hofe wie an den Universitäten sehr verbreitet. Das vor drei Jahren erschienene kompendiöse Buch von Nils Runeby, Monarchia Mixta, hat die politische Literatur bei der Machtverteilungsdebatte zwischen Adel und Königtum von Karl IX. bis Karl X. Gustav bis hin zu den Dissertationen und Traktätchen untersuchtGa naar voetnoot3. Johann Skytte, der Erzieher Gustav | |
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Adolfs, Reichsrat und Hofratspräsident, Gründer der Universität Dorpat (1632) und Stifter der skytteanischen Professur für Eloquenz und Politik in Uppsala (1622), war ein glühender Verehrer von Lipsius' Politik, für deren Verbreitung er überall eintrat, während Oxenstierna bewußt Althusius zu fördern suchte. Je nach dem Übergewicht der Königs- oder Adelspartei sollten daher Bodin und Lipsius oder Althusius und Keckermann an der Universität bevorzugt werden. Königin Christine wurde wie ihr Vater Gustav Adolf anhand der Politik von Lipsius erzogen. Sie besetzte die skytteanische Professur mit Mitgliedern der Niederländischen Bewegung, den Straßburger Bernegger-Schülern Johann Freinsheim (1642-1647) und Johann Scheffer (1648-1679), der unmerklich in die zweite Phase der Niederländischen Bewegung überleitete. 1665 übernahm er auch die neue Professur für Natur- und Völkerrecht. Neben beiden wirkte ein weiterer Lipsianer als Professor für Eloquenz in Uppsala, Johann Heinrich Boecler, der Verfasser der mehrmals aufgelegten Schrift De Politicis Lipsianis. Die Vorherrschaft des niederländischen Rechts- und Staatsdenkens kam in den neuen Universitätskonstitutionen (1655) zum Ausdruck, als auch eine besondere Professur für die Vertretung von Grotius gefordert wurde, also sechs Jahre vor Errichtung des ersten deutschen Lehrstuhls für Natur- und Völkerrecht an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg für Samuel Pufendorf (1661), der 1670 die gleiche Professur an der neuen schwedischen Universität Lund erhielt. Den größten unmittelbaren Erfolg hatte Lipsius sicherlich in DeutschlandGa naar voetnoot1. An manchen deutschen Universitäten finden wir geradezu Lipsius-Schulen, ganz gleich ob es sich um fürstliche oder reichsstädtische Einrichtungen handelt. So in Straßburg, wo die große Persönlichkeit von Matthias Bernegger, Inhaber des Lehrstuhles für Geschichte (1613-1640), eine feste Lipsius-Tradition begründete, die in seinem schon erwähnten Schwiegersohn Freinsheim und seinen bekannteren Schülern Boecler, Bose und Veit Ludwig von Seckendorf weiterlebte. Bosius wiederum als Professor für Geschichte in Jena (1655-1676) ließ für seine Vorlesungen zweimal eine Synopsis politicorum Lipsii drucken. Über das Jahrzehnt von SS 1681 bis WS 1690 unterrichtet uns eine fast geschlossene Folge von Vorlesungs- | |
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ankündigungen der Universität JenaGa naar voetnoot1. Danach hielt der Professor für Ethik und Politik J.Ph. Slevogt vom SS 1686 bis WS 1687/88 sein Kolleg über die Politik des Lipsius, im SS 1688 über die Synopsis Politicorum Lipsii a Berneggero conscripta. Die übrigen Vorlesungstitel, auch die seines Kollegen und Nachfolgers Hebenstreit, bezeichnen leider nicht näher, welches Lehrbuch sie zugrundelegten, wenn sie über Politica, Doctrina civilis, Prudentia civilis usw. lasen. Es mischt sich die lipsianische Lehrtätigkeit mit Namen der zweiten politischen Schule der Niederländischen Bewegung. Als Texte werden angeführt: Boecler, Seckendorff, Horneius, Grotius und Cellarius. Im nächsten Jahrzehnt dringt bereits Pufendorf vor. An Neuauflagen von Lipsius erschienen in Jena die Constantia (1860) und die Monita... politica (1667). Der Jenaer Rechtsprofessor und spätere Reichshofrat in Wien N.Ch. Lynker veröffentlichte 1685 ein Tabellenwerk, Ethices Jonstonianae et Politices Justi Lipsii. Der politische Unterricht an der Universität Altdorf, der angesehenen und besuchten Hochschule der Reichsstadt Nürnberg, stand bereits vor 1600 durch Arnold Clapmarius, den Verfasser der Arcana imperii, im Zeichen des Lipsius, danach durch einen Schüler von Reusner-Jena, Michael Virdung. Die verhältnismäßig gut erhaltenen Lektionskataloge der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts machen die ganze Breite der politisch-naturrechtlichen Schule der Niederländischen Bewegung deutlich: Grotius, Burgersdyck, Boecler, J.C. Becmann, Cellarius, seit 1690 auch Pufendorf bildeten die Grundlage des Unterrichts, und der Professor für Politik und Logik G.P. Rötenbeck (1681-1710) schloß seine Vorlesungstätigkeit mit der Auslegung der Doctrina politica Lipsii, die er von 1704 | |
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bis 1709 in Semester-Fortsetzungen ausdehnteGa naar voetnoot1. Selbst an der Universität Helmstedt, wo der in Holland ausgebildete bekannte Professor für Politik Hermann Conring (1650-1681) eine eigene, von Aristoteles ausgehende, aber auch Lipsius anerkennende politische Lehre vortrugGa naar voetnoot2, hat dessen Nachfolger Johann W. Werlhof (1686-1698) wiederum Lipsius' Politik benutztGa naar voetnoot3. Aber nicht nur an protestantischen, sondern auch an katholischen Universitäten stößt man auf die Wirkung des flämischen Späthumanisten. Die Rückkehr von Lipsius nach Löwen, seine nach den Wünschen der Inquisition gereinigte Ausgabe der ‘Politik’ ermöglichten es einem so bedeutenden Jesuiten wie Possevinus, das politische Werk des Lipsius zur Ratio studiorum zu empfehlenGa naar voetnoot4. Ein anderer Jesuit, Adam Contzen, der Beichtvater und politische Ratgeber des Kurfürsten Maximilian von Bayern, reihte bereits 1620 Lipsius neben Plato und Aristoteles unter die Klassiker der politischen Wissenschaft einGa naar voetnoot5. Die Jesuiten wurden bis ins 18. Jahrhundert die treuesten An- | |
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hänger von Lipsius. An ihren Universitäten finden wir manche Neuauflage seiner politisch-moralischen Schriften, noch die letzte Auflage der Politica in Wien 1752 trägt den Namen des Jesuitenprofessors Rechtenberg auf dem Vorblatt. Unzählige Adlige und Bürgerliche wurden an den Hochschulen Europas aufgrund der lipsianischen ‘Politik’ und ihrer Nachfolge-Literatur der pragmatisch-politischen Traktate für die Aufgaben des Staatsmannes und des Verwaltungsbeamten, des Juristen oder des Pädagogen geschult. Es handelt sich also um eine wichtige Universitätswissenschaft, die auf den Staat und das öffentliche Leben einwirkte. Das Naturrecht, zunächst eine Disziplin der praktischen Philosophie, wurde seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zur methodisch vorbildlichen, bald herrschenden Disziplin in allen Geisteswissenschaften, die auch die aktuell-wichtigen Probleme behandelte. Der preußische Professor der Philosophie und Jurisprudenz in Halle, Heineccius, leitete 1738 sein System des Natur- und Völkerrechts mit einer philosophischen Pflichtenlehre ein, den Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst, gegen andereGa naar voetnoot1. Man muß immer wieder bedenken, daß die Wissenschaftler jener Jahrhunderte keine Scheuklappen einer engen Fachrichtung trugen, sondern wie sie bei ihren Lehrstühlen von der Philologie zur Jurisprudenz, von der Geschichte zur Mathematik und von der Philosophie zur Medizin wechselten, so hielten sie auch die verschiedenen Gebiete durch eine umfassende Kenntnis der philosophischen Grundlagen zusammen und konnten sie zusammen behandeln. Hugo Grotius war Erbe und Vollender der neustoischen Strömung. Er verwandelte das römisch-stoische System durch eine verstärkte Übernahme des spanischen spätscholastischen Denkens in jenes christlich-stoische Naturrecht, das für die moderne Wissenschaft des 17. Jahrhunderts bezeichnend wurde. Die naturrechtlichen Prinzipien gründeten sich auf die Übereinstimmung mit der menschlichen Vernunft und auf die durch Gott geschaffene Natur des Menschen. Beide, lipsianischer Neustoizismus und grotianisches Naturrecht, sind aufs engste verbunden durch die Betonung der Pflichtenlehre. Diese wiederum wurde gerade durch die deutschen Staats- und Rechtsdenker verstärkt. Um diese wichtigen Strömungen, die viele Teile | |
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Europas im militärischen und politischen, im rechtlichen und sozialen Denken und Handeln beeinflußt und geleitet haben, nach ihrem Ausgangsort bezeichnen und sie in einen noch weiteren Zusammenhang stellen zu können, habe ich den Begriff der Niederländischen Bewegung benutzt. Er soll die Einheit einer größeren Erscheinung herausstellen und leichter faßbar machen. | |
IIDie Niederlande waren in der ersten Hälfte des 17. JahrhundertsGa naar voetnoot1 eindeutig das militärisch, wirtschaftlich und geistig führende Land unseres Kontinents, nicht mehr das spanische Reich und noch nicht die französische Monarchie oder England, die bei Holland in die Schule gingen, wenn wir an Cromwells und Colberts Handels- und Schiffahrtspolitik denken oder an die Gründung der Handelskompagnien und der Kommerzkollegien. Das räumlich kleine Gebilde der Vereinigten Provinzen, die sich gegen die stärkste Militärmacht Europas, gegen Spanien, siegreich behaupteten, wurde während dieser Zeit nicht nur die Welthandels- und Weltkolonialmacht, sondern auch das Vorbild in Landwirtschaft und Baukunst, im Steuer- und Finanzwesen und gleichzeitig zum Zentrum der Geistes- und Naturwissenschaften. Nach Holland strömten zu Anfang des 17. Jahrhunderts Engländer und Franzosen, Schweden und Deutsche, Italiener und Schotten zunächst einmal, um das neuzeitliche Kriegswesen und die Grundlagen eines Berufsheeres, der stehenden Armee, im Lager der Nassau-Oranier zu studieren: das systematische tägliche Exerzieren, die scharfe Durchgliederung kleinerer Heereskörper und die Bildung eines modernen Offizierkorps. Das ökonomische Leitbild der großen See- und Handelsmacht verlockte viele Europäer zu sorgfältigen Untersuchungen über die Quellen des niederländischen Reichtums. Holland hatte in seinem Handel Spanien und Portugal überholt, und seine Kaufleute waren die führenden in der Welt. Man studierte in allen europäischen Ländern ihre Methoden, um sie nachzuahmen. Die niederländische Landwirtschaft entwickelte unter dem Zwang eines dichtbesiedelten Landes ertragsteigernde | |
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Anbaumethoden, führte die systematische Fruchtwechselwirtschaft durch und züchtete neue Gemüsearten. Nicht nur die Tulpenkultur, die Veredelung der Obstsorten, der moderne Gartenbau überhaupt wurde Vorbild für Engländer, Deutsche, Franzosen, die die holländischen Ideen für eine verbesserte Agrikultur und Viehzucht im Laufe des Jahrhunderts übernahmen. Die Textilindustrie Hollands war eine Musterindustrie für Europa. Die staatlichen Einnahmen, die modi generales oder gemeene middelen, eine Art allgemeiner Verbrauchssteuer, wurden in der Form der Akzise von den anderen Staaten übernommen. Diesem Vorrang im militärischen und kommerziellen, im agrar-, kolonial- und staatswirtschaftlichen Bereich entsprach eine kulturelle Überlegenheit, die Führung in vielen Wissenschaften, der Medizin und Technik, Mathematik und Physik, die künstlerische in Malerei und Dichtung. Die niederländischen Universitäten, voran Leiden, stellten seit dem letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts die führenden Hochschulen des Kontinents dar, an denen die weiterstrebende Jugend aller Länder studierte. Keine der alten europäischen Universitäten, nicht Bologna, nicht Paris, nicht Salamanca, kann in Lehre und Wirkung damals mit den neugegründeten Akademien Hollands verglichen werden. Man nennt die zeitlich erste Generation, die Lipsius, Scaliger, Heinsius, Vossius, Salmasius, die Philologen, aber wie Lipsius schon sagte, ‘e philologia philosophiam feci’, sind es zugleich die Lehrer der umfassenden praktischen Philosophie, der Ethik, Politik und Ökonomie. Großartig und einmalig in der Blüte von Staat und Handelsmacht, Seefahrt und Industrie, Kunst und Literatur ist der gleichzeitige Höhepunkt auf allen Gebieten in diesem JahrhundertGa naar voetnoot1. Wir finden die gestaltenden Auswirkungen der Niederländischen Bewegung in West- und Nord-, in Mittel- und Osteuropa, ohne uns bisher des Zusammenhanges dieses Vorganges voll bewußt geworden zu sein. Ihre Tendenz war eine bürgerliche, ihre Prinzipien der strengen Pflichterfüllung und Kontrolle des Gewissens, der beständigen Arbeit und des gleichen Rechts für alle hatten wenig mit der bisherigen Adelswelt zu tun. Daher die große innere Affinität der Niederländischen Bewegung zur Entwicklung eines modernen Gemeinwesens, des postfeudalen Staates fürstlich-absolutistischer oder genossenschaftlich-föderalistischer Prägung. Denn die zum modernen Herrschaftsapparat | |
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sich ausweitende Monarchie ist nur eine besondere Erscheinungsform jener allgemeinen Entwicklung. Die Institutionalisierung moderner Arbeits- und Lebensprinzipien im Staate entsprach mehr dem bürgerlichen als dem adligen Denken. So wurde das neue Offizierkorps mit seinen Alltagspflichten im kleinen Dienst ein zur Arbeit angehaltener Berufsstand im Gegensatz zur unternehmerischen Tätigkeit des Militäradels, der Ehre suchte und Beute machen wollte. Die Erziehungslehre des politischen Neustoizismus und des grotianischen Rechts- und Staatsdenkens stand hinter den Änderungen, die wir in den umfassenden sozialen Prozeß einer neuen asketisch-zuchtvollen Weltanschauung eingliedern müssen. Seit Max Webers berühmter Abhandlung über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus ist es üblich geworden, die engen Beziehungen von Religion und Wirtschaft herauszustellen. Anknüpfend an Weber hat Otto Hintze die Verwandtschaft von Calvinismus und moderner Staatsräson sehr stark betont. Die Diskussion um die Thesen Webers hat schon seit langem zu einer vertieften Auffassung geführt. Auch für die Beziehungen von Calvinismus und Staatsräson scheint mir eine ähnliche Modifizierung notwendig zu sein. Erst durch die Mitberücksichtigung des ursprünglich unkonfessionellen politischen Neustoizismus sowie auch des Naturrechtsdenkens läßt sich die schwierige Frage lösen, wie es möglich war, daß das aus den calvinistischen Niederlanden kommende Staatsdenken in lutherischen und katholischen Ländern gleichfalls einen so starken Einfluß gewinnen konnte. Nicht nur die auswärtigen Spannungen und die innerpolitischen Verhältnisse führten den modernen Staat herauf, ebenso wichtig sind die Impulse der Niederländischen Bewegung. Der politische Späthumanismus, wie er bei Lipsius und seinem Fortsetzer Grotius in Erscheinung tritt, konnte leichter - wenn auch keineswegs kampflos - die Verbindung mit den Politikern anderer Konfessionen herstellen als der Calvinismus. Es muß also neben die Betrachtung des Calvinismus auch die Betrachtung des Späthumanismus treten. Seine Wirksamkeit läßt sich in ganz Europa in mehr oder weniger starkem Maße beobachten. Bisher liegen erst zwei thematisch geschlossene Publikationen vor: für Schweden eine ältere Arbeit, die vor bald 70 Jahren erschienen istGa naar voetnoot1, und für Dänemark ein | |
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neueres stattliches zweibändiges Werk, 1945 veröffentlichtGa naar voetnoot1. Beide weisen den überragenden Einfluß der Niederlande auf die gesamte Kultur ihrer Länder nach. Die Dänen stellen fest, daß sie mit keinem anderen der kleineren europäischen Staaten außer den skandinavischen solche intensiven und folgenreichen Beziehungen hatten wie mit den Niederlanden. In Kopenhagen wurden wie in Stockholm die niederländischen Neuerscheinungen von den großen Verlegern dargeboten. Elzevier und Jansonius unterhielten eigene Buchhandlungen, Elzevier hatte sein Geschäft in der Kopenhagener Börse. Sie druckten hier besondere Kataloge für den dänischen und schwedischen Käufer, in denen gerade die reichhaltige Auswahl an Literatur der praktischen Philosophie im weitesten Sinne auffällt, ‘wie Grotius, Lipsius, Meursius und Vossius’. Die dänische Darstellung behandelt die Abhängigkeit Dänemarks in Handel und Landbau, Baukunst und Malerei, schöner Literatur und Musik, Naturwissenschaft und Medizin und auf den verschiedenen Feldern der Geisteswissenschaften; sie ist allerdings nicht dem großen Einfluß auf dem Gebiet des Kriegswesens unter Christian IV. nachgegangen, dessen Förderung von Handel und Industrie und dessen Reformation der Gesetzgebung und Verwaltung gleichfalls die niederländische Anregung nicht verleugnen. Das Ansehen der klassischen Bildung und die reale Bedeutung der Philologie werden wieder sichtbar. Zu königlichen Historiographen ernannte Christian IV. Niederländer. Johann Isaak Pontanus blieb aber wie Daniel Heinsius, der Historiograph Gustav Adolfs, in Holland, während Johann Meursius, seit 1625 Professor für Geschichte und Beredsamkeit an der von Christian IV. begründeten Hochschule, der Ritterakademie in Soroe, als ehemals Leidener Professor die holländische politikwissenschaftliche Tradition in Dänemark fortsetzte. Meursius war auch als Mitarbeiter bei der großen Res-publicae-Serie Elzeviers beteiligt. Erst im 18. Jahrhundert wurde der überragende niederländische Einfluß in Dänemark ebenso wie in Schweden durch den französischen in den Hintergrund gedrängt. Das schwedische Werk von Wrangel bleibt im engeren Bereich der Universitäten stehen, bietet aber hier sehr Wesentliches. Es klärt die engen Beziehungen in den Staatswissenschaften und der | |
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Geschichte, der Theologie und Jurisprudenz sowie der Medizin und verfolgt die Laufbahnen der Schweden, die in den Niederlanden studiert haben. Eine erstaunliche Zahl von hohen und höchsten Würdenträgern, Beamten, Stabsoffizieren, Wirtschaftlern und Gelehrten besuchte die holländischen Hochschulen. Berühmte Namen der schwedischen Familien des 17. Jahrhunderts wie Skytte, Oxenstierna, Baner, Gyllenstierna, Horn, Rosenhane tauchen auf. Die Schweden konnten die niederländische Kultur und Wissenschaft auch an den eigenen Universitäten Uppsala, Lund und auch Dorpat aufnehmen. Denn, um ein Beispiel zu nennen: nahezu die Hälfte der Professoren, die in den Jahren 1640 bis 1660 in Uppsala lehrten, hatte in den Niederlanden studiert. Als die schwedische Universität in Finnland, Abo, 1640 eröffnet wurde, waren von den 11 Lehrstuhlinhabern 6 ehemals Studenten in Holland gewesen, und bei der Einweihungsfeierlichkeit hielt der schwedische Drost Stalhandske seine Rede auf Niederländisch. Von den ersten 19 Professoren der zweiten schwedischen Universität Lund (1668) hatten 8 allein ihr Studium in Leiden absolviert. Zu ihnen gehörte der erste Inhaber des Lehrstuhls für Natur- und Völkerrecht, der Deutsche Samuel Pufendorf, der dann als kurfürstlich-brandenburgischer Historiograph, als Geschichtsschreiber des Großen Kurfürsten in Berlin gestorben ist. Aber neben den unmittelbar in Holland gebildeten Professoren gibt es noch die große Anzahl, die an weiteren Hochschulen des Kontinents, besonders in Deutschland, bei Angehörigen der Niederländischen Bewegung studiert hat, unter ihnen die königlichen Bibliothekare Fornelius und Freinsheim, der zuerst die skytteanische Professur versehen hatte. Er gehört zu dem Kreis der aus den Niederlanden kommenden oder dort ausgebildeten Gelehrten, den die Königin Christine um sich versammelte. Gerade hier ist der Stoizismus besonders gepflegt worden, und noch in der katholischen Phase Christines lassen sich die starken Anklänge der römisch-stoischen Literatur feststellenGa naar voetnoot1. Die schwe- | |
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dische Wirtschaft wurde in jenem Zeitraum unmittelbar von Niederländern erschlossen. Ich kann hier nur den Namen des führenden Industrie-Unternehmers Louis de Geer nennen, der die schwedische Waffenerzeugung aufbaute, die schwedische Eisenindustrie entwickelte und daneben die geistigen Verbindungen mit Holland pflegte. Hugo Grotius schließlich starb im diplomatischen Dienst der schwedischen Krone. Auch am bayerischen Hofe trat das lipsianische Staatsideal beherrschend in den Vordergrund. Den Gelehrten Lipsius selbst für die Landesuniversität Ingolstadt zu gewinnen, war 1592 das Bemühen Herzog Wilhelms V. gewesen. Sein Sohn Maximilian I. wurde früh mit den Gedanken von Lipsius vertraut; hochpolitische Schriftstücke seiner Regierungszeit, insbesondere die berühmten Monita paterna von 1639, das erste Politische Testament des Kurfürsten, lehnten sich aufs engste an die Politica und die Monita et exempla politica von Lipsius an, ja, sie schrieben sie geradezu ausGa naar voetnoot1. Die Werke der Niederländer lagen | |
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in den Münchner Buchhandlungen aus. Die engsten Berater und Beichtväter Adam Contzen und Johannes Vervaux, der Hofkammerpräsident Dr. Mändl und der Hofkammerrat Sebastian Saurzapf, dessen Bibliothekskatalog von 1609 Lipsius als den ‘Haupt- und Lieblingsautor’ ausweist, sie alle hätten sicherlich der humanistischen Lobpreisung des kurfürstlichen Leibarztes zugestimmt, der im Jahre 1601 aus München an Lipsius schrieb: ‘Tu es parvulus Deus in hoc mundo’. Wie im katholischen Bayern, so standen auch im katholischen Österreich die moralisch-politischen Schriften von Lipsius in höchstem Ansehen. Auch hier wirkten die Jesuiten als wesentliche Vermittler und als Hüter des neustoischen Geistesgutes. Daß die letzten lateinischen Drucke der Constantia, der Monita et exempla politica und der Politicorum libri sex gerade im Bereich der Habsburger erschienen sind, Wien 1711, Linz 1703 und Wien 1752, habe ich bereits erwähntGa naar voetnoot1. Die Schriften von | |
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Lipsius waren ‘in den Adelsbibliotheken Österreichs um 1600 überall zu finden’Ga naar voetnoot1. Noch ist die Schrift Ferdinandi Romanorum Imperatoris Virtutes (1638) des kaiserlichen Beichtvaters Lamourmaini nicht so genau untersucht wie die Väterliche Ermahnung von Vervaux, aber es besteht kein Zweifel, daß auch hier die späthumanistischen Werke weitgehend Pate gestanden haben. Nur ist es die Gedankenwelt des Lipsius nach 1592, die der Monita et exempla politica und der systematischen Darstellungen über die antike Stoa, die der christlichkatholischen Auffassung angeglichen war. Es ist jener Lipsius, der die Fürsten dazu anhielt, ihre Priester und Theologen auszuzeichnen und zu den Beratungen heranzuziehen (Monita Lib. I, Cap. 2, mon. IV: Sacrorum antitistes aut administros honorandos, audiendos esse!). Die erwähnte Beobachtung über die Herkunft der habsburgischen pietas-Auffassung von Lipsius und aus dem Lipsius-Kreis läßt sich noch erweiternGa naar voetnoot2. Die im Neustoizismus zentralen Begriffe der clementia und constantia wurden zu verchristlichten Kernbegriffen der habsburgischen Amtsethik für über ein Jahrhundert bis zu Maria Theresia, die nicht nur in ihrem Politischen Testament und in ihrem Briefwechsel, sondern auch in ihren politischen Wandlungen davon Zeugnis ablegt. Die Denkschrift eines kaiserlichen Botschafters vom Anfang des Jahrhunderts, die den gebildeten Grafen Lamberg zum Verfasser hat, trägt betont lipsianische Züge. Die politische Ethik des Neustoizismus ‘als Grunddisposition (war) nicht nur in gelegentlichen Reflexionen wirksam’Ga naar voetnoot3. In Ungarn ist erst in jüngster Zeit die starke Ausstrahlung des niederländischen Späthumanismus auf die politischen Theorien in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachgewiesen worden. Lipsius spielte für die Grundlegung der ungarischen Staats- | |
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wissenschaft sozusagen die ‘Rolle eines Klassikers’. Schließlich übersetzte man 1641 die Politica auch ins UngarischeGa naar voetnoot1. Was ich für die katholischen Teile Deutschlands angeführt habe, könnte für die protestantischen in vielem stärker belegt werden. Neuerdings ist wenigstens der überragende Einfluß der niederländischen Universitäten auf das deutsche Geistesleben im 17. Jahrhundert bis weit ins 18. hinein dargestellt worden. Es war doch ein überraschend breiter, sehr vielseitiger und tiefgehender Strom, der mit 19.000 Studenten nicht nur das deutsche Kulturleben, sondern auch Staat und Wirtschaft befruchteteGa naar voetnoot2. Man darf nach den bisherigen Forschungen zur ersten Phase der Niederländischen Bewegung als Ergebnis festhalten: Die in so verschiedenen Lagern und an so verschiedenen Orten stehenden Personen wie Heinrich IV. und Oldenbarneveldt, Richelieu und Gustav Adolf, die Nassau-Oranier und Maximilian von | |
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Bayern, sie alle sind durch die Kenntnis der neustoischen Gedankenwelt verbunden. Auch wenn sie sich gegenseitig bekämpften, so bilden sie doch in ihrem politischen Denken und staatlichen Handeln eine Gruppe, die in den Grundsätzen der Verbindung von prudentia (ratio) und virtus, der zivilen und militärischen Institutionen, der politischen Disziplin und Askese aufs engste zusammengehört. Zu diesen Männern sind eine Generation später der Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg und seine Mitarbeiter zu rechnen. Denn auch auf Geist und Staatsbildung Preußens hat die Niederländische Bewegung mehr als ein Jahrhundert entscheidend eingewirkt. | |
IIIHolland war zur Zeit seiner Blüte die pädagogische Provinz Europas. Daß der Militärstaat Preußen von der bürgerlich-unmilitärischen Republik der Niederlande auch beeinflußt sein soll, könnte auf den ersten Blick überraschen. Aber jenes Attribut trifft für die holländische Geschichte während des 80-jährigen Krieges nicht ganz zu, und auch das einseitig kulturlose Bild Preußens stimmt nicht ganz. Wie für andere europäische Staaten, waren die Niederlande auch Vorbild für Brandenburg-Preußen auf den Gebieten des Handels und Militärs, der Kultur und WirtschaftGa naar voetnoot1. Die durch nichts aus den deutschen Territorien des 16. Jahrhunderts sich erhebende Kurmark Brandenburg begann seit der Mitte des 17. Jahrhunderts einen innen- und außenpolitischen Aufstieg zur europäischen Macht. Wie ist dieser zu erklären? Der größte Teil der Geschichtsschreiber hat als bedeutsamste Ursache den Religionswechsel und seine allgemeinen Folgen, den Übertritt des Herrscherhauses zum Calvinismus mit seinem Bekenntnis zur aktiven Lebensform in Wirtschaft und Politik angesehen. Diese These lehnten jedoch manche deutschen Forscher ab unter Hinweis auf die hochkirchlichen Engländer | |
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der Elisabethzeit und die Gestalt Gustav AdolfsGa naar voetnoot1. Einer der besten Kenner der brandenburg-preußischen Geschichte, Otto Hintze, hat dann 1931 im großen weltgeschichtlichen Zusammenhang das Problem erneut gestellt und den Calvinismus als Brücke bezeichnet, ‘über welche die moderne Staatsräson, und zwar in der niederländisch-französischen Form, ihren Einzug in die brandenburgische Politik’ hieltGa naar voetnoot2. Hintze scheint mir in jener großartigen Abhandlung im Gefolge Max Webers die Berührung von moderner Staatsräson und calvinistischer Wirtschaftsräson zu stark betont zu haben, aber der erneute Hinweis auf die Niederlande, die deutlich als Vorbild des Großen Kurfürsten immer wieder hervortraten, bleibt wichtig. Hintze machte jedoch keine Angabe über das, was sich in der niederländisch-französischen Form der modernen Staatsräson verbarg: Es ist die prudentia civilis des politischen Neustoizismus. In der Zeit des ersten Bündnisses zwischen Brandenburg und den Generalstaaten vom Jahre 1605Ga naar voetnoot3 finden wir mannigfache wissenschaftliche Berührungen mit dem niederländischen Späthumanismus. Die Erstausgabe des zweiten Hunderts der Briefe von Lipsius vom Jahre 1591 enthält ein Antwortschreiben an den Humanisten Franz Hildesheim (1551-1613) in Frankfurt an der OderGa naar voetnoot4. In ihm gibt Lipsius seiner großen Freude Ausdruck, den fernen Brandenburger unter die Seinen rechnen zu dürfen. Der Verkehr sei aber schwierig, denn nur selten kämen Niederländer nach Frankfurt außer zur Messe (rari a nobis homines illuc). Hildesheim wurde der vertraute Leibarzt des späteren Kurfürsten Joachim Friedrich, der jenes Bündnis von 1605 abschloß. Er ist auch als brandenburgischer Geschichtsschreiber seiner Zeit hervorgetretenGa naar voetnoot5. An der Elbe, an der Spree und an | |
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der Oder finden wir in jenen Jahren Drucke der Schriften von Lipsius. 1599 erschien in dem von den Hohenzollern beherrschten Erzstift Magdeburg eine Sammlung aus den Hauptschriften zur praktischen Philosophie, den Politica und der Constantia: die Flores totius philosophiae Justi Lipsii. Sechs Jahre später erschien eine neue Auswahl. Sie wurde dem früheren brandenburgischen Kanzler Christian Distelmeier, dem Berater des Kurprinzen Johann Sigismund, gewidmet. Leider ist der Katalog der berühmten Bibliothek Distelmeiers nicht erhalten. Die Gratulationsverse zu dem Melleficium von 1605 zeigen, daß das gebildete Bürgertum Berlins, kurfürstliche Räte, Gerichtsnotare und, was zu beachten ist, die Lehrer des Gymnasiums, sich für die neustoisch-humanistische Ideenwelt begeisterte und für ihre Verbreitung einsetzte. Auch an der kurmärkischen Landesuniversität Frankfurt/Oder wurde wie an anderen deutschen Hochschulen die Staatslehre von Lipsius gelehrt. Der Historiker und Jurist Cyriacus Herdesianus (1618-1631) hatte in Holland studiert und dort 1613 seine ersten Arbeiten veröffentlicht. 1612 druckte sogar ein Frankfurter Verleger das Hauptwerk des politischen Neustoizismus sicherlich für den politischen Unterricht der Akademie, obwohl Jahr für Jahr neue Auflagen erschienen (bisher 22 lateinische Ausgaben und zwei deutsche Übersetzungen). Für die Verbreitung calvinistisch-niederländischen Geistes sind auch die Eintragungen in den Stammbüchern der Hohenzollernprinzen sehr interessant. Gewiß läßt sich über den Wert dieser Quelle für die Aussage geistesgeschichtlicher Verbindungen streiten, so wie es problematisch ist, aus der Zusammensetzung einer Bibliothek bestimmte Einflüsse zu erforschen. Aber selbst wenn es sich nur um Modesentenzen handelt, so sehe ich doch etwas mehr darin als nur die ‘Verbreitung allgemeiner Bildung’, wie Ranke es tat. Vornehmlich Mitglieder des nassauoranischen Fürstenhauses trugen die Sprüche ein, die uns die weltanschaulichen Denkinhalte in den regierenden Schichten verlebendigen. Mehrfach belegt ist der neustoische Topos: constantia patientia. Die Tochter Wilhelms I. von Oranien wählte den Sinnspruch: Gott dienen, das heißt herrschen. | |
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Ranke meinte dazu noch: resigniert, aber großartig. Doch von Resignation kann nicht die Rede sein, auch nicht bei der Devise Senecas: Gott gehorchen ist Freiheit. Schon 1590 lautet eine Eintragung: pietas cum robore coniuncta, Gottesfurcht verbunden mit Gemütsstärke, dem robur animi des Lipsius. Der noch durch Calvin zitierte Satz Ciceros, pietas coniuncta justitia, wurde so im Sinne der sechs Jahre zuvor veröffentlichten ‘Constantia’ verändert. Diese Entfaltung und Entwicklung aller Energien kündigte sich ins Politische übertragen durch neue Prinzipien an, die eine Ablösung des bisherigen altterritorialen Stillebens mit seiner Sorge für die reine Lehre und die liebe Justiz bedeuteten. In jenen Jahren erfolgten die ersten Versuche einer Neuordnung der brandenburgischen Wehrverfassung durch Räte und Offiziere, die in der niederländischen Armee gedient hatten. Die späteren Beziehungen der brandenburgischen Dynastie zu den Niederlanden sind oft geschildert worden. Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640-1688) lernte als Kurprinz in seinem 14. bis 18. Lebensjahr die niederländische Kultur und Politik von der statthalterlichen Seite her, am oranischen Hofe und im Lager Friedrich Heinrichs, kennen. 1636 studierte er auch kurze Zeit direkt an der Universität Leiden. Das Erlebnis des in seiner vollen militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kraft stehenden Staatswesens hat ihn sein Leben lang bestimmt. Der Kurfürst hat die engen persönlichen und wissenschaftlichen Beziehungen zu den Niederlanden, die durch die Eheschließung mit der Tochter des Prinzen Friedrich Heinrich, Luise Henriette, verstärkt wurden, bewahrt. Die Hauptstadt Berlin ‘verholländerte’ in der äußeren Gestaltung wie im geistigen Zuschnitt. Friedrich Wilhelm betrachtete in der Wirtschafts-, Finanz-, Handels- und Kolonialpolitik, im Kanal-, Stadt- und Festungsbau, in Kunst und Wissenschaft Holland stets als Leitbild, er sammelte die militärischen Schriften der Nassau-Oranier durch Vermittlung seines Statthalters in Cleve, Johann Moritz von Nassau-SiegenGa naar voetnoot1. Männer der Niederländischen Bewegung wurden offizielle Historiographen oder Hochschullehrer. Zu der persönlichen Umgebung des Kurfürsten gehörten die Leibärzte, die allgemein im 17. Jahrhundert als humanistische Berater die theologischen vielfach ablösten; sie hatten an niederlän- | |
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dischen Universitäten studiert oder waren selbst Holländer wie der Schüler von Arnold Geulincx, Cornelius Bontekoe (1640-85), der zugleich in Frankfurt/Oder lehrteGa naar voetnoot1. Wir sahen schon am Beispiel des Leibarztes Hildesheim die gelehrten Beziehungen dieser Schicht. Auch die Mehrzahl der reformierten Hofprediger Brandenburg-Preußens hat ihr Haupt- oder ein Nachstudium in Holland durchgeführtGa naar voetnoot2. In der kurfürstlichen Bürokratie wird der niederländische Einfluß spürbar. Nur einige Beispiele: Nikolaus Ernst von Platen, der Begründer und erste Leiter des brandenburgischen Generalkriegskommissariats (1655-1669), jener für Brandenburg-Preußens Verwaltung und wirtschaftliche Entwicklung so charakteristischen Behörde, hat in Leiden studiert und in Groningen promoviert. Der bekannte Minister der Spätzeit des Großen Kurfürsten und Friedrichs I., Paul Fuchs, sozusagen der erste Kultusminister Brandenburg-Preußens und Mitbegründer der Universität Halle, studierte in Leiden und Franeker und war vor seinem Eintritt in die unmittelbaren Dienste Friedrich Wilhelms Lehrer des Naturrechts an der Universität Duisburg, einer Gründung des Großen KurfürstenGa naar voetnoot3. Bei einer weiteren Anzahl von hohen Beamten ist das Studium oder die Pereginatio academica in den Niederlanden nachzuweisen. Der Statthalter in Ostpreußen, Fürst Boguslaus Radziwill, studierte in Groningen und Utrecht Mathematik und Befestigungslehre und kämpfte dann im Heere Friedrich Heinrichs von OranienGa naar voetnoot4. Auch aus niederländischen Diensten kam der Graf von Waldeck, dessen berühmte Denkschriften zuerst den aktiven Geist der niederländischen politischen Lehren atmen wie später viele politische Schriften des Kurfürsten selbst. Das neue preußische Beamtentum ist schon während des Studiums an den deutschen | |
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Universitäten mit dem staats- und moralphilosophischen Gedankengut der Niederländischen Bewegung in Berührung gekommen. Die Studienorte Straßburg, Helmstedt, Altdorf, Heidelberg, Jena usw. sprechen für sichGa naar voetnoot1. Der Kurfürst ließ zudem die Söhne seiner Beamten gern auf seine Kosten im Ausland, d.h. dann in den Niederlanden, sich weiterbilden. Diese Zusammenhänge sind bisher nur in zahlreichen Einzelfällen erkannt, sie müssen noch systematisch erforscht werden, wie jüngst die Schicht der Hofprediger im Rahmen der reformierten Hofgesellschaft und Bürokratie durch von Thadden (S. 60, n. 2) untersucht worden ist. Wie sehr der Kurfürst persönlich hinter solchen Studienplänen stand, zeigt sein Gespräch mit dem bekannten Utrechter Philologen Graevius, der darüber berichtet hatGa naar voetnoot2. Der Kurfürst unterhielt sich mit ihm über verschiedene Fragen der Wissenschaftsorganisation, auch über seine Sorge um eine neue Universitätsgründung für den Landesteil Magdeburg-Halle gleich seiner Universitätsgründung Duisburg für die westlichen Landesteile. Graevius war schon 1667 beteiligt gewesen an dem nicht ausgeführten Projekt einer Universaluniversität. Diese sollte für die Lehrer und die Lehre aller christlichen Bekenntnisse und aller Weltreligionen offen sein und in Tangermünde an der Elbe erstehen. Der Plan einer Academia Gentium war von Bengt Skytte, dem an niederländischen Universitäten gebildeten Sohn des schwedischen Reichsrats Johann Skytte, für alle libertatis amantes entworfen, die ‘schuldlos durch ein “Scherbengericht” aus der Heimat verbannt oder von Haus und Hof vertrieben’ sind, wie es in der vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm unterzeichneten Berliner Urkunde vom April 1667 hieß. Die Gründung der Universitas Brandenburgica Gentium, Scientiarum et Artium, die Religionsfreiheit und Steuerfreiheit für die Gelehrten und Künstler | |
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vorsah, ist an der Schwierigkeit des Unternehmens, nicht zuletzt wohl auch an der Geldfrage gescheitertGa naar voetnoot1. Wir haben gesehen, wie die Niederländische Bewegung in Brandenburg unter dem Großen Kurfürsten am Hof, im Beamtentum und auch an den Hochschulen vertreten ist. Einer seiner Historiographen, Martin Schoock (1614-1669), vermutlich ein Sohn Utrechts, Professor für Geschichte an der Landeshochschule Frankfurt, gab die Arcana Imperii (1605) des Tacitisten Arnold Clapmarius mit einer Widmung an die brandenburgischen Geheimen Räte heraus. Noch neben seinem Vater wirkte der Sohn Isaac Schoockius als Professor Ethicae et Politicae (1665-1681). Clapmar nun hatte als erster Deutscher erfolgreich an die holländische Staatslehre angeknüpftGa naar voetnoot2, und ebenso deutlich schilderte M. Schoockius in der Vorrede seiner Ausgabe unter dem Titel ‘Politicus Pius’ die Eigenschaften eines Staatsmannes mit den Worten des Lipsius. Die Definitionen der Constantia und Pietas waren wörtlich übernommen, ohne daß Schoockius seinen Vorgänger nannte. Vor seiner brandenburgischen Tätigkeit war Schoockius von 1638 bis 1664 Professor in Utrecht bzw. GroningenGa naar voetnoot3. Hier hielt er bereits eine Rede über den Politicus Pius. Das Beispiel zeigt, daß um diese Zeit in den Niederlanden die neustoische Wertlehre von einem Cartesianer vorgetragen wurde, wenn auch ohne Nennung des Urhebers, und daß zweitens diese neustoische Staatslehre auch von der brandenburgischen Landeshochschule verkündet wurde. Verfolgt man dieses Beispiel weiter, kommt man zu der Lehre vom Politicus Pius bei August Hermann Francke, dem Begründer | |
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des preußischen Pietismus in HalleGa naar voetnoot1. Der Nachfolger von Schoockius aber berief sich direkt auf die Historiographen Lipsius und Isaac Vossius, um den auszeichnenden Titel eines brandenburgischen Historiographus zu erhalten. Die Verbindung von Geschichtsschreibung und politischer Lehre als Charakteristikum der Niederländischen Bewegung wird wieder bestätigt. Der Kurfürst diktierte eines Tages seinem Sohne als Maxime den Satz, der später als Inschrift über dem Portal des königlichen Schlosses in Berlin stand: Sic gesturus sum principatum, ut rem populi esse sciam, non meam privatam. Lipsius hatte den Ausspruch Hadrians mehrmals zitiert, u.a. auch in seiner Politik und seinem Fürstenspiegel, der Auslegung des Panegyricus Plinii. In den Notae zur Politik bemerkte er in einer Marginale zu dieser Hadrian-Stelle: Reipublicae Princeps servit. Das ist fast wörtlich die Devise Friedrichs II. von Preußen: Le Prince est le premier serviteur de l'état. Nachdem ein Jahr zuvor die 40. Auflage der Monita et exempla politica im preußischen Wesel veröffentlicht worden war, erschien 1675 eine letzte Auflage der Opera Omnia des Lipsius im selben Verlag. Sie war dem brandenburgischen Kurprinzen Friedrich vom Verleger gewidmet, der besonders auf die Wichtigkeit der militärischen und politischen Teile hinwies. Die preiswerte Ausgabe sollte einer weiten Verbreitung der Gedanken des Magnus Lipsius dienen. Nicht nur in den Bibliotheken der Magnaten und Gelehrten sollten seine Werke stehen, sie sollten künftig auch in den Händen aller Studenten sein: Ex officina mea in vulgus exit! Noch in der Bibliothek von Goethes Vater stand ein Exemplar dieser Gesamtausgabe. Friedrich I. war von Eberhard Danckelman, dem späteren ersten Minister, erzogen worden, der in den Niederlanden studiert und in Utrecht seinen Lic. jur. erworben hatte. Am Beginn des 18. Jahrhunderts wurde dem neuen Könige Preußens ein zweiter Lipsius-Druck gewidmet. Ein Berliner und ein Wittenberger Verleger brachten eine zweibändige, überreich kommentierte und ergänzte Quart-Ausgabe der lipsianischen Politik heraus unter dem bezeichnenden Titel ‘Theatrum prudentiae elegantioris’, um gleichzeitig auf die elegante Jurisprudenz der Niederländischen Bewegung anzuspielen. Symbolisch trugen vier Säulen den mo- | |
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dernen Staat im Titelbild. Sie waren für Preußens Stellung und Selbstverständnis charakteristisch: Militia, Justitia, Religio, Politica. Die Fundamente des älteren Gemeinwesens, Gerechtigkeit und Religion, wurden ergänzt durch die moderne Prudentia militaris et togata, Militär und PolitikGa naar voetnoot1. Kurz vor dem Tode des Großen Kurfürsten traf der große Naturrechtsdenker Samuel von Pufendorf, ein führender Kopf der Niederländischen Bewegung, aus Schweden in der brandenburgischen Hauptstadt ein. Er starb in Berlin sechs Jahre später als Hofhistoriograph und Geheimer Rat. Sein Schüler Christian Thomasius setzte seine Ideen als bedeutender Lehrer an der neuen preußischen Landesuniversität Halle fortGa naar voetnoot2. Den Großen Kurfürsten umgab das geistige Klima neustoisch-arminianischen Strebens und grotianisch-naturrechtlichen Denkens. Beide Phasen der Niederländischen Bewegung bilden eine wesentliche Voraussetzung zum Aufstieg Preußens im 18. Jahrhundert. Nicht allein die Dynastie brachte die neue Berufs- und Staatsauffassung nach Brandenburg-Preußen, vielmehr wirkte eine große Schicht von tätigen Ratgebern, von Ministern und Erziehern in diesem Sinne. Zu den besonderen Vermittlern der niederländischen Ideen gehört - gleich den Skyttes in Schweden - das Geschlecht der (ost)preußischen Burggrafen zu Dohna. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte Abraham von Dohna, vertrauter Berater des Kurfürsten Johann Sigismund, die militärische Ausbildung - wie seine Brüder und Vettern - unter Moritz von Oranien erhalten und alle Bildungsmöglichkeiten genutztGa naar voetnoot3. Er ist der Verfasser des einzigen er- | |
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haltenen Kataloges der Bibliothek des Prinzen Moritz. In seiner eigenen Bibliothek auf seinem ostpreußischen Schloß finden wir fast sämtliche Werke von Lipsius in Einzelausgaben, die Politik und ihre katholische Fortsetzung, die Monita et exempla politica von 1605, die Constantia, die militärischen Werke Militia Romana und Poliorceticon sowie die Ausgaben der römischen Historiker. Aber auch die Schriften von Baudius, Heinsius, Philipp Marnix, Merula, Meteranus, Meursius usw. standen auf seinem BücherbordGa naar voetnoot1. Abrahams Bruder Christoph, der an der Universität Heidelberg bei Janus Gruterus studiert hatte, war gleichfalls ein ungewöhnlich begabter Mann. Er zählte 1617 zu den Mitbegründern der berühmten Fruchtbringenden Gesellschaft, die neben ihrer Tätigkeit als Sprachgesellschaft auch moderne politische Ideen und eine protestantische Toleranz in Deutschland vertrat. Bei einer ähnlichen Gesellschaft deuten schon der Name: Constantia und die Devise: Semper constans die allgemeine Tendenz an. Mitglied dieser weltanschaulichen Sprachvereinigungen wurden die Hohenzollern selbst, darunter zwei Kurfürsten, Teile ihres Adels, so der Erzieher des Kurprinzen Friedrich Wilhelm, zwei seiner leitenden Minister, C. von Burgsdorf und O. von Schwerin, dazu die preußischen Dohnas, die märkischen Schulenburgs und Gänse zu Putlitz. Die Fruchtbringende Gesellschaft unterhielt enge persönliche Beziehungen zu dem Kreis um die Oranier sowie zu den holländischen Gelehrten. Der Sohn jenes Christoph von Dohna, Christian Albrecht, ein Vetter der Kurfürstin Luise Henriette, bekleidete am brandenburgischen Hofe eine hervorragende Stellung. Als Gouverneur von Küstrin und Generalleutnant bemühte er sich, den Geist der niederländischen Heeresreform in der jungen brandenburgischen Armee zu stärken. Der Neffe Christophs, Alexander zu Dohna, wurde Oberhofmeister des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, d.h. der Erzieher des sogenannten Soldatenkönigs. Im Wechsel von politischen und militärischen Stellungen, den wir bei fast allen Dohnas feststellen, bewahrte der Feldmarschall | |
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das oranisch-niederländische Erbe. Nach der Schilderung des Biographen Friedrich Wilhelms I. beeinflußte er durch peinliche soldatische Gewissenhaftigkeit die zukünftige Haltung des Königs wesentlichGa naar voetnoot1. Asketisch und methodisch in der Lebensführung, voll ernster Berufstreue, in Selbstkontrolle und Pflichtbewußtsein wurde dieser Dohna zu einem Vorbild des guten preußischen Offiziers. Damit wird die Frage des Militärs in Preußen angeschnitten. In der Organisation, der Disziplin, dem Geist ist die brandenburg-preußische Armee dem niederländischen Vorbild, der späthumanistischen Wissenschaft und der nassauischen Praxis zutiefst verpflichtet. Die Beeinflussung konnte auch hier teils direkt, teils indirekt erfolgen. Die angeführten Beispiele der Dohnas lassen sich vermehren durch die Offiziere des brandenburgischen Heeres, die zuvor in holländischen Diensten gekämpft hatten. Vieles sagt auch die Literatur aus. 1665 erschien zum erstenmal der maßgebende Kommentar zum brandenburgischen Kriegsrecht; sein Verfasser, der Generalauditeur E. Hoyer, berief sich sechsmal auf die Militia Romana des Lipsius, obwohl er sonst nur juristische Literatur anzuführen pflegte. Er schilderte z.B., gestützt auf jenes Werk, sehr eindringlich die tiefe religiöse Verehrung der Römer für ihre Feldzeichen. Gustav Adolf hatte die neuen, unter dem Einfluß des Späthumanismus verfaßten holländischen Kriegsartikel von 1590 zur Grundlage der Kriegsartikel für seine Heereskörper genommen. Das schwedische Kriegsrecht wiederum übernahm der Große Kurfürst 1656 für die brandenburgische Armee, deren erstes Exerzierreglement sich direkt auf die holländische Kommandogebung stützteGa naar voetnoot2. Und für die geistig-moralische Bildung des Offiziers blieb die Literatur der römischen Stoa das hohe Vorbild, wie die militärund staatswissenschaftlichen Schriften und Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts zahlreich belegen. Ihr Studium bei einer geplanten Untersuchung über das Verhältnis von neuer Staat- | |
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lichkeit und älterer Militärverfassung im deutschen Absolutismus regte mich erst zu den Forschungen über den niederländischen Späthumanismus an. Der Herausgeber eines jener Riesenwälzer, des Corpus iuris militaris (1723), entwickelte den Plan einer ‘Universalbibliothek vor einen gelehrten Offizier’. J.C. Lünig führte darin, natürlich in französischer Übersetzung, die Werke der römischen Stoiker auf: Les oeuvres de Senèque, Les offices de Cicéron, L'esprit de Senèque, La morale d'Epictète. Noch im dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts galten diese als eine Grundlage der Weltanschauung und Lebensführung des deutschen Offiziers im absolutistischen Heer. Für die Fragen des Kriegsrechts verwies Lünig neben den nicht genannten ‘Scriptores Juris Gentium’ ausdrücklich auf die Politik des Lipsius und des Frankfurter Professors für Geschichte und Politik J.C. Becman (1681-1717). Gewiß, unmittelbar werden die lateinischen Philosophen und Lipsius wohl nur von wenigen preußischen Offizieren und Beamten gelesen worden sein. Doch die schöne Literatur genauso wie das wissenschaftliche Schrifttum der Zeit waren voll von Anspielungen auf dies antike Geistesgut. Nach der stärkeren Verbreitung epikureischer Ideen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde der Stoizismus verengt, verflacht. Vielfach fand sich schon eine platte Weltnützlichkeitslehre vor: nur die praktische Verwendbarkeit der Wissenschaft galt, zweckfreie Bildung wurde weithin abgelehnt. Der Weg führte von Lipsius abwärts über Gracián zu dem preußischen Staatsdenker, dem Hallenser Professor Christian Thomasius, der die deutsche Aufklärung anführte. Ihn schätzte Friedrich Wilhelm I. ungemein. Der König lehnte jede philosophische Spekulation ab, mit seinem praktischen Verstand mochte er ihr auch nicht folgen können. Er ahnte kaum die tieferen humanistischen Grundlagen, auf denen er sein politisches Werk, die Verwaltungsorganisation, das Beamtentum und das Heer, aufbaute. Für ihn wurde vielmehr der auf dem religiösen Erlebnis ruhende, zur Tätigkeit aufrufende Pietismus zur seelischen Stütze. Auch diese politisch-soziale Reformbewegung der lutherischen Kirche hatte gewiß ebenso wie der Puritanismus in England bereits Impulse vom Neustoizismus erhalten und sich anverwandelt. Die gewaltige pädagogische Kraft, das Gefühl der strengen Verantwortung, der Wille zum aktiven Einsatz und zur beständigen Arbeit, die methodische Übung und ständige Selbstkontrolle, der Kampf gegen jede falsche moralische Sicher- | |
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heit, die Mahnung zur Mäßigung, Selbstbeherrschung und Askese waren allen Bewegungen gemeinsam. In ihnen drängten die ‘bürgerlichen’ Tugenden nach vorn, die auch Friedrich Wilhelm I. anzogen. Sie pflegte er nach der Einordnung des Pietismus in seinen Staat in allen Bereichen. In der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle ‘sind die Werke des großen Niederländers Lipsius in zahlreichen Ausgaben vertreten’, stellte die jüngste Biographie über den Begründer des preußischen Pietismus, August Hermann Francke, fest. Der Verfasser weist auf drei Ausgaben der Constantia und sieben der Politica hinGa naar voetnoot1. Francke kannte die Niederlande persönlich, er wurde auch durch den Herzog Ernst den Frommen von Gotha, dieses Muster eines fortschrittlichen Landesherrn, auf die späthumanistische Gedankenwelt hingewiesen. Hatte doch der Herzog den Sohn seines Rates Seckendorff, Veit Ludwig, in Straßburg bei Johann Heinrich Boecler studieren lassen. Seckendorff, der Verfasser von zwei sehr bedeutsamen Schriften zur deutschen Staatsbildung, wurde wiederum der erste Kurator der neuen preußischen Universität Halle. Alle diese Zusammenhänge sind in ihrer Bedeutung für die Vermittlung niederländischen Geistesgutes noch gar nicht untersucht. Ich kann daher auf diesen Forschungsfeldern nur Aphorismen bieten. Als die kirchliche und schulische Bewegung des Pietismus eine größere soziale Unterlage gewann, konnte die Erziehung zu Fleiß und Leistung in Brandenburg-Preußen in breiteren | |
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Schichten wirksam werden. Die Träger der nun gesellschaftlich sich umstrukturierenden Niederländischen Bewegung, die humanistisch Gebildeten in Adel und Bürgertum, in Bürokratie und Offizierkorps, waren im 18. Jahrhundert nicht mehr zahlreich genug, um den personellen Engpaß zu überwinden. Neue Schichten rückten in die wachsende Staatsverwaltung und die aufblühende Wirtschaft ein. Für sie schuf Friedrich Wilhelm als erster europäischer Monarch besondere staatswissenschaftliche Lehrstühle an seinen Universitäten, die 1727 begründeten Professuren für Ökonomie, Polizei und Kammersachen, wobei unter Polizei damals die innere Politik überhaupt zu verstehen ist. Gegenüber der überragenden Rolle der humanistischen Philologie und Philosophie im Studiengang während der historisch-politischen Phase der Niederländischen Bewegung ließ also der Anteil der Philologen entschieden nach. Die naturrechtliche Staats- und Rechtskultur der zweiten Phase der Niederländischen Bewegung wurde in Preußen ergänzt durch die staats- und wirtschaftspädagogische Wirksamkeit und die alle Berufe erreichende Tätigkeit der pietistischen Pfarrer und Lehrer. Noch in der Zeit Friedrich Wilhelms I. finden wir auch interessante Bezüge auf die römische Stoa. Der König ließ das Kriegsreglement des Spaniers Sala y Abarca übersetzen und jedem Offizier ein Exemplar überreichen. Der Geist der stoisch-naturrechtlichen Vorrede des Verlegers wurde durch die Embleme des Titelkupfers bestätigt: Auf der mit Regimentsfahnen und Waffen geschmückten Säule prangte das Bild des Monarchen, zu Füßen der schwarze Adlerorden mit der römisch-rechtlichen Devise ‘Suum cuique’. Auf der Tafel davor stand in großen Lettern die Sentenz: Omnis in ferro est Salus. Seneca. Der Zusammenhang der kriegerischen Moral Preußens mit der römischen Philosophie war noch einmal deutlich. Der neunjährige Prinz hatte einst über das Kriegswesen gesagt, das ist die Basis des Staates. Nun wurde der Satz Senecas, das Wohl des Staates ruht auf seinen Waffen, gleichsam zur Devise Preußens. Der Verleger erläuterte sie aber einschränkend: Seneca sei nur so zu verstehen, ‘daß die Verfassungen, welche zum Kriege gehören, wenn sie recht eingerichtet sind, dem gemeinen Wesen wichtigen Vorteil bringen’. Keineswegs müsse zu allen Zeiten Krieg geführt werden. Diese Auslegung war ganz im Sinne des Königs, der seine wachsende Kriegsmacht nicht mehr einsetzte. Blinder Gehorsam und jede Brutalität werden vom Verfasser abge- | |
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lehnt, williger Gehorsam, Tugend, Verstand und Wissen gefordert. Gewiß lag in diesen Worten mehr das Ideal als die Wirklichkeit des preußischen und überhaupt des europäischen Heeres jener Zeit! Wer jetzt in voller Kenntnis des niederländischen Späthumanismus die vom preußischen ‘Kultusminister’ Fuchs 1695 entworfene Vorschrift für die Erziehung des Kurprinzen Friedrich Wilhelm noch einmal studiert und den Unterricht des Erziehers Rebeur verfolgt, stellt bestimmte Einwirkungen dieser Richtung fest. Die beiden holländischen Bildungsreisen bedeuteten wenig für die geistig-wissenschaftliche Entwicklung des Kronprinzen, aber viel für seine persönliche Lebensführung, das wirtschaftlich-bürgerliche Interesse, das seine Herrschaft charakterisiert. Und sein Biograph Hinrichs schildert die Nachwirkung der Reisen: ‘Für ihn war Holland nicht mehr [wie für den jungen Kurfürsten Friedrich Wilhelm] das schmerzliche Erlebnis von Blüte gegen Verfall, von Macht gegen Ohnmacht, nicht so sehr ein Erlebnis der politischen Bildung, sondern der äußeren Gesittung und Kultur. Diese waren ihm vom gemeinsamen protestantisch-puritanischen Boden her so gemäß, daß holländisches Wesen ein Element des von ihm begründeten preußischen Militärstaates werden sollte.’ Der bedeutendste Mitarbeiter und Vertraute des Königs war sein langjähriger Minister Friedrich Wilhelm von Grumbkow. Er war der letzte Generalkriegskommissar, dessen Amt aufgehoben wurde, und der neue Chef im 1. Departement des Generaldirektoriums, der 1723 begründeten obersten Behörde Preußens, die die älteren Zweige der ländlichen und der städtischen Steuerverwaltung und Wirtschaftspflege vereinigte. Grumbkow, in sittlicher Auffassung dem Könige so vielfach entgegengesetzt, hatte in den Niederlanden in Utrecht und Leiden studiert. Die Instruktion für den ihn begleitenden Hofmeister forderte das Lesen der Zeitungen und der kleinen Bücher, ‘so in Holland von Zeit zu Zeit heraufkommen und mit schönen politischen Reflexionen angefüllet sind’Ga naar voetnoot1. Der Verfasser der Instruktion war der Stiefvater Grumbkows, der Geheime Rat Franz Meinders, der selbst in der Straßburger Lipsius-Schule studiert hatte. Sollte er sich nicht aus seiner Studienzeit an die Taschenbücher der Res publicae-Serie Elzeviers erinnert haben? | |
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An den preußischen Universitäten wurden die naturrechtlichen Lehren im Gewande einer gemäßigten Staatsallmacht vorgetragen. Die spezifische Bedeutung von Hugo Grotius für das Rechts- und Staatsdenken Preußens ist noch zu wenig erforscht wordenGa naar voetnoot1. Daß aber Cocceji und Thomasius, Heineccius und Wolff unter dem beherrschenden Einfluß des Niederländers standen, zeigt jeder Blick in ihre Werke. Das wird auch von der neueren Forschung bestätigtGa naar voetnoot2. Die vollständige Publikation der Vorträge, die der Schöpfer der großen Rechtskodifikation des Allgemeinen Landrechts von 1794, Svarez, dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm (III). 1791/92 gehalten hat, läßt die Bedeutung des späten Naturrechtsdenkens für die früh einsetzende Entwicklung Preußens zum modernen Rechtsstaat deutlich werdenGa naar voetnoot3. Auch die Toleranzpolitik, die seit dem Großen Kurfürsten ein Kennzeichen des preußischen Staates war, muß im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Niederländischen Bewegung gesehen werden. Gewiß wiesen die kirchliche Lage der von drei Konfessionen, Lutheranern, Katholiken und Reformierten, bevölkerten Länder und das merkantilistische Machtstreben auf eine gewisse Duldung hin. Aber nicht nur die Staatsräson und die Wirtschaftsräson haben ihren Anteil an der Beschützung zahlreicher protestantischer Sekten, sondern auch das hol- | |
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ländisch-späthumanistische Vorbild und die naturrechtlichen Lehren. Da bei mußten sich die Fürsten und ihre Ratgeber gegenüber den unduldsamen Ständen durchsetzen, die auch jede Unionspolitik der einzelnen Hohenzollern ablehnten. Die starken Neigungen für das anglikanische Kirchenwesen bei den Einigungsversuchen unter Friedrich I. erinnern an die Sympathien des Grotius. Während noch in anderen deutschen Staaten der Landesherr das Reichsrecht der alleinigen Konfessionsbestimmung in Anspruch nahm und Andersgläubige vertrieb, herrschte schon seit jenem Projekt einer welttoleranten Universaluniversität und dem Potsdamer Edikt konfessionelle Freiheit. Die Hugenotten verstärkten das calvinistische Element in Preußen; ihre Gelehrten aber führten älteres Kulturgut mit sich - auch aus der Zeit des Neustoizismus in Frankreich, wie die Geschichtsschreibung eines Antoine de Teissier beweist, der zum Hofhistoriographen Friedrichs I. ernannt wurde. Manuskripte seiner Werke befanden sich in der Bibliothek der Grafen von Dohna. Der Erzieher Friedrichs des Großen, Duhan de Jandun, nahm seinen Weg über das Haus des Grafen Alexander von Dohna. Ob er den Kronprinzen mit den Stoikern bereits bekannt gemacht hat, ist nicht zu erweisen. Jedenfalls wird für Friedrich II. die heidnisch-antike Stoa wieder zur Lebensauffassung. Eduard Spranger erklärt zum Schluß seiner grundlegenden Untersuchung über die Philosophie des Königs: ‘Die stoische Seelenhaltung erweist sich also als das letzte, wozu der Philosoph von Sanssouci gelangt. Aber er spürt selbst, daß dieser Stoizismus eben für das letzte nicht zulangt’Ga naar voetnoot1. Die Wendung von Seneca zu Marc Aurel, dem Lieblingsphilosophen des Königs, bedeutete dabei für den Philosophe stoicien wohl die persönliche Wendung von der religiösen pietas zur mehr philosophischen humanité. Daß er indirekt auch dem Neustoizismus verpflichtet war, wußte er nicht mehr. Vielmehr machte er gerade die lateinische Gelehrtensprache des Späthumanismus für die Nicht-Ausformung der deutschen Sprache und für die Unbildung der Masse verantwortlich. Dabei nannte er ausdrücklich Lipsius, Freinsheim, Gronovius und GraeviusGa naar voetnoot2. | |
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Im ersten Regierungsjahr Friedrichs las der hochgeachtete Kanzler der Universität Halle, J.P. Ludewig, ein politischkameralistisches Kolleg. In ihm empfahl er des Lipsii Politica. Sie ‘ist unvergleichlich und wird von vielen ministren als ein Handbuch gebraucht; indessen enthält es doch nur generalia’Ga naar voetnoot1. Welche Minister meinte der über den Hof wohlunterrichtete Professor? Rechnete er den vorhin erwähnten Grumbkow unter sie? Über 150 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen wurde die Politik des Lipsius gelobt - von einem führenden Vertreter der preußischen Universität Halle, die mit 1500 Studenten gerade die höchste Frequenz einer deutschen Hochschule im 18. Jahrhundert erreichte. Zehn Jahre später erlebte das Werk noch zwei lateinische Auflagen in Wien. Die tiefe Wirkung der Niederländischen Bewegung ist also wie in anderen europäischen Staaten auch in Brandenburg-Preußen zu verfolgen, wenn wir sie zunächst auch nur auf einigen Gebieten des Staats- und Rechtslebens verdeutlichen konnten. Was bedeutet dies? Diese neu ausgezogenen Verbindungslinien zwischen den Niederlanden und Brandenburg-Preußen überraschen gewiß. Vom 18. Jahrhundert aus gesehen erscheinen sie willkürlich und unlogisch. Das lockere föderative Gebilde der bürgerlich-republikanischen Niederlande, das seine Weltgeltung an England abgetreten hatte, und der auf Vereinheitlichung drängende monarchische Militärstaat, der eine Stellung unter den europäischen Mächten erringen will, haben auf den ersten Blick nichts miteinander gemein. Können diese beiden so verschiedenen politischen Körper doch durch die neustoisch-naturrechtliche Strömung verbunden sein? Im Brandenburg-Preußen des Jahrhunderts von 1640 bis 1740 herrschte eine starke bürgerliche Tendenz. Sie erscheint weniger bei dem höfisch-barocken Glanz eines Friedrichs I., wird aber | |
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deutlich bei dem Großen Kurfürsten und Friedrich Wilhelm I. Gerade der ‘Soldatenkönig’ schätzte die bürgerlichen Tugenden: Der Zuschnitt seiner Lebensführung und seines Hofes war bürgerlich, so auch die ganz unhöfische Deftigkeit seiner Späße und Vergnügungen im Tabakskollegium, seine Förderung der städtischen Finanzkraft, die teilweise brutale Domestizierung des Adels. Neben dieser zutiefst bürgerlichen Lebensauffassung stand bei ihm die alles überragende Sorge für das Militär, um durch eine übergroße Rüstung die in der Mitte Europas weit auseinanderliegenden Staatsteile zu schützen. Das Ansehen des verachteten Heeres sollte mit einer Riesenanstrengung gefestigt werden. Der Monarch konzentrierte das Sozialprestige beim einheimischen Offizier, beim domestizierten Schwert- und Dienstadel. In der Staatswirtschaft rangen die bürgerlich-kaufmännischen und die staatlich-reglementierenden Tendenzen miteinander. Nicht der am holländischen Vorbild sich orientierende Kammerpräsident Hille siegte dabei, sondern der strenge Staatsmerkantilist Reinhardt. Diese Entscheidung gegen die Förderung des Handels und des Großkaufmannsstandes scheint mir für das Wachsen des Geistes staatlicher Bevormundung und Lenkung in Preußen von nicht geringer Bedeutung zu sein. Die absolutistische Staatsgesellschaft blieb ohne das Gegengewicht eines starken Großbürgertums. Der Monarch forderte die militärische Disziplin schließlich von seinem Beamtentum. ‘Ich habe Kommando bei meiner Armee und soll nit Kommando haben bei die tausend sakramentsche Blakisten (Tintenkleckser)!’. Die königliche Verwaltung, die ständische Gesellschaft und die vom Staat entwickelte und gelenkte Wirtschaft standen weithin, wenn auch nicht ausschließlich, im Dienste des Unterhaltes der Armee. Welch anderes Bild bieten die Niederlande in jener Zeit! Dank der finanziellen Kraft ihres Handelskapitalismus und Kolonialeinkommens konnten die Generalstaaten jeden Einfluß des Militärs auf Staat und Gesellschaft verhindern. Die Regenten besaßen alle notwendigen Mittel ohne Änderung des politischen Gefüges und der sozialen oder ökonomischen Struktur. In den klassischen Ländern des kontinentalen Militarismus, in Frankreich und in Preußen, haben die aus der Militärverwaltung stammenden Sonderbeamten, die Intendanten und Kriegskommissare, schließlich die bürgerliche Initiative, die sie wecken wollten, durch ihre Reglementierung ökonomisch und politisch erstickt. In Preußen wurde das Militär aus dem dienenden | |
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Stand zum herrschenden Faktor. So blieb Holland im 18. Jahrhundert vor jeglichem Militarismus bewahrt, während in Brandenburg-Preußen die Forderung nach einem starken, allzeit gerüsteten Staat und einem militärischen Berufsstand zur politischen und sozialen Erscheinung des monarchischen Militarismus führte. Dennoch ist in Brandenburg-Preußen und in vielen anderen europäischen Staaten der Einfluß der historisch-politischen Schule der Niederländischen Bewegung nicht zu leugnen. Nur haben die jeweiligen allgemeinen Landes-Bedingungen, auf die diese Lehren trafen, und die handelnden Persönlichkeiten sehr verschiedene politisch-militärische Gebilde erstehen lassen. So nur möchte es zu erklären sein, daß im Zentrum der historisch-politischen Schule, in den Niederlanden selbst, eine Nachwirkung über die Mitte des 17. Jahrhunderts am wenigsten zu spüren ist. Die Magistratenfamilien der holländischen Städte nahmen den Geist der straffen Ordnung, der mit der modernen Staatlichkeit verbunden war, nicht auf, während die europäischen Beamten der fürstlichen Verwaltungen ihren eigenen Aufstieg mit dem des modernen Staates aufs engste verknüpften. Denn nicht allein um die Monarchie und die Unterweisung des Monarchen ging es in dieser Literatur, sondern um die Grundlagen eines jeden Gemeinwesens, welcher Staatsform es auch seiGa naar voetnoot1. Das Ziel war der moderne Staat.
De voorzitter dankt prof. Oestreich zeer voor wat hij de leden van het Historisch Genootschap heeft geboden; met het oog op de beperkt beschikbare tijd verzoekt prof. Brandt, in de discussie zo beknopt mogelijk te zijn. Mr. Den Tex vraagt, of Oldenbarneveld onder invloed van Lipsius er toe gekomen is, zijn huis met afbeeldingen van Prudentia en Constantia te versieren. - Spreker acht dit zeer juist. Prof. Post informeert, of het in de 16e en 17e eeuw regel was, dat de Duitse jeugd in het buitenland ging studeren; oefende Padua geen grote aantrekkingskracht uit? - Spreker bevestigt, dat het buitenslands studeren mode was, maar over het trekken | |
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naar andere universiteiten dan die der Republiek kan hij geen exacte mededelingen doen. De heer Wansink vraagt zich af, of het door spreker gehanteerde begrip ‘Niederländische Bewegung’ wel juist is. Voor de betrekkingen tussen individuele geleerden en politici is de gebruikte terminologie z.i. te wijds. - De referent zegt, dat naar zijn mening gesproken mag worden van een grote, veelomvattende stroming in het wetenschappelijk en politiek denken, die met de woorden ‘Niederländische Bewegung’ niet verkeerd getypeerd wordt. De heer Wansink acht de zienswijze van spreker, als zou Lipsius een gematigd absolutistisch denker zijn geweest, die van de vorsten eiste, dat zij zich aan de wetten hielden, moeilijk verenigbaar met Lipsius' ‘necessitas frangit omnem legem’. - Spreker antwoordt, dat Lipsius dit zegt met betrekking tot de privileges, niet met het oog op de wetten; ‘princeps legibus non solutus’. De heer Wansink informeert, of Lipsius en zijn door de referent genoemde 17e-eeuwse leerlingen, die immers allen voorstander van een monarchie waren, in het republikeinse Holland hun theorieën ongestoord konden verdedigen. Grepen de Staten niet in, omdat deze professoren toch ongevaarlijke theoretici waren? - Spreker zegt, verwijzend naar Lipsius' Notae, dat de Republiek deze denkers vrij liet, zelfs de hoogleraren in de politiek, die wel degelijk op de praktijk gerichte denkbeelden uitten. Prof. Boogman zegt, in aansluiting op het voorgaande, dat er in Holland toch duidelijk een republikeinse traditie bestond, met name in de 17e eeuw. Zo gemakkelijk was het voor de hoogleraren toch niet om tegen die traditie in te gaan. Vertrok Lipsius naar Leuven, omdat hij liever in een koninkrijk woonde? - Spreker wijst er op, dat het aantal buitenlandse studenten in de Republiek zeer groot was; daarom lieten de Staten de professoren in feite ongemoeid. Lipsius sprak vooral voor buitenlanders. Diens vertrek naar Leuven werd niet bepaald door zijn voorkeur voor een monarchie; hij heeft er ook serieus over gedacht, zich in de rijksstad Frankfort te vestigen. De voorzitter bedankt de spreker nogmaals voor zijn zeer instructieve voordracht.
Nadat de vergadering enige tijd onderbroken is voor een koffiepauze, geeft de voorzitter het woord aan prof. dr. B.H. Slicher van Bath (Wageningen) voor zijn voordracht over: Economische ontwikkeling en sociale verschuivingen in de preindustriële maatschappij van West-Europa. |
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