Eneide
(1964)–Hendrik van Veldeke– Auteursrechtelijk beschermd
[pagina IX]
| |
EinleitungUm die Eneide Henrics van Veldeken, das erste Werk der deutschen Literatur, in dem die ideale Selbstdarstellung des höfischen Rittertums an den neu eroberten Stoffen der griechisch-römischen Spätantike voll gelingt, haben sich schon Generationen gemüht. Eigentlich dürften wir sie gar nicht mit Eneide bezeichnen, da der Dichter selbst diesen an lateinische Wortbildung gemahnenden Titel nur für Vergils Aeneis verwendet. Der Schreiber der Heidelberger Papierhandschrift und der Dichter der Minneburg nennen Veldekes Werk EneasGa naar voetnoot1, welches auch der Titel des anglonormannischen Romans ist, der dem Dichter als unmittelbare Vorlage diente. Trotzdem bleiben wir bei der der Forschung seit fast zwei Jahrhunderten vertrauten Benennung. Gottsched ist es zu danken, daß die vergessene Dichtung 1745 in den Blickkreis der Wissenschaft gerückt und 1783 die zunächst fast allein bekannte Gothaer Handschrift von Christoph Heinrich Müller im 1. Band der Sammlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII. und XIV. Jahrhundert abgedruckt wurde. Der Aufschwung der Germanistik und die Begründung einer altdeutschen Textkritik führten im 19. Jahrhundert zu einer Sichtung des Handschriften bestandes und den bedeutenden Versuchen kritischer Ausgaben von L. Ettmüller, Leipzig 1852Ga naar voetnoot2, auf der Grundlage der Handschriften BMHG, und von O. Behaghel, Heilbronn 1882Ga naar voetnoot3, auf der Grundlage aller uns bis heute bekannten Handschriften und Handschriftenbruchstücke. Beide können heute nicht mehr befriedigen, so wichtige Marksteine auf dem Wege der Erschließung der Dichtung Veldekes sie auch sind. Die Veldekephilologie und zumal die Eneide-philologie haben ihre einzigartigen Schwierigkeiten. Mit den diesen Gelehrten zugänglichen Mitteln konnten sie noch nicht bewältigt werden. Der Epilog gab zwar in den Versen 13429-13528 wichtige Hinweise auf Entstehungsweise und Geschicke der Dichtung, die man von Anfang an beherzigte. Danach wußte man, das Werk entstand in zwei Anläufen. 10932 Verse der insgesamt 13528 waren vor 1174, der Hochzeit in Cleve, abgeschlossen. Während der Hochzeitsfeierlichkeiten wurde die unfertige Dichtung, die sich die Gräfin dore lesen ende dore scouwen ausgeliehen hatte, von einem Gast, Graf Heinrich von Thüringen, entwendet und nach Thüringen verschleppt. Erst neun Jahre später konnte Veldeke in Thüringen, von Pfalzgraf Hermann auf die Neuenburg eingeladen und zum Abschluß der | |
[pagina X]
| |
Dichtung gedrängt, sein Werk vollenden. Es mußte also angenommen werden, daß der Großteil der Dichtung von Veldeke einmal limburgisch abgefaßt war, in der Sprache seiner Heimat zwischen Schelde und Rhein. Wie wurde aber der sogenannte ‘thüringische’ Schluß konzipiert, limburgisch oder thüringisch? Das mußte einer Kritik der Überlieferung vorbehalten bleiben. War die ‘limburgische Eneide’ auch eine zu fordernde Größe, so schien sie doch dem Zugriff der Forschung grundsätzlich entzogen. Ist doch die Gesamtüberlieferung auf hochdeutschem Sprachgebiet entstanden, in hochdeutschem Sprachgewand. Ettmüller hielt die älteste, kaum noch dem 12. Jahrhundert angehörende Berliner Handschrift für den unmittelbaren Niederschlag einer ‘thüringischen Eneide’, so wenig er eine klare Vorstellung vom Thüringischen der damaligen Zeit haben konnte. ‘Kann nun aber die Eneide nicht so wiedergegeben werden, wie sie Heinrich sprach oder schrieb, so müssen wir uns schon mit derjenigen Gestalt begnügen, die sie in Thüringen erhielt. Diess und nicht mehr als diess habe ich denn auch zu erreichen gesucht.’Ga naar voetnoot4 B als Leithandschrift zu wählen, war ein Mißgriff. Gerade sie erwies Braune etwa 20 Jahre später ‘als vielfach ändernde, verhochdeutschende Bearbeitung’Ga naar voetnoot5. Sie ist darüber hinaus, wie wir heute sehen, sogar oberdeutsch überformt.Ga naar voetnoot6 Indes waren die Kenntnisse des Nieder- und Mittelfränkischen gewachsen, weitere Handschriften und Bruchstücke bekannt geworden, vor allem die junge Servatiushandschrift entdecktGa naar voetnoot7 und publiziertGa naar voetnoot8, so daß Behaghel in seiner Ausgabe von 1882 wagte, auf das erste, von Ettmüller zurückgestellte, aber immer wieder lockende Editionsziel, die ‘limburgische Eneide’, zurückzugreifen. Das war mutig, aber noch verfrüht, wie wir heute, nach dem ungeheuren, ein weiteres halbes Jahrhundert füllenden Aufschwung der Dialektgeographie und der Erforschung der historischen Schriftdialekte in Dichtung, Geschäfts- und Urkundensprache sagen müssen. Über die allzuschmale Basis der sprachlichen Gestaltung seines limburgischen Textes gibt er S. XXXVIIf. Rechenschaft. Erst die seit 1883 in Abständen aufgefundenen limburgischen ServatiusbruchstückeGa naar voetnoot9 aus dem | |
[pagina XI]
| |
Beginn des 13. Jahrhunderts, in diese neu erkannten Zusammenhänge gestellt, konnten der Veldekephilologie entscheidende neue Perspektiven eröffnen. Bleibenden Wert aber hat Behaghels Mühen um die Handschriftenfiliation.Ga naar voetnoot10 Über seine Erkenntnisse, die Beziehungen der Handschriften untereinander betreffend, Braune weiterführend, werden wir auch heute kaum hinauskommen können. Wenn er den jüngsten Handschriften G und h, der Gothaer und Heidelberger Papierhandschrift aus dem 15. Jahrhundert, den größten Wert für die Textkritik beimißt, so können wir ihm vorbehaltlos zustimmen. Wir haben uns dankbar seinem Schema S. XXXVI angeschlossen, wenn wir auch bei der Gestaltung unseres kritischen Textes andere Wege gehen, bei denen diese, früher als so wichtig erachteten Zusammenhänge an Bedeutung verlieren. Wir lösen uns, so weit möglich, von der vagen Fragestellung nach der ‘besseren’ oder ‘schlechteren’ Lesart im allgemeinen Sinne, fragen vielmehr in jedem Einzelfall nach der größeren Nähe oder Ferne einer Lesart zum Altlimburgischen, wie es für uns durch die Servatiusfragmente und andere altlimburgische Überlieferung Gestalt gewonnen hat. Für diese Frage sind uns alle Handschriften gleich wichtig. Wir hätten statt der Gothaer Papierhandschrift auch die Heidelberger Pergament-, die Eibacher oder Heidelberger Papierhandschrift zum vollständigen Abdruck wählen können. Wir bevorzugten G nur, weil es die einzige Handschrift ist, die in Thüringen entstand und in Thüringen blieb. |
|