Geen recht de moed te verliezen. Leven en werken van dr. H.M. de Lange (1919-2001)
(2008)–M.E. Witte-Rang– Auteursrechtelijk beschermd
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Nicht dazu Berechtigt den Mut zu Verlieren
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ökumenischen Jugendbewegung. Seine Erfahrungen mit den Folgen, die die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre für seine Familie hatte sowie seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg haben großen Eindruck hinterlassen. Er hat auf Versäumnisse in mehreren Bereichen hingewiesen, auf schuldiges Unterlassen von Maßnahmen, die Böses hätten verhindern können. In seinem späteren Werk versucht er daran beizutragen, solche Versäumnisse zu verhindern. Er studierte Ökonomie in Rotterdam und musste nach der Kandidatenprüfung untertauchen, um Verschleppung nach Deutschland zu verhindern. In dieser Zeit hat De Lange einige Begegnungen, die ihn geprägt haben. Er trifft Studenten aus Niederländisch-Ostindien und fängt an, mit dem Kampf für ein unabhängiges Indonesien - und über diesen Weg auch für die Unabhängigkeit anderer Länder - zu sympathisieren. Ebenfalls von großer Bedeutung ist seine Bekanntschaft mit dem Theologen Banning, einem Religiös-Sozialisten und Redakteur der religiös-sozialistischen Zeitschrift Tijd en Taak. Banning wurde sein Lehrer und in späteren Jahren haben sie oft zusammengearbeitet. Während des Krieges trat De Lange der Niederländischen Union bei, aus dem Versuch heraus, die scharfen Gegensätze zwischen den Konfessionen, die die Niederlande vor dem Krieg gekennzeichnet hatten, zu überwinden, und ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Nach dem Krieg schloss er sich der Niederländischen Volksbewegung an und wurde über diese Organisation Mitglied der niederländischen sozialistischen Partei (PvdA), sofort nach der Gründung im Jahre 1947. Trotz seiner Kritik bleibt er sein Leben lang treues und aktives Parteimitglied.
2. Nach dem Krieg wurde das niederländische Planungsinstitut gegründet, mit dem Ökonomen Tinbergen als Direktor. De Lange bewirbt sich beim CPB, weil er hofft, eine bewusste Wirtschaftspolitik könne Krisen wie die der dreißiger Jahre verhindern. Er wird eingestellt und einige Jahre später zum Sekretär des Direktors ernannt. In dieser Qualität ist er in der Lage, viele Debatten über ihn interessierende Fragen zu führen. Seine wirtschaftlichen Einsichten sind weitgehend von Tinbergen beeinflusst, der auch sein Interesse für die Dritte Welt erregt hat. De Lange schreibt immer häufiger Artikel zu unterschiedlichen Themen und er hält Vorträge, wo immer man ihn einlädt. Sein ökumenisches Interesse führt ihn zum Jugendtreffen der ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948. Viele andere ökumenische Aktivitäten folgen, wie die Mitgliedschaft der Kommission für soziale Angelegenheiten des Ökumenischen Rates in den Niederlanden. Nach einigen Jahren wird er zum Vorsitzenden ernannt (bis 1993). Auch in der Remonstrantischen Brüderschaft fördert und nährt er die Reflexion über soziale Fragen. In vielerlei Hinsicht unterstützt er die Bildungsarbeit; er ist regelmäßiger Gast und Dozent auf Konferenzen der Laienakademie Kerk en Wereld (Kirche und Welt). In den fünfziger Jahren schreibt er seinen ersten Artikel für die Zeitschrift Wending, auch wohl als ‘Bildungsarbeit auf Papier’ bezeichnet. Er tritt der Redaktion bei. 1966 Präsentiert De Lange seine Dissertation Die Gestalt einer Verantwortlichen Gesellschaft, in der sich alle seine Interessen vereinen. In dieser Studie bemüht er sich, das Konzept der Verantwortlichen Gesellschaft anzuwenden und der niederländischen Situation gegenüberzustellen. Im Rückblick stellt sich diese Studie gleichsam als das Programm von Aktivitäten und Initiativen heraus, die De Lange im Laufe der Zeit zu Themen wie Entwicklung, Unternehmen, Lifestyle, interdisziplinärer Arbeit und Armut entfalten wird. In der gleichen Periode veröffentlicht De Lange sein einflussreiches Buch Reiche und arme Länder. | |
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3. 1964 Tritt De Lange in das Interuniversitäre Institut für Forschung der Normen und Werte in der industriellen Gesellschaft, INW, ein. Nach einiger Zeit wird er zum Direktor ernannt. Ein bedeutender Anteil seiner Arbeit bestand darin, Vorlesungen an den Universitäten die in dem Institut zusammen arbeiteten zu halten. Außerdem veranstaltete er Debatten über eine Reihe von Fragen, mit u.a. Wissenschaftlern und Unternehmern. De Langes Jahre im INW waren turbulent, in politischer, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Er hat sich an vielen Debatten beteiligt, in den Kirchen, in der Politik und in seinem Institut. Wurde De Lange bis dahin hauptsächlich mit Kritik von ‘rechts’ konfrontiert, nun wurde ihm vorgeworfen, er wäre konservativ. Im INW geriet die Debatte über Wissenschaftskonzeptionen völlig außer Kontrolle. Da weitere Zusammenarbeit unmöglich wurde, gab De Lange 1982 die Arbeit im INW auf. In diesen Jahren vertieften sich seine Kontakte zum ÖRK. Er besuchte die Versammlungen von Uppsala (1968) und Nairobi (1975) und war Mitglied der Arbeitsgruppe der Abteilung für Kirche und Gesellschaft (C&S); auch war er Mitglied des Board von Bossey. Ein Höhepunkt für ihn war die Genfer Konferenz 1966 und die Berichte zu den beiden wichtigsten Themen dieser Konferenz, Technologie und Entwicklung, verfolgte er mit größtem Interesse. In seinem dritten Buch, Wirklichkeit und Hoffnung (1975), schildert er, wie sich die ökumenische Debatte gesellschaftlicher Fragen von 1966 bis Nairobi entwickelt hat. Alle Themen, womit er sich im ÖRK auseinandergesetzt hatte, brachte De Lange in den niederländischen Rat der Kirchen ein. Er war Mitglied der Arbeitsgruppe Kirche und Entwicklung und der Delegationen, die mit der Regierung und den Unternehmern in den Niederlanden das Thema Südafrika besprachen. Er initiierte die Ausführung des ÖRK-Programms für transnationale Konzerne in den Niederlanden und setzte sich für die Gründung des Multidisziplinären Zentrums für Kirche und Gesellschaft (MCKS) ein. De Lange beteiligte sich auch an der ökumenischen Arbeit der europäischen Kirchen in Brüssel. Durch seine Mitgliedschaft in der C&S lernte er die Kirchen der ehemaligen DDR kennen, was zu einer Reihe von Begegnungen zwischen den Ausschüssen für Kirche und Gesellschaft der niederländischen und der DDR-Kirchen führte. Auf der Tagesordnung standen Themen wie der Konziliare Prozess und die Ökonomie des Genug, ein Thema womit De Lange sich in den Kreisen woraus das MCKS hervorgehen sollte, befasste. Der Ökonom Goudzwaard und De Lange selbst wurden zu den wichtigsten Vertretern dieser Gedanken. Auch in seiner eigenen Kirche fördert De Lange die Debatte über diese Fragen. Er stößt hier auf Opposition, wegen seiner politischen Haltung, seiner eindeutigen Befürwortung der Verschmelzung seiner Kirche mit anderen Kirchen und wegen seiner starken Kritik an dem, was er als einen Mangel an Engagement ansieht. In der PvdA, seiner politischen Partei, steht De Lange nicht im Vordergrund, er ist aber nach wie vor ein engagiertes und kritisches Mitglied. Er betont in der Diskussion das Recht eines Christen, Mitglied in einer nicht-christlichen Partei zu sein. Und er ruft seine Partei auf, sich für die ökumenische Debatte zu interessieren. Aufgrund seiner aktiven Auseinandersetzung mit Entwicklungsfragen wird De Lange 1972 gebeten, Direktor der Entwicklungsorganisation NOVIB zu werden (Rücktritt im Jahr 1977).
4. 1981 Wird De Lange zum Professor für angewandte Sozialethik an die Theologische Fakultät der Universität Utrecht berufen (bis 1984). Hier setzt er die Aktivitäten, womit er sich schon im INW beschäftigt hat, fort: Er hält Vorlesungen und inspiriert seine Zuhörer. Er lehrt Ökonomie und ökumenische Sozialethik. Nach seinem Eintritt in den Ruhestand wird das Buch Genoeg van Teveel, Genoeg van te | |
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Weinig (übersetzt als: Weder Armut noch Überfluss) von De Lange und Goudzwaard veröffentlicht und zwei Jahre später, im Jahre 1988, Wir sollen uns beeilen. Beteiligung am Konziliaren Prozess. Der Schwerpunkt seiner ökumenischen Arbeit verlagert sich allmählich auf die Niederlande. Seine letzte Tätigkeit im ÖRK war die Mitarbeit am Dokument Christlicher Glaube und die Weltwirtschaft, das 1992 publiziert wurde. Im niederländischen Rat der Kirchen unterstützt De Lange den Konziliaren Prozess und beteiligt er sich aktiv an Diskussionen und Aktionen rund um den zunehmenden Armut in den Niederlanden, an der Debatte über den Sozialstaat, die EU, Südafrika, Entwicklung u.a. Im MCKS (gegründet 1980) ist er die treibende Kraft hinter vielen Initiativen, insbesondere im Wirtschaftsbereich. Alle diese Aktivitäten gehen zu Ende, als ihn im August 1997 ein Gehirninfarkt trifft. Am 27. September 2001 stirbt er.
Teil II dieser Studie trägt den Titel ‘Harry de Lange und die ökumenische Sozialethik’.
5. In diesem Kapitel (‘Wer verrückt die Grenzen?Ga naar voetnoot1 Harry de Lange als Ökonom’) wird De Lange als Wirtschaftswissenschaftler positioniert. Danach wird untersucht, wie sich De Lange in zwei seiner Bücher mit der Wirtschaft auseinandersetzt. De Langes Bestreben war, sein Fach in normativer Weise auszuüben und er forderte seine Kollegen auf, sich ebenfalls ausdrücklich über ihre normativen Voraussetzungen (die ein jeder, bewusst oder unbewusst, hat) auszusprechen. De Lange gehört in die Kreise der institutionellen Ökonomen, wie Galbraith, die ihr Fach in einer multidisziplinären Weise ausüben wollen, es zur Lösung sozialer Probleme einsetzen möchten und Staatseinmischung in die Wirtschaft nicht von vornherein abgeneigt sind. Wirtschaftswissenschaftler die De Lange beeinflusst haben, sind unter anderen Galbraith, Tinbergen, Daly und Schumacher. Auch ließ sich De Lange gerne von den Spezialismen zeitgenössischer Ökonomen wie Linnemann, Goudzwaard und Opschoor belehren. In seiner Doktorarbeit zielt De Lange darauf ab, herauszufinden, ob der Begriff der Verantwortlichkeit im Aufbau einer wirtschaftlichen Ordnung und in der Schaffung einer Wirtschaftspolitik eine Rolle spielen kann. Zu diesem Zweck beschreibt er den Hintergrund der ökumenischen Debatte der Verantwortlichen Gesellschaft, analysiert er die niederländische Gesellschaft und konfrontiert er diese beiden. Das Ergebnis dieses Vergleichs wendet er im zweiten Teil seiner Studie in einigen Fragen der wirtschaftlichen Ordnung und des wirtschaftlichen Prozesses an. Seine Schlussfolgerung ist, dass eine ethische Kategorie wie Verantwortung in der Tat die besagte Rolle spielen kann. De Lange stimmt Mannheim zu, wenn dieser erklärt, es sei möglich ein guter Christ zu sein in einer Gesellschaft, in der die grundlegenden Regeln im Widerspruch mit dem Geist der christlichen Lehre sind. Diese Regeln (wie der Anreiz des Eigeninteresses) reizen die sündhaften Instinkte der Menschen statt sie zu mäßigen. Der Begriff der Verantwortung hilft beim Aufbau einer gesellschaftlichen Ordnung, die der Sünde weniger Raum lässt. Da der Mensch von sich aus keine Verantwortung tragen kann und will, ist die Erziehung zur Verantwortung unerlässlich. Im Jahre 1986 wird Weder Armut noch Überfluss veröffentlicht. Dieses Buch zeigt, dass strukturelle Mängel in der ökonomischen Theorie zu Verlusten in der Gesellschaft führen. Wir sollen uns um eine Wirtschaft bemühen, in der die menschlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen, denen die | |
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Produktion, der Verbrauch und das Einkommen untergeordnet werden. Das ist die Wirtschaft der Fürsorge, die eine Neuorientierung in mehreren Bereichen erfordert. Ökonomenkollegen entgegneten vornehmlich, dass wirtschaftliches Wachstum unentbehrlich sei und dass die Autoren die Selbstkorrekturfähigkeit des Systems unterschätzten. Progressive Theologen warfen den Autoren vor, den Machtfaktor nicht genügend berücksichtigt zu haben. Dieses Kapitel schließt mit einer Schilderung von De Langes Einfluss als Ökonom. In den Niederlanden, besonders in den Kirchen, war seine Wirkung enorm, als Anreger, als Inspirationsquelle, als Netzwerker und als Initiator. In Europa und in der internationalen ökumenischen Bewegung war seine Rolle vor allem die des Netzwerkers.
6. Die Anthropologie hat für De Lange einen großen Stellenwert. Zentrale Sätze dieser Anthropologie sind: ‘Jeder Mensch ist von Gott nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen. Er muss sich nach den von Gott gegebenen Fähigkeiten und Möglichkeiten entwickeln.’ Und: ‘Gott braucht die Menschen. Er sucht den Menschen. Er lädt ihn ein, sich an seiner Schöpfungsarbeit zu beteiligen. Er setzt auf die Zusammenarbeit des Menschen.’ De Lange sagte der Personalismus Bannings zu, ebenso wie die hoffnungsvolle Weise, auf die der russische Philosoph Berdjajew vom Menschen sprach. Ihn sprach der Ethiker Hannes de Graaf an, der mit der Studie Russische Denker über den Menschen diese Denkart in den Niederlanden erschlossen hatte. Häufig zitiert De Lange auch jüdische Autoren; er schätzt die Betonung der relationalen Aspekte des menschlichen Seins, die Weise, in der sie Ethik und Theologie verknüpfen (‘Gott kennen, ist wissen was man zu tun hat’) und den grundlegenden Optimismus. De Lange kritisiert Leute, die unter dem Einfluss des Heidelberger Katechismus zu negativ vom Menschen denken. Im Geiste Moltmans und Pichts spricht er von der Pflicht zur Hoffnung, da der heutige Weg der Welt in den Abgrund führt. Die Anthropologie De Langes war eklektisch, nicht in jeder Hinsicht durchdacht, aber ausreichend für die Zwecke, denen er damit dienen wollte.
7. Diese Anthropologie erklärt auch den Wert, den De Lange dem Konzept der Verantwortlichen Gesellschaft beilegte, dem Konzept, das der ÖRK als Kriterium zur Beurteilung des bestehenden sozialen Systems und als Standard für gesellschaftliche Entscheidungen verwendete. Wenn der Mensch von Gott zur Verantwortung berufen ist, soll ihm die Gesellschaft auch den Raum zum Ausüben dieser Verantwortung bieten. ‘Wo soziale Strukturen den Menschen daran hindern, Gott zu antworten, ist es unsere Aufgabe, zu handeln und im Befreiungsprozess mitzuarbeiten’, sagte De Lange. Das Konzept sollte Auswege bieten in einer großen Zahl von ökumenischen Debatten: über das Verhältnis zwischen einer Ethik der Ziele und der Mittel, über naturrechtliches Denken oder den biblisch-christologischen Ansatz. Es sollte die Reflexion einer Vielzahl gesellschaftlicher Situationen ermöglichen. Daher war das Konzept immer wieder Gesprächsthema. Vor allem der Aufstieg der Theologie der Revolution hat zu starker Kritisierung des Konzeptes geführt. Als anschauliches Beispiel wird die Kritik des Theologen Ter Schegget in seiner Dissertation Der Appell an die zukünftige Stadt besprochen. Genaues Lesen der Texte zeigt allerdings, dass nicht jede Kritik berechtigt ist. All zu leicht wird das Konzept mit einigen seiner Vertreter identifiziert und oft wird es als Aufruf zur persönlichen Verantwortungsübernahme, ungeachtet der Umstände, missverstanden. De Lange wendet sich aber gegen jegliches Verantwortungsverständnis, das Staatseinmischung ablehnt und nur persönliche Verantwortung betont. Er ist diesem Konzept treuge- | |
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blieben, obwohl er die neuen vom ÖRK eingeführten Konzepte und Programme begrüßte. Es zeigt sich, dass das sogenannte ‘alte’ Denken in der Debatte über den Paradigmenwechsel im ökumenischen Denken öfters zur Karikatur wird. Für De Lange waren die zentralen Themen der ökumenischen Sozialethik weiterhin Gerechtigkeit, Partizipation und Nachhaltigkeit, Konzepte mit großer Relevanz, auch für die Probleme von heute. In den letzten Jahren greifen Theologen wieder auf das Konzept der Verantwortlichen Gesellschaft zurück und zeigen, dass es ein nützliches Instrument im Kampf um eine bessere Welt ist.
8. Das abschließende Kapitel fasst die Hauptgedanken im Werk De Langes zusammen und wirft die Frage auf, ob seine Vorgehensweise auch heute noch erfolgreich sein könnte. Die Antwort ist ja: Seine Begeisterung könnte auch heute noch wirksam sein, weil sie nicht auf einer optimistischen Einschätzung der anzustrebenden Ziele basierte, sondern vielmehr der Hoffnung, ‘die eine Leidenschaft für das Mögliche hat’, entsprang. |
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