Acta Neerlandica 10
(2015)– [tijdschrift] Acta Neerlandica– Auteursrechtelijk beschermd
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Miklós Takács
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meiner Frau (1942) des ungarischen Schriftstellers Milán Füst gerade der holländische Kapitän Jacob Störr ist. Schon bei der ersten Lektüre zeigt sich nämlich, dass dieser Roman mehr als eine Neubearbeitung der Sage vom Fliegenden Holländer darstellt: eine wichtige Rolle spielen in der Handlung die sich dynamisch verändernden Begehrensverhältnisse, wobei die sexuellen Bedürfnisse nie befriedigt werden können. Thematisiert wird außerdem das Verhältnis zwischen Zeit und Erinnerung sowie die Geschlechterdifferenz. Der Roman ist durch eine meisterhafte Verknüpfung dieser Thematiken gekennzeichnet. Im Folgenden werde ich unter Rückgriff auf die Ansätze dreier zeitgenössischer niederländischer Gesellschaftswissenschaftler zeigen, dass dieser Roman nicht nur im ungarischen, sondern auch im internationalen (d.h. auch im niederländischen) Kontext relevante anthropologische Erkenntnisse über Begierde, Erinnerung, Eifersucht, Männlichkeit und Weiblichkeit liefern kann. Mieke Bals einflussreiche Theorie über die sogenannten ‘wandernden Begriffe’ (travelling concepts)Ga naar eind1 kann ohne Schwierigkeiten in die Analyse dieses Romans einbezogen werden. Weiterhin eignen sich die erinnerungstheoretischen Abhandlungen des Psychologieprofessors Douwe Draaisma von der Universität Groningen gleichfalls ausgezeichnet zur Interpretation von Erzählungen, die eine retrospektive Erzählstruktur wie Memoiren haben.Ga naar eind2 Die zivilisationsgeschichtlichen Arbeiten des Soziologen Johan Goudsblom Vuur en beschaving und Het regime van de tijd bieten außerdem weitere theoretische Deutungsmöglichkeiten. In Anlehnung an Goudsblom möchte ich zwei Aspekte näher untersuchen: einerseits bietet das erste Buch wertvolle Einsichten zur Interpretation der Szene, in der Feuer an Bord ausbricht; andererseits findet man im Essay Het raadsel van de mannenmacht des zweiten Buchs mögliche Interpretationsrahmen sogar für den ganzen Romantext. Mit diesem Aufsatz verfolge ich deshalb ein doppeltes Ziel: Zum einen möchte ich die Aufmerksamkeit des ungarischen Lesepublikums auf Bals, Draaismas und Goudsbloms theoretische Arbeiten lenken, die teilweise auch in ungarischer Übersetzung erschienen sind. Zum anderen hoffe ich, dass dieser Beitrag auch die niederländischen Leserinnen und Leser zur Auseinandersetzung mit diesem ungarischen Roman anregen wird. | ||||||||||||||
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Die Geschichte meiner FrauDer Roman Die Geschichte meiner Frau des ungarischen Schriftstellers Milán Füst wurde 1942 zum ersten Mal verlegt und vor etwa fünfzig Jahren galt das Werk als Bestseller auf dem europäischen Buchmarkt. In Frankreich war zum Beispiel der 1958 bei Gallimard erschienene Band ein Publikumserfolg, sodass die französischen Leserinnen und Leser Milán Füst sogar für den Literatur-Nobelpreis nominierten. Später wurde das Buch in mehrere Weltsprachen übertragen, so wurde auch seine niederländische Übersetzung Het geheim van mijn vrouw veröffentlicht.Ga naar eind3 Obwohl ich in einem früheren Aufsatz,Ga naar eind4 angeregt vom Erfolg ungarischer Romane wie Sándor Márais Die Glut und Antal Szerbs Reise im Mondlicht, Mutmaßungen über eine mögliche Erfolgsgeschichte der Neuauflage anstellte, hat die 2007 beim Eichborn Verlag erschienene deutsche Übersetzung keine so große Resonanz gefunden wie erwartet.Ga naar eind5 Die Buchrezensionen der Tageszeitungen haben den Roman zwar gewürdigt, darüber jedoch, dass sich seine Verkaufszahlen dem Erfolg der zwei genannten ungarischen Werke angenähert hätten, konnte nicht die Rede sein, auch wenn in Die Geschichte meiner Frau ebenso wie bei Márai und Szerb der international-europäische kulturelle Kontext dominant ist und die Lektüre keinerlei Kenntnisse über die ungarische Geschichte und die literarischen Traditionen Ungarns erfordert. (Wie ich in Deutschland von vielen erfahren habe, bereitet zum Beispiel der erste Teil von Péter Esterházys Harmonia caelestis, der die ungarische Geschichte quasi ‘enzyklopädisch’ darstellt, sogar sachkundigen Literaturwissenschaftlern große Interpretationsschwierigkeiten, obwohl eine ausgezeichnete deutsche Übersetzung vorliegt.) Für diesen ‘internationalen’ Charakter des Romans sorgt einerseits die Tatsache, dass die Handlung bei Füst größtenteils an europäischen Schauplätzen wie Paris und London spielt. Andererseits umfasst die zeitliche Dimension die 1920er und 1930er Jahre, also die Jahrzehnte der Weltwirtschaftskrise und deswegen könnte der Roman das Lesepublikum von heute besonders gut ansprechen. Hervorzuheben ist weiterhin, dass dieser Roman - ebenso wie der Roman Reise im Mondlicht - nicht auf die ungarischen, sondern auf die gesamteuropäischen literarischen Traditionen Bezug nimmt. Ein wichtiger Unterschied ist jedoch, dass bei Szerb ohne Ausnahme alle Hauptfiguren aus Ungarn kommen; bei Füst ist Jacob Störr hingegen ein holländischer Schiffskapitän und durch seine Arbeit und seine französische Frau Lizzy kommt es zu weiteren Begegnungen | ||||||||||||||
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mit Figuren aus allen großen europäischen Nationen (neben Engländern und Franzosen ist auch Störrs Freund Kodor zu erwähnen, der griechischer Herkunft ist). Im Mittelpunkt der Handlung steht ein banales Eifersuchtsdrama mit vermeintlichen und tatsächlichen Ehebrüchen (auch seitens Störr). Ebenso wie in Klassikern der Weltliteratur wie Effi Briest, Anna Karenina oder Madame Bovary wird bei Füst das unkomplizierte Handlungsschema durch eine erzähltechnisch brillante Umsetzung kompensiert. Verschiedene Erzählweisen werden genreübergreifend miteinander verbunden; die Art und Weise, wie Störr die Seitensprünge seiner Frau ermittelt, weist beispielsweise Ähnlichkeiten mit Kriminalromanen auf. Einen weiteren Anknüpfungspunkt zu den genannten Klassikern stellt des Weiteren dar, dass die im Roman thematisierte Geschlechterdifferenz auch hier zu ontologischen Erkenntnissen führt. Gemeint ist damit, dass dieser Roman, wie alle klassischen Meisterwerke, auch Fragen beantworten kann, die früher, in den Jahrzehnten nach der Erstveröffentlichung gar nicht aufgeworfen werden konnten. Die folgenden vier kurzen Abschnitte des Aufsatzes sollen deshalb veranschaulichen, dass sogar die Feststellungen der modernen niederländischen Sozialanthropologie produktiv in die Textanalyse einbezogen werden können. So wird im Folgenden vorgeführt, wie man Draaismas erinnerungstheoretische Thesen, Goudsbloms Überlegungen über die zivilisatorische Funktion des Feuers auf dieses Werk beziehen kann. Des Weiteren möchte ich auch zeigen, wie Genderkonstruktionen und nationale Stereotype, die im Aufsatz in Anlehnung an Bal und Goudsblom als sich ständig verändernde und reversible Kategorien gedacht werden, in diesem Roman wirksam werden. Diese modernen Theorien können zur Deutung des Romans herangezogen werden und mit Hilfe des Romantextes lassen sich auch Fragestellungen der Psychologie, der Soziologie sowie der Kulturwissenschaft beantworten. Als Einstieg möchte ich nun skizzenhaft darstellen, dass die hier untersuchten vier Aspekte in einem engen Zusammenhang miteinander stehen. Nehmen wir zum Beispiel die Problematik der männlichen Identität! Kapitän Störr, wie alle Männer, braucht zu seinem Selbstbild eine andersgeschlechtliche Andere. Seine Frau Lizzy bestätigt jedoch sein Selbstbild gar nicht, sondern ganz im Gegenteil: ihre Figur verunsichert die grundlegenden Werte und Vorstellungen, auf denen seine Identität beruht. Der Kapitän mag beispielsweise über außerordentliche körperliche Kraft verfügen, trotzdem verlassen ihn seine Kräfte, wenn er zornig auf seine Frau wird und sie schlagen will. Störr ist zu einer ewigen Irrfahrt verdammt, | ||||||||||||||
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aber nicht um das Kap der Guten Hoffnung wie der Schiffskapitän in der Sage, sondern er kann seine Suche nach seinem Selbst und dem unerreichbaren Anderen nie beenden. Für Störr könnte ein ‘standarisiertes geistiges Bild’,Ga naar eind6 ein Stereotyp, d.h. ganz konkret die stereotype Männlichkeit, einen festen Anhaltspunkt zur Orientierung bieten. Stereotype erweisen sich jedoch als Konzepte, die ständigem Wandel unterworfen sind. Ihre Bedeutungen verändern sich mit der Zeit, folglich können Stereotype gar keine Anhaltspunkte bieten: wenn man ihnen entsprechen will, ist man zwangsläufig zur ewigen Irrfahrt verdammt. Es ist kein Zufall, dass Störr seine Liebesbeziehung mit Lizzy nur provisorisch mit ‘Rollenspielen’ stabilisieren kann. Diese Rollenspiele enthalten nämlich nicht nur feste, konkrete Rollenzuweisungen, sondern der Kapitän muss sich dabei auch umgekehrt verhalten, als es die historisch erstarrten patriarchalen Vorgaben erfordern würden. In der Szene, in der auf dem Schiff Feuer ausbricht, will Störr Selbstmord begehen, weil er keine Selbstdisziplin zeigen kann, d.h. einer der grundlegenden Erwartungen an Männer nicht entsprechen kann.Ga naar eind7 Aus Goudsbloms Ausführungen geht hervor, dass in der menschlichen Geschichte die Beherrschung des Feuers mit der Beherrschung der Natur, sozialer Kontrolle und Selbstbeherrschung assoziiert wird.Ga naar eind8 In den Tätigkeiten, mit denen Störr sein fehlendes Selbstbild zu verschleiern versucht (wie am Anfang des Romans mit dem übermäßigen Essen), kann er nur zeitweilig eine gewisse Stabilität erreichen: es stellt sich mit der Zeit immer wieder heraus, dass diese Tätigkeiten nur als bloße Ersatzhandlungen fungieren und keine Beständigkeit gewährleisten können. Die Zeit kann demzufolge gewissermaßen als eine Figur im Roman gedeutet werden. Die Zeit spielt in der Handlung eine wichtige Rolle, denn der Roman ist eine Ich-Erzählung, in der persönliche Erinnerungen verhandelt werden. Darauf weist schon der Untertitel (Aufzeichnungen des Kapitäns Störr) hin. Das heißt, alles wird aus Störrs Perspektive dargestellt, was bei allen Aspekten der Analyse berücksichtigt werden muss. Als erster Schritt soll daher skizziert werden, wie das Erinnern die Erzählweise strukturiert, denn alle anderen Aspekte können nur durch die Erinnerungen des rückblickenden Erzählers in den Blick genommen werden. | ||||||||||||||
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Warum Störrs Leben schneller vergehtEs ist kein Zufall, dass Draaisma in seinem Essay, dessen Titel in dieser Kapitelüberschrift paraphrasiert wurde und nach dem übrigens auch der gesamte Essayband betitelt ist, auf Prousts bekannten Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verweist, wenn er die Theorie über die menschliche Zeitwahrnehmung des französischen Psychologen und Philosophen Jean Marie Guyau aus dem letzten Jahrhundert thematisiert. Draaisma behauptet hierbei, dass Guyaus ‘introspektive’ Methode zur Untersuchung der Zeitwahrnehmung größtenteils Ähnlichkeiten zu den inneren Monologen der Romanfiguren bei Proust aufweise. Auf diese Weise entstehe eine Art Resonanz zwischen Prousts Roman und Guyaus theoretischen Ausführungen.Ga naar eind9 Im Roman Die Geschichte meiner FrauGa naar eind10 erfährt der Leser erst in den letzten Aussagen des Ich-Erzählers, dass er bald dreiundfünfzig Jahre alt wird.Ga naar eind11 Die Erzählung könnte demzufolge ungefähr vierzig Jahre überblicken, denn der Kapitän hat die Erfahrungen, über die im Roman zuerst berichtet wird, mit dreizehn Jahren gemacht.Ga naar eind12 In Wirklichkeit kann von einem solchen Überblick jedoch nicht die Rede sein: von Anfang an zielt die Erzählung nicht auf die Herstellung einer kohärenten Lebensgeschichte ab. Sogar die ersten Erinnerungen werden dadurch wachgerufen, dass sich Störr mit seinem Verhältnis zu Frauen auseinandersetzen will. Diese Besonderheit wird auch dann beibehalten, als seine Frau für immer verschwindet. Wichtig ist zu betonen, dass zwischen dem Anfang und dem Ende des Romans Störr nur zweimal sein Alter verrät. Zum ersten Mal erwähnt er beiläufig, dass er mit dreißig Jahren schon über ein riesiges Vermögen verfügte.Ga naar eind13 Anschließend in der Mitte des ersten Teils erzählt er seinem Rivalen Dedin, dass er zweiundvierzig Jahre alt ist.Ga naar eind14 Dieses Moment ist deswegen von Bedeutung, da sich das Erzähltempo an diesem Punkt verlangsamt. Der Leser hat den Eindruck, als ob über Hunderte Seiten hinweg der Protagonist zweiundvierzig Jahre alt wäre. Erst im vierten Abschnitt des Romans erfährt man im Großen und Ganzen, was in der Zwischenzeit passiert ist, seitdem Störr seine Ehefrau nie wieder gesehen hat. Diese Erzählstruktur lässt sich unter anthropologischen und narratologischen Aspekten erklären, wobei diese zwei Aspekte in einem engen Zusammenhang miteinander stehen. Aus einer anthropologischen Perspektive wird das Zusammenspiel zwischen Erinnerungen und Lebensalter sichtbar: Ein wohl bekanntes Phänomen ist wahrscheinlich für viele, dass | ||||||||||||||
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sich ältere Menschen besser an Ereignisse erinnern können, die in ihrer Jugend passierten, als an Ereignisse, die nur ein paar Jahre zurückliegen. Das bezeichnet Draaisma in Anlehnung an Shum als einen Reminiszenz- Effekt,Ga naar eind15 wobei kein Unterschied zwischen Körper und Bewusstsein gemacht wird, da beide zu demselben Ergebnis führen: die Zeit kann langsamer oder schneller vergehen je nachdem, was sich gerade im Bewusstsein abspielt (abhängig davon, ob wir uns langweilen oder die Ereignisse rasch aufeinander folgen). Wenn in einem Zeitraum nichts passiert, dann wird dieser als extrem lang wahrgenommen (‘primäre Wahrnehmung’), im Rückblick (‘sekundäre Wahrnehmung’) erscheint jedoch derselbe Zeitraum kurz.Ga naar eind16 Das will nicht bedeuten, dass älteren Menschen nichts mehr passieren würde und sie sich deswegen an ihre Jugend besser erinnern würden. Um dieses Phänomen genauer erklären zu können, muss man auch Aleida Assmanns Überlegungen zum Funktionsgedächtnis heranziehen.Ga naar eind17 Bestimmte Momente der Vergangenheit verfügen nämlich über Funktionen in der Gegenwart, andere Momente hingegen nicht. (Anzumerken ist hierbei jedoch, dass bei Assmann dieser Begriff ursprünglich zur Beschreibung kollektiver Erinnerungen benutzt wird.) Der letzte Abschnitt des Romans Die Geschichte meiner Frau umfasst einen Zeitraum von etwa zehn Jahren, immerhin lassen sich insgesamt nur fünf wichtige thematische Schwerpunkte dabei festhalten: Begegnung mit Miss Borton; die Szene, in der Störr seine Frau in einer Clown-Vorführung im Café zu erkennen glaubt; der Flirt mit den Geschwistern Brebant-Jouy; Störrs Vision über seine Frau und zum Schluss die Szene, in der er den Brief über Lizzys Tod entdeckt. Diese ausgewählten Momente der Vergangenheit zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie Störrs Verhältnis zu seiner Frau und zu Frauen im Allgemeinen fokussieren. Zu dem genannten Reminiszenz-Effekt trägt außerdem bei, dass im Falle der Jugend einem mehrere zeitliche Orientierungspunkte wie zum Beispiel der erste Kuss zur Verfügung stehen.Ga naar eind18 Weiterhin besteht auch ein Zusammenhang zwischen Zeitwahrnehmung und Körper (bei höheren Temperaturen vergeht eine Minute langsamer). Darüber hinaus verfügt man auch über mehrere ‘physiologische Uhren’ (die Anzahl der Atemzüge und Herzschläge zeigen auch, wie die Zeit vergeht) und diese biologischen Uhren gehen in der Jugend tatsächlich schneller. Körper und Bewusstsein treffen aufeinander, indem die Körperfunktionen mit dem Alter objektiv langsamer werden und die subjektive Zeitwahrnehmung beschleunigt wird.Ga naar eind19 Wie Ibolya Gadóczi bereits herrausgestellt hat, kann der erinnerte Kapitän Störr seinen Körper nicht beherrschen; er wird im- | ||||||||||||||
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mer wider Willen durch seinen Körper preisgegeben.Ga naar eind20 Diese Beobachtung möchte ich etwas weiterführen und bemerken, dass der sich erinnernde Erzähler öfters die Dialoge kommentiert und seine eigenen/erinnerten Aussagen im Gegensatz zu seinen körperlichen Erfahrungen darstellt: ‘“Mach keine Scherze”, sagte ich. “Wann ist dir ein Heiratsantrag gemacht worden?” (Inzwischen zitterte mein Bein.)’Ga naar eind21 Festzustellen ist darüber hinaus, dass der sich erinnernde Erzähler häufig die körperlichen Erfahrungen, über die gerade erzählt wird, erneut erlebt. (Auf diesen Aspekt komme ich später noch zurück.) ‘Und nun folgten Augenblicke, die so schrecklich waren, daß ich noch jetzt zittere, während ich davon schreibe.’Ga naar eind22 Die Beziehung zwischen Körper und Erinnerung, wie das bei Draaisma postuliert wird, lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass die Intensität der Erinnerungen körperliche Erfahrungen hervorruft, stabilisiert und gleichzeitig die Grenzen zwischen der erinnerten Zeit und der Zeit der Erzählung verunsichert. Tatsächlich bereitet es Schwierigkeiten, einen Unterschied zwischen dem erinnerten und dem sich erinnernden Erzähler zu machen, da der Akt des Aufzeichnens oft zum Bestandteil der Handlung wird. So wurde zum Beispiel der Kapitän durch Lizzys frechen Liebhaber Dedin dazu angeregt, selber Aufzeichnungen anzufertigen, auch wenn seine ersten Notizen noch sehr stichpunktartig waren: ‘Welch großen Eindruck die erwähnte Eintragung in das Notizbuch auf mich machte, ist daraus ersichtlich, daß ich mir damals auch ein Notizbuch kaufte und von da an alles mögliche aufschrieb: meine Gedanken und meine Pläne....’Ga naar eind23 Gemeint ist also, dass man oft nicht einschätzen kann, ob die Notizen, die in der Erzählung zitiert werden bzw. auf die gerade Bezug genommen wird, nur vor ein paar Tagen entstanden sind oder ob es sich dabei um einen Rückblick auf einen längeren Zeitraum handelt. Man bekommt den Eindruck, als würde Störr sogar seine Aufzeichnungen und Erinnerungen neu ordnen. Es wird jedoch nur selten darauf hingewiesen, dass die in der Erzählung aufgegriffenen Ereignisse länger zurückliegen. Ein Beispiel hierfür ist die Erinnerung an das idyllische Beisammensein seiner Frau mit deren Liebhaber Dedin. Störr ruft nämlich sogar in einem späteren Abschnitt seiner Lebensgeschichte, während seines südamerikanischen Aufenthaltes,Ga naar eind24 die intime und vielsagende Stille dieser Szene mit seiner Frau in Erinnerung: Um zu kennzeichnen, wie diese Stille auf mich wirkte, greife ich vor und erzähle hier: Als ich viele, viele Jahre später in Südamerika einmal an sie dachte, begann mir noch nachträglich das Blut in den Adern zu sieden. | ||||||||||||||
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[...] Diese Szene hatte, wie gesagt, noch nach Jahren so viel Gewalt über mich, daß sie mich fast in Stücke riß. Denn es ist nun einmal so, ein Mensch von meiner Konstitution ist nicht zu befriedigen: es mögen Bäche von Blut geflossen sein, er beruhigt sich nicht. Doch ich will weitererzählen. Dieses Buch wird mich vielleicht rechtfertigen.Ga naar eind25 Der letzte Satz des Zitats zeigt auch, dass in der Erzählung eine Zeitebene jenseits des südamerikanischen Aufenthaltes existiert. Diese kann man als die Gegenwart wahrnehmen, in der der dreiundfünfzigjährige Störr seine Aufzeichnungen anfertigt. Aus dieser Feststellung lassen sich noch weitere drei Folgerungen ableiten: erstens dient das Schreiben als Therapie, zweitens strukturieren Misserfolge nachhaltig Erinnerungen, drittens haben diese Erinnerungen tatsächlich eine gewisse Funktion in der Gegenwart, sie dienen als Daseinsrechtfertigung und verfügen über einen identitätsstiftenden Charakter, was wiederum einen Einfluss auf das Erinnern hat. Schon der Titel von Draaismas einschlägigem Essay (Als wäre es gestern passiert) bringt treffend auf den Punkt, wie stark Misserfolge im menschlichen Bewusstsein fixiert werden.Ga naar eind26 Draaisma macht in Anlehnung an Wundts und Wagenaars Einsichten darauf aufmerksam, dass man sich besser erinnert, wenn man selber gekränkt wurde oder anderen Schaden zugefügt hat. Die Erinnerung an diese Vorfälle würden sogar Jahre später dieselben körperlichen Reaktionen auslösen (z.B.: man errötet immer wieder).Ga naar eind27 Relevant ist diesbezüglich noch, dass in unseren Erinnerungen besonders diejenigen Vorfälle und Erfahrungen gespeichert werden, die mit unserem Selbstbild am wenigsten zu vereinbaren sind, da diese indirekt eben zur Bewahrung unseres Selbstbildes dienen (ebd.). Das heißt, die unangenehmen Erfahrungen fungieren demzufolge als eine Art indirekte ‘positive Rückmeldung’ und tragen zur Identitätsstiftung bei.Ga naar eind28 Betonen möchte ich noch Draaismas weitere Feststellung: ‘Wir speichern alles in zwei Exemplaren.’Ga naar eind29 Hervorgehoben wird damit, dass wir mit Hilfe solcher Erinnerungen uns gleichzeitig aus einer Außen- und Innenperspektive betrachten und folglich Demütigung und Scham erneut erleben. Eine solche ‘Verdopplung’ ist auch die Erklärung für die eigenartige Erzählweise, mit der Störrs Erinnerungen dargestellt werden. Erinnerungen haben dementsprechend per definitonem immer zwei Schichten: der wesentliche Unterschied besteht also nicht zwischen dem erinnerten und dem sich erinnernden Erzähler, sondern ist vielmehr in den Emotionen zu verorten, die sich mit den Erinnerungen verknüpfen. Diese Emotionen bewirken, dass die zwei Ebenen gleichwertig und doch voneinan- | ||||||||||||||
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der getrennt positioniert werden. Ein Beispiel ist hierfür der südamerikanische Aufenthalt, wo der sich erinnernde Erzähler bemerkt, er habe früher zu dem Vorfall anders Stellung bezogen. (Das sind schon drei Erzählebenen: der sich erinnernde, der erinnerte und der erinnerte sich erinnernde Erzähler.) Wegen dieser komplexen Erinnerungsstruktur stellt die Literaturwissenschaftlerin Artemisz Harmath mit Recht fest, dass Störrs Erinnerungen eine endlose Vergangenheit darstellen,Ga naar eind30 da sich der sich erinnernde Erzähler dessen bewusst ist, dass er früher bestimmten Erinnerungen andere Bedeutungen zugeschrieben hat. Daraus folgt, dass die gegenwärtige Sinnstiftung, die zur Aufrechthaltung des Selbstbildes erforderlich wäre, auch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben kann. Hier schließt sich der dritte Aspekt an, der sich auch aus diesem Zitat ableiten lässt: die Wiederherstellung der Vergangenheit ist auch Ziel des Erzählers. Dieser Aspekt wurde in der Rezeption der letzten Jahre immer wieder aufgegriffen, unter anderen haben sich Artemisz Harmath und György Fehéri darauf bezogen. Behauptet wurde nämlich, dass Erinnerung für die Gegenwart erforderlich ist,Ga naar eind31 damit neben Vorstellungen über seine Frau und die Welt auch Störrs Selbstbild konstruiert werden kann.Ga naar eind32 Es ist hier die männliche Identität, die sich durch das Funktionsgedächtnis gegenwartsbezogen aus den Erinnerungen konstruiert. Problematisch ist dabei nun, dass Störr die männliche Identität mit Genderstereotypen gleichsetzt. Stereotype sind zwar durch eine gewisse Beständigkeit gekennzeichnet, sind jedoch historischen Veränderungen unterworfen. Störrs Versuch ist daher zum Scheitern verurteilt, da er in einem Zeitalter lebt, in dem sich diese Orientierungspunkte im ständigen Wandel befinden und keine Anhaltspunkte mehr bieten können, ihre Bedeutungen verändern sich mit der Zeit. Stereotype sind in diesem Sinne als travelling concepts anzusehen, wie Bal im Falle anderer Begrifflichkeiten festhält. | ||||||||||||||
Konzepte auf IrrfahrtMieke Bals Buch Travelling Concepts in the Humanities kann mit Recht als ein echter Bestseller im akademischen Bereich bezeichnet werden. Bal greift auf die Feststellungen des Dekonstruktivismus, der postmodernen Philosophie und mehrerer Kulturtheoretiker zurück, insoweit sind die grundlegenden Feststellungen ihres Buches nicht neu. Was vielmehr ein Verdienst des Buches ist, ist, dass Bal mit ihrer quasi metawissenschaftli- | ||||||||||||||
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chen Herangehensweise diese Feststellungen innovativ auf die Geisteswissenschaften bezieht. Die Konzepte, aus denen sich jede wissenschaftliche Argumentation zusammensetzt, seien demzufolge nicht fixiert. Dass sich Begrifflichkeiten sozusagen ständig auf einer Wanderschaft befinden, hält Bal vielmehr für einen Vorteil als für ein Hindernis. Als Beispiel wird in ihrem Buch u.a. der Begriff der Hybridität angeführt: dieses Konzept hatte in der Biologie des 19. Jahrhunderts eine völlig andere Bedeutung als in Homi K. Bhabbas postkolonialer Theorie.Ga naar eind33 Konzepte und Begrifflichkeiten befinden sich in diesem Sinne im ständigen Wandel.Ga naar eind34 Sie verfügen daher nicht nur über eine deskriptive Funktion, sondern auch über richtungsweisende und normative Funktionen.Ga naar eind35 Diese Doppelsichtigkeit, d.h. das Spannungsverhältnis zwischen der statisch fixierten, beschreibenden und der sich dynamisch verändernden, figurativen Redeweise hat auch Artemisz Harmath beobachtet. Störr verändere seine Redeweise, indem er allmählich von einer ‘bezeichnenden’ zu einer ‘figurativen’ Redeweise übergehe.Ga naar eind36 Diese Feststellung möchte ich im Folgenden weiterführen, indem ich Genderstereotype als statische Konzepte dieser beschreibenden Redeweise betrachte und betone, dass diese Vorstellungen immer eine performative Bestätigung erfordern. Diese letzte Aussage ist erklärungsbedürftig, da vorher eben der Unterschied zwischen der beschreibenden und der performativen Redeweise betont wurde. Judith Butler behauptet diesbezüglich unter Rekurs auf die Sprechakttheorie, dass durch den performativen AktGa naar eind37 tatsächlich das hergestellt werde, was in diesem Akt ausgesprochen wird. Im Falle der Geschlechter gibt es aber keinen Urheber: Sex wird dadurch erzeugt, dass sich Geschlechternormen performativ wiederholen. Es gibt dabei kein entscheidungsfähiges Subjekt, das Einfluss auf diese Prozesse nehmen könnte: Geschlechternormen würden demzufolge von einer ‘Diskursmacht’ automatisch erzwungen.Ga naar eind38 Die Macht, von der Geschlechternormen vorgegeben werden, ist niemandem erkennbar, so bleibt der Urheber dieser Rollenzuschreibungen auch dem Kapitän verborgen: ‘…ich weiß wirklich nicht, welch böser Teufel den Männern das Weinen verboten hat….’Ga naar eind39 Figurativität und Performativität verknüpfen sich durch die Zufälligkeit: ein Konzept erhält durch einen performativen Akt in einer einmaligen Situation (im Hier-und-Jetzt) seine figurative Bedeutung, die aber nicht vorausgesagt werden kann. Diese Zuschreibungen verlieren ihre Gültigkeit von Zeit zu Zeit, deswegen ist es möglich, Machtmechanismen aus einer historischen Perspektive in den Blick zu nehmen, auch wenn normative Machtdiskurse Historizität auszuschließen versuchen.Ga naar eind40 | ||||||||||||||
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Meines Erachtens beruht all das auf der Zufälligkeit, einem grundlegenden Bestandteil der Performativität. Wenn uns nämlich gelingen würde, alles identisch zu wiederholen, in Butlers Diktion zu ‘zitieren’, dann wäre nicht von Performativität die Rede, sondern von einem Konstativum, das in der Sprechakttheorie eben das Gegenteil der Performativität darstellt. Stereotype Gendervorstellungen wären also auch solche konstative Aussagen, die immer dieselbe Bedeutung tragen würden. Störr kann diese Stereotype aus zwei Gründen performativ nicht wiederholen: zum einen ist es die figurative Redeweise seiner Frau, die das verhindert. Zum anderen führen Lizzys Männlichkeitsvorstellungen, die von Störrs Vorstellungen unterschiedlich sind, zu seinem Scheitern. ‘[...] So männlich braucht man nicht zu sein’, sagte sie dann plötzlich. Und hinterher: ‘Zum heiligen Mast und Anker!’ Schimpfen ist ein typischer Sprechakt, aber dadurch, dass die Frau ihn ausführt, entsteht eine ganz andere Bedeutung. Der performative Akt leuchtet auf diese Weise nämlich aus, dass sogar die verschlossene, schweigsame Welt von Seemännern auf eine zwangsläufig figurative Sprache angewiesen ist. Die männliche Verhaltensweise lässt sich demzufolge mit der figurativen Sprache imitieren (möglicherweise existiert Schimpfen in dieser Form überhaupt nicht). Ziel einer solchen Rhetorik ist, dass die Frau Störr davon überzeugt, dass er seine Männlichkeit nicht durch Rationalität und Berechenbarkeit behaupten soll, sondern durch seine Wirkung auf Frauen. Störr kann aber diese Rolle nicht aufgeben: er greift auf eine beschreibende Redeweise zurück, um herauszufinden, was seine Frau unter Männlichkeit versteht. Die figurative Redeweise (die Imitation und die Parodie) versagt an dieser Stelle, die Antwort auf die Frage ist unbekannt. Die Frau möchte nämlich nur bewirken, dass sich Störr der figurativen Redeweise bedient, um eine angemessene Wirkung zu erreichen (‘nur muß, was du dir ausdenkst, schön sein’). Wie schon angemerkt, kann es also nicht vorausgesagt werden, welche Rhetorik tatsächlich wirksam wird. Wichtig ist anzumerken, dass Lizzys Erwartungen ebenfalls einem vorhandenen Stereotyp entsprechen, dem des Frauen- | ||||||||||||||
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helden (‘du mußt dich so benehmen, als ob du sämtliche Mädchen der Welt entjungfert hättest’).Ga naar eind42 Die zwei stereotypen Vorstellungen über Männlichkeit stehen hier im Konflikt, wodurch auch die Arbitrarität und Kontingenz dieser Vorstellungen sichtbar wird.Ga naar eind43 Dasselbe Phänomen lässt sich auch im Falle der nationalen Stereotype beobachten. Störr nimmt seine Frau und sich selbst in einem doppelt stereotypen Deutungsrahmen wahr. (Männer sind rational, Holländer ebenso; Frauen sind hingegen emotional und Franzosen leichtlebig): Von uns Holländern sagt man, wir seien gute Baumeister, verstünden aber absolut nicht, uns das Leben einzurichten. Ja, wir sind immer in irgendwelche Systeme verbohrt, das stimmt, aber mir ist noch heute nicht klar, was die Ursache ist. [...] Lachen dagegen können wir nicht. Und das ist hier das Wesentliche. Denn die Franzosen, ja, die können lachen. Wie ein kalter Bach, wenn die Sonne ihn bescheint, so umbarmherzig und froh lachen sie.Ga naar eind44 Ich habe schon viele befragt, die Holländern begegnet sind, ob sie mit dieser Feststellung einverstanden sind. Die meisten haben die oben zitierte Aussage für falsch gehalten, aber es gab einige, die damit einverstanden waren. Nationale Stereotype erweisen sich weniger stabil als Genderstereotype. Auch der Romantext belegt diese Feststellung, denn an einigen Textstellen werden diese Stereotype zwar bestätigt und aber an anderen werden sie durch die Erzählung, die quasi als ‘Bildungsroman’ zu lesen ist, widerlegt. Wie wir gesehen haben verhält sich Störr in dem letzten Kapitel gar nicht rational, hält beispielsweise Visionen für Wirklichkeit. Die Verschiebung in Richtung Figurativität unterminiert ebenfalls die Diskurse der Rationalität. Warum ist dann eben ein holländischer Schiffskapitän der Erzähler des Romans? Man könnte vermuten, dass das wahrscheinlich durch den Prätext der Sage des Fliegenden Holländers bestimmt ist. Nach der Lektüre ist es jedoch wohl nachvollziehbar, dass sich Störrs Geschichte aus mehreren Prätexten zusammensetzt und nicht eine bloße Paraphrase der bekannten Sage darstellt: Störrs Vorname ist Jakob und es finden sich zahlreiche eindeutige Hinweise auf die biblische Figur Jakob. Interessanterweise stabilisiert der Prätext des Fliegenden Holländers die Sinnstiftungsprozesse nicht, wie auch Gábor Schein anmerkt. Nur in Wagners Oper seien nämlich Wertevorstellungen fest verankert, da der Komponist das endlose Herumirren tragisch empfunden habe. Hingegen sei so etwas bei Heine, dessen Bearbeitung als Grundlage zum Libretto diente, nicht zu beobachten. Häufig sei demzufolge ein ironischer Ton für | ||||||||||||||
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Heines Bearbeitung charakteristisch.Ga naar eind45 Der Mythos erhält im Roman einen neuen allegorischen Sinn, auf den im vorangehenden Abschnitt dieses Aufsatzes bereits Bezug genommen wurde: der Schiffskapitän ist auf einer endlosen Irrfahrt, auf der Suche nach möglichen Bedeutungen, wobei er jedoch sein Welt- und Selbstbild nur vorübergehend finden kann. Er ist gezwungen, sich immer wieder auf den Weg zu machen, um neue Bedeutungen und Zuschreibungen zu finden, die scheinbar zuverlässiger sind. Dass stereotype Zuschreibungen durch Zufälligkeit gekennzeichnet sind, wird in der Erzählung dadurch sichtbar, dass sie reversibel sind: Männer können weiblich und Frauen männlich konnotierte Eigenschaften übernehmenGa naar eind46 - auf diesen letzteren Aspekt ist auch Gábor Schein aufmerksam geworden.Ga naar eind47 Es ergeben sich weitere Zuschreibungen dadurch, dass Stereotype umgekehrt werden, d.h. in der Erzählung von der rhetorischen Figur des Chiasmus Gebrauch gemacht wird. Dies ermöglicht aber keine endgültige Subversion von Machtverhältnissen. Nichtsdestotrotz werden auf diese Weise Reflexionen über die vorgegebenen Geschlechterrollen möglich und eine solche Umkehr trägt zu den Selbstbildern des Schiffskapitäns und dessen Frau produktiv bei. Vor allem im performativen Akt des Rollenspiels wird der Chiasmus besonders wirksam, deswegen können wir der folgenden Feststellung von Artemisz Harmath zustimmen: bei Harmath heißt es nämlich, dass in diesen Spielen Störr gezwungen wird, sich selbst im Anderen zu entdecken und zu deuten.Ga naar eind48 Im Folgenden analysiere ich ein Rollenspiel, das in der Erzählung in Erinnerung gerufen wird. Dabei werde ich mich auf die Einsichten des Bandes Het raadsel van de mannenmacht von Johan GoudsblomGa naar eind49 beziehen. So möchte ich beweisen, dass der Roman auch vor einem anthropologischen Fragehorizont untersucht werden kann, da im Text im Allgemeinen die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen verhandelt werden.Ga naar eind50 Ich möchte zunächst einen längeren Abschnitt aus dem Text zitieren, damit ich meine These klar auslegen kann: Ich band mir beispielsweise einen Schal um den Kopf, etwas Turbanartiges, wie ein persischer Krieger. Ich war nämlich in die Ecke geschickt worden und mußte im Türkensitz hocken, ohne mich vom Fleck zu rühren, weil ich der Wächter war. [...] Dann rief sie plötzlich ‘Masud, Masud’ und klatschte in die Händchen. | ||||||||||||||
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‘Nein, es ist nicht zu Haus’, sang sie, ‘wir sind allein, mein Geliebter.’ Gleich darauf aber rief sie: ‘Bleib aber, wo du bist. Was denkst du dir? Ich betrüge doch meinen Mann nicht, du ekliger, schwarzer Wurm. Mein Gatte ist ein Mann von Adel. Du Knirps!’ rief sie außer sich. Und ich bin doch eher ein Riese als ein Knirps. Ich sprang denn auch aus meiner Sitzpositur auf. Anzumerken ist hierbei, dass der vorher erwähnte anthropologische Fragehorizont keineswegs eine Art ‘Transhistorizität’ impliziert. Wie schon mehrmals erwähnt, erweisen sich im Roman Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen als besonders wechselhaft. Goudsbloms These beruht ebenfalls auf dieser Wechselhaftigkeit: Geschlechterverhältnisse seien Teil eines weiteren sozialen Gefüges und parallel zu den gesellschaftlichen Verhältnissen verändere sich mit der Zeit auch das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern.Ga naar eind52 Goudsblom als Zivilisationshistoriker hat die Menschheitsgeschichte auf drei Etappen aufgeteilt. Die erste umfasst die Periode, bevor Ackerbau und Tierzucht erschienen sind. Die zweite Etappe ist das darauffolgende Zeitalter und die dritte ist die Industrialisierung. Während in der zweiten Etappe, die durch Landwirtschaft und kriegerische Ausschreitungen gekennzeichnet war, die Unterschiede innerhalb der Gesellschaft und damit auch zwischen den Geschlechtern immer prägnanter wurden, haben sich am Ende der dritten Etappe, im postindustriellen Zeitalter die gesellschaftlichen Diskrepanzen ausgeglichen und sind sogar verschwunden.Ga naar eind53 Aus dem obigen Zitat wird schon auf dem ersten Blick ersichtlich, dass dieses Spiel Störr und seine Frau in ein Zeitalter zurückkehren lässt, in dem die Machtverhältnisse gar nicht so ausgewogen waren, wie in ihrer Gegenwart, in den 1920er Jahren, wo Gleichberechtigung von Frauen schon ihren Anlauf genommen hat. Bei diesem Spiel im Serail ist es wichtig, dass in solchen polarisierten Machtverhältnissen bis zu einem gewissen Grad sogar Frauen Vollmacht über Männer haben können, worauf auch Goudsblom hingewiesen hat. Männer, die aus einer niedrigeren Gesellschaftsschicht stammten, konnten nämlich keine Beziehung zu einer Frau haben, die einer höheren Gesellschaftsschicht angehörte. So haben Männer aus höheren Gesellschaftsschichten ihre Frauen auch dementsprechend von den niedrigeren Schichten ferngehalten (sie haben Frauen zum Beispiel in ein Serail gesperrt).Ga naar eind54 | ||||||||||||||
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Störr erzählt diese Szene nach einer Logik, die auf analogen Denkmustern basiert, wobei immer wieder eine Beziehung zwischen solchen Positionen und Zuschreibungen hergestellt werden muss, die nie miteinander korrelieren. Die Spielregeln sollen demzufolge mit den Regeln einer wirklich existierenden Macht verbunden werden: der ‘untersetzte’ Körper soll mit Störr identifiziert werden, damit das Wichtigste nur stillschweigend nahegelegt wird: die untreue (?) Ehefrau spielt die Rolle einer treuen Gattin, um dann später ihren Mann doch zu betrügen, wobei sie in Wirklichkeit nur in solchen Rollenspielen Verkehr mit ihrem Mann hat, sonst nie. Es ist Störr, der dieses Spiel beendet, wobei er jedoch auf die Spielregeln der gegenwärtigen Machtverhältnisse zurückgreift. Zuerst benutzt er die Redeweise des Spiels (‘Jetzt kommt die Rebellion!’). Die Frage, warum das notwendig ist, bleibt jedoch unbeantwortet. Es bietet sich die hermeneutische Opposition zwischen dem Eigenen und dem Fremden als eine mögliche Antwort. Die Subversion dieses Gegensatzpaares dient eigentlich zur Bestätigung des Eigenen, ebenso wie das Funktionsgedächtnis. Das ist möglicherweise auch die Erklärung dafür, warum Störr nach dem Geschlechtsverkehr eine endlose Fremdheit zwischen sich selbst und seiner Frau spürt; die Rückkehr zum Eigenen ist zu gut gelungen: ‘...und so schliefen wir fern voneinander und in grenzenloser Fremdheit ein, wir lagen da wie zwei schwarze Haufen auf einem Eisfeld.’Ga naar eind55 Die gesellschaftlichen Diskrepanzen erklärt Goudsblom unter anderem mit der Beherrschung des Feuers und dem Monopol von Männern, Waffen zu tragen.Ga naar eind56 Wie bereits erwähnt, kann die Szene, wo das Feuer auf dem Schiff ausbricht, als Störrs Versagen interpretiert werden, wobei der Kapitän einem grundlegenden Stereotyp der Männlichkeit nicht entsprechen kann. Er kann keine Selbstdisziplin zeigen, welche Eigenschaft sich aus der Beherrschung des Feuers ableiten lässt. Das Feuermotiv ist im Roman zentral.Ga naar eind57 Goudsbloms Definition des Feuers kann deswegen produktiv in die Interpretation einbezogen werden, da diese sehr gut zum vorher skizzierten allegorischen Interpretationsansatz passt, in dem das endlose Herumtreiben von Zeichen und Zuschreibungen betont wird. Das Feuer hat eine zerstörerische Kraft und seine Wirkungen sind irreversibel, da es nach dem Erlöschen des Feuers unmöglich ist, das verbrannte Original wiederherzustellen. Das Feuer ist des Weiteren zwecklos und selbst erzeugend, d.h. das Feuer erzeugt Hitze und aus der Hitze entwickelt sich wieder Feuer.Ga naar eind58 Demzufolge ist es eine Grundvoraussetzung für die Entstehung einer Zivilisation, Feuer und Zeichen beherrschen zu können. Mit den Zeichen macht Störr die Erfahrung, dass ihre früheren Bedeutungen | ||||||||||||||
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schon zerstört sind und die ursprünglichen Bedeutungen nicht mehr zu rekonstruieren sind. Nicht einmal Erinnerungen können dabei helfen. Neue Zeichen zu benutzen ist scheinbar sinnlos, da das nicht im Einklag mit Störrs Zielen ist. Hingegen entstehen jedoch immer wieder neue Bedeutungen, ebenso autogen wie im Falle des Feuers. Charakteristisch ist, dass Störr in der Szene des Schiffbrands seine Rolle nicht so einschätzt (‘Ein unbrauchbarer, nichtsnutziger und erbärmlicher Mensch bin ich - dieses Gefühl hatte ich.’)Ga naar eind59 wie später seine Geliebte Miss Borton, die Störr als einen tapferen Mann einschätzt, der die in Panik geratenen Passagiere zu beruhigen versuchte: Ich beschloß, die Leute sich selbst zu überlassen, die armen Teufel nicht noch zu narren; da hängte sich ein junges Mädchen bei mir ein, eine kleine Miß, sie ließ mich nicht zur Tür hinaus. Im Vergleich dazu, wie die Passagiere an Bord Störrs Rede verstanden haben, erhalten seine Worte im Nachhinein eine völlig unterschiedliche Bedeutung (‘...es war lauter Quatsch. Aber es tat seine Wirkung...’).Ga naar eind61 Die Erbitterung des Kapitäns ist größtenteils damit zu erklären, dass er dieses Schiff (eine Metapher, im wortwörtlichen Sinne ein Mittel der Übertragung) mit dem Gegenstand seines Begehrens identifizierte und auf diese Weise die Zerstörung des Schiffes auch seine eigene Vernichtung hätte bedeuten können: ‘Ein famoses Schiff war das, einfach süß, entzückend, delikat, wie ein Fräuleinchen, wie eine Geburtstagstorte, oder wie soll ich mich sonst ausdrücken?’Ga naar eind62 Dieses Zitat belegt natürlich zugleich, wie viele mögliche Bedeutungen das Schiff tragen kann. Störr hat Frauen in früheren Passagen des Romans bereits durch verschiedene Speisen ersetzt, worauf viele Rezensenten aufmerksam wurden. Anzunehmen ist diesbezüglich, dass noch weitere psychoanalytische Analysen zum Roman veröffentlicht werden, da der Text viele Möglichkeiten für eine solche Annäherungsweise bietet. Abschließend möchte ich mit einem Zitat meine bisherigen Ausführungen zusammenfassen, wobei ich auf die rhetorische Figur der Mise en abyme zurückgreife. Überraschend ist dabei, dass auch hier eine Subversion der Rollenzuschreibungen zu beobachten ist: Störr benutzt die figurative Redeweise (solange der Erzähler das nicht enthüllt!) und es ist Lizzy, | ||||||||||||||
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die die Szene in die Welt der beschreibenden, eindeutigen Redeweise zurückbringt: Einmal rief ich auf solch einer Exkursion: ‘Sieh doch mal an! Was der da für einen Kloß zum Munde führt’ - und ich zeigte auf die riesige Gestalt eines blauen Mannes auf dem Schild an einer Vorstadtkneipe. Mit weit offenem Mund starrte er auf den vor ihm schwebenden Kloß, welcher in der Luft stehengeblieben war und bis ans Ende aller Zeiten vor dem Mund schweben würde. In der Analyse eines Gedichts von Wallace Stevens schreibt J. Hillis Miller der rhetorischen Figur Mise en abyme eine besondere Bedeutung zu.Ga naar eind64 Dieser (wandernde) Begriff wurde aus der Heraldik entlehnt und bezeichnete ursprünglich das darstellungstechnische Verfahren, wobei auf dem Wappen eine verkleinerte Version desselben Wappens abgebildet wurde. Das bedeutet eine endlose Spiegelung, da man die Reihe immer wieder fortsetzen und die Abbildung immer mit einem weiteren Wappen ergänzen könnte. Zwischen Schild und Wappen bestehen ja keine großen Unterschiede; ein Schild stellt nämlich das weitverbreitetste ‘Wappen’ des modernen und profanen Zeitalters dar. Die Mise en abyme kehrt auf diese Weise in ihrer ursprünglichen Bedeutung zurück und summiert als eine poetische Figur eine der möglichen Lesarten des Romantextes: der Gegenstand des Begehrens (das Essen) kann nicht erreicht werden, ebenso kann der endgültige Sinn auch nicht gefunden werden. Das heißt gleichzeitig auch, dass hier in diese poetische Figur auch das verdichtet wird, dass eine Verdichtung unmöglich ist, da die Spiegelung nie aufhört: auf der Kakaoverpackung, die J. Hillis Miller erwähnt, sieht man eine Holländerin, die Volkstracht mit Holzschuhen trägt und in der Hand eine Kakaodose hat, auf der eine Holländerin in Volkstracht mit Holzschuhen und mit einer Kakaodose in der Hand abgebildet ist... Wir haben jedoch nur die Dose in der Hand, der Endpunkt der endlosen Ferne, die durch diese Spiegelung entsteht, bleibt uns verborgen (da es keinen Endpunkt gibt); nur die Oberfläche der Verpackung können wir anfassen. Diese Mise en abyme führt jedoch doch irgendwohin zurück: nach Holland. Die Antwort auf die im Titel aufgeworfene Frage ist deshalb: | ||||||||||||||
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deswegen Holland, weil alle Wege dorthin führen. Von Störr erfahren wir jedoch, dass man auch in Holland keinen Halt mehr findet.
(Aus dem Ungarischen von Sándor Trippó) | ||||||||||||||
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Bibliografie
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