Herinneringen
(1909)–Anna de Savornin Lohman– Auteursrecht onbekend
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Ein Fall von chronischer Trional-vergiftung
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Erst Ende März fiel es zuerst den Angehörigen der Patientin auf, dass sie ‘schlecht aussehe’, und beim Gehen mit dem linken Bein etwas ‘schleppte’. Zugleich zeigte sich zunehmende Mattigkeit und eine gewisse psychische Depression, Widerwillen gegen das gewöhnliche Alltagsleben, und öfterer Wechsel der Stimmung. In den ersten Tagen des Mai ‘erkältete’ sich die Kranke, hatte Schmerzen im Kopf und Rücken, und sehr grosse Abgespanntheit. Zugleich hatte sie von Ende April bis Mitte Mai täglich mehrere Male auftretende dünne, fleischwasserähnliche Stühle, die viel Schleim enthielten (früher hatte Pat. normalen Stuhl gehabt). Am 11. Mai schlug dieser Durchfall plötzlich in Verstopfung um. Zugleich traten jetzt heftige colikartige Schmerzen im Leib auf, mehrere Tage lang öfteres Erbrechen sowohl nach der Nahrungsaufnahme, als in den Zwischenzeiten, und Appetitlosigkeit. Zur selben Zeit traten Veränderungen des Urins auf. Einige Tage lang soll fast gar kein Urin entleert worden sein, trotz starken schmerzhaften Dranges, dann wurden geringe Mengen entleert unter heftigem Wehgefühl in der Blasen- und Urethragegend. Die Secretion blieb dann sehr spärlich. Jener nach der mehrtägigen Pause entleerte Urin soll zuerst eine charakteristische burgunderrothe Farbe gehabt haben, die dann in den nächsten Tagen an Intensität zugenommen hat. Ende Mai nahm Pat. nur mehr äusserst wenig Nahrung zu sich, die Schmerzen im Leib wurden so heftig, dass der Arzt Morphium gab. Am 1. Juni konnte sie Morgens plötzlich nicht mehr gehen, die Beine knickten beim Auftreten zusammen, und versagten vollkommen den Dienst. In diesem Zustande kam Pat. in unser Hospital. Status bei der Aufnahme: Pat. klagt über grosse Hinfälligkeit und Schwäche, ferner über sehr lebhafte colikartige Schmerzen im Leibe, besonders in der linken Bauchseite. Gegen diese Schmerzen hat sie in den letzten Tagen Morphium subcutan bekommen, zuletzt zu Beginn der ca. 8stündigen Reise hierher, Während der Fahrt hat sie Trional genommenGa naar voetnoot1. | |
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Der Puls ist klein, schwach, 120-130 pro Min. aber regelmässig, die Athmung normal. Die Organuntersuchung ergiebt Folgendes: Grosse Blässe der Haut und der sichtbaren Sehleimhäute; an den Beinen und Armen ist die Haut schlaff, derart dass die Angabe der Patientin, in letzter Zeit sehr abgemagert zu sein, dadurch bestiätigt wird. Herzgrenzen nicht erweitert, Töne rein, Herzaction schwach, Lungenbefund normal. Leib etwas eingezogen, auf Druck recht empfindlich, besonders in der linken Seite vom Rippenbogen bis zum Lig. Poupartii. Die Tastempfindung beider unteren Extremitäten, hinaufreichend hinten bis zur Höhe etwa des 4. Lendenwirbels, ist herabgesetzt. Die linke untere Extremität ist unempfindlicher als die rechte. Die Kreuzbeinlendengegend ist besonders unempfindlich, tiefere Nadelstiche werden hier nicht empfunden. Augen- und Kniereflexe nicht verändert. Active Beweglichkeit der Körpermuskulatur qualitativ anscheinend normal, quantitativ sehr herabgesetzt. Pat. vermag selbständig nur mühsam wenige Schritte zu machen. Darmentleerung soll seit mehreren Tagen nicht mehr erfolgt sein. Besonders auffallend ist der burgunderroth gefärbte Urin der Patientin. Derselbe ist wenig getrübt, reagirt stark sauer, spec. Gew. 1022, Menge in den ersten Tagen nur 300-500 cc. Mikroskopisch enthielt der Harn viele hyaline, granulirte und Epithelcylinder, verfettete Nierenepithelien, keine Blutbestandtheile. Er war sehr eiweissreich. Behufs spectroscopischer Untersuchung wurde der Harn in mehreren grösseren Portionen zum hiesigen physiologischen Institut geschickt, wo Herr Prof. Bleibtreu die Güte hatte, denselben zu untersuchen. Der Harn zeigte hierbei ein ganz analoges Verhalten, wie der von Quincke in der oben erwähnten Arbeit bei Sulfonalvergiftung beschriebene: Spectroskopisch zeigte er ein breites Absorptionsband von F bis b, mit diffuser Verdunkelung des violetten Endes des Spectrums. Aether und Chloroform nahmen den Farbstoff nicht auf. Der Farbstoff ist kein Haematoporphyrin, sondern ein diesem änhnlicher unbekannter Korper. | |
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Ueber seine Versuche, den Farbstoff zu isoliren, sagt Herr Prof. Bleibtreu: ‘Aus dem Harn liess sich durch Bleiessig der Farbstoff vollständig ausfällen, so dass der Harn nach der Ausfällung seine natürliche Farbe bekam. Durch Durchleiten von Schwefelwasserstoff durch den mit Wasser aufgeschwemmten Bleiniederschlag gelang es zunächst nicht, den Farbstoff aus der Bleifällung wieder aus zu scheiden, jedoch gelang diese Ausfällung durch längeres Erhitzen unter gleichzeitigem Durchleiten von Schwefelwasserstoff. Durch Abfiltriren erhielt man so den Farbstoff in wässeriger Lösung. Die Lösung zeigte dasselbe Spectrum, wie der ursprüngliche Harn. Nach Eindampfen schied sich der Farbstoff zum Theil krystallinisch ab. Versuche, den Körper durch Umkrystallisiren zu reinigen, führten leider nicht zum Ziel, da das Material nicht ausreichte.’ Herr Dr. Kaiser, Assistent am hiesigen mineralogischen Institut, hatte die Freundlichkeit, jene durch Eindampfen gewonnenen Krystalle mikroskopisch zu untersuchen. Sein Urtheil ist folgendes: ‘Die mir übergebenen hellgelben Kryställchen sind kurzsäulenförmig und gehören entweder dem quadratischen oder rhombischen System an. Bei der Kleinheit der Krystalle und der geringen Beweglichkeit des Präparates ist eine genauere Bestimmung nicht möglich. Die Krystalle sind stark doppelbrechend (zeigen äusserst lebhafte Interferenzfarben) und besitzen einen geringen Pleochroismus (hellgelb - weingelb).’ Die Krystalle zeigten in ihrer Form einige Aehnlichkeit mit Harnsäurekrystallen. Der Harn verlor auf die hier angewandte Therapie hin bald die burgunderrothe Farbe, so dass leider aus Mangel an weiterem Material eine genauere Untersuchung des seltsamen Farbstoffes unmöglich war. Der weitere Krankheitsverlauf war folgender: Am zweiten Tage nahm die bereits bei der ersten Untersuchung besonders in den Vordergrund tretende Schwäche der Herzaction an Intensität noch zu. Die Zahl der Pulse stieg auf 160, er wurde sehr klein. Patientin klagte neben excessiv heftigen colikartigen Schmerzen im Leibe über eine starke Athembeklemmung. | |
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Die Untersuchung des Herzens ergab denselben Befund, wie am vorigen Tage: Herztöne rein, Grenzen normal, Action schwach, Cyanose besteht nicht. In der Nacht vom 3. zum 4. Tage wurden die Symptome der Herzschwäche (Tachycardie, Beklemmung, Blässe der Haut) so ausgesprochen, dass Campherinjectionen gemacht werden mussten. Wegen der überaus heftigen Coliken konnten trotz jener Herzsymptome neben Campherinjectionen solche von Morphium (2 × täglich 0,01) nicht umgangen werden. Vom 3. Tage an, nachdem die Urinuntersuchung, Visceralcoliken, hartnäckige Obstipation und intensive Herzschwäche die Diagnose: ‘Chronische Trionalvergiftung’ gefestigt hatte, wurde die Behandlung, natürlich neben Aussetzen des Trionals, auf reichliche Zufuhr von Natronsalzen (Natr. bicarb. und Natr. sulfur.) basirt und, wie schon angegeben, die Herzschwäche mit Campher, die Coliken mit Morphium behandelt. Im weiteren Verlaufe der Krankheit ist bemerkenswerth die Zunahme der Gefühlsstörung der unteren Extremitäten und besonders der Kreüzbeinlendengegend. Die Abstumpfung der Empfindung an letztgenannter Stelle war so hochgradig, dass mit Heisswasser gefüllte Metallfläschen, die wegen der Colikschmerzen an den Körper gelegt wurden, in der Kreuzbeinlendengegend eine breite, tiefgehende Hautverbrennung veranlassten, ohne das Pat. bemerkt hatte, dass durch eine Wendung des Körpers die Umhüllung der Flaschen sich gelockert hatte und jene dadurch in direkten Contact mit der Haut kamen. Eine genauere Bestimmung der Empfindungsstörungen liess sich mit Rücksicht auf den hochgradig geschwächten Allgemeinzustand der Kranken zunächst nicht ausführen. Weiter zu bemerken ist im Anschlusse hieran eine weitere Abnahme der Gebrauchsfähigkeit der Beine: in der 3. Woche ihres hiesigen Aufenthaltes war Pat. ausser Stande, das Bett selbständig zu verlassen und bedurfte besonderer Stütze, um einige Schritte mühsam im Zimmer zurückzulegen. Knie- und Augenreflexe blieben dabei unverändert normal, doch | |
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zeigte sich bald eine Abnahme der activen Beweglichkeit der Unterextremitäten auch im Liegen, besonders der linken. Die noch ausstehende electrische Untersuchung konnte erst in der 6. Woche des hiesigen Aufenthaltes der Pat. gemacht werden. Hierbei ergab sich: Verminderte Reaction beider Unterextremitäten gegen galvanischen und faradischen Strom vom Nerven und vom Muskel aus. Besonders starke Verminderung zeigte die Reaction sowohl faradisch wie galvanisch vom N. peroneus der linken Seite indem die bezüglichen Zückungen erst bei sehr viel stärkeren Srömen und sehr viel schwächer als rechts erfolgten. Zuweilen schienen links bei direkter Muskelreizung trägere Muskelcontractionen zu erfolgen. Erst im September bei erneuter Untersuchung war die electrische Erregbarkeit zur Norm zurückgekehrt. Noch immer bestand jedoch genau nachweisbare Herabsetzung der Tastempfindung der linken unteren Extremität gegenüber der rechten. Die früher intensiv herabgesetzte Empfindung der Kreuzbeinlendengegend indessen war wieder vollends zur Norm zurückgekehrt. Die bedrohliche Herzschwäche liess erst gegen Anfang der 3. Woche allmählich nach, der Puls wurde langsam kräftiger, die Frequenz sank. Hiermit ging zugleich eine Vermehrung der Urinsecretion und ein allmähliches Verschwinden der rothen Farbe und auch der nephritischen Symptome einher, jedoch war erst nach ca. 8. Wochen der Urin vollkommen eiweissfrei und klar. Die Patientin bedurfte eines Hospitalaufenthaltes von 4 Monaten, um gekräftigt und nahezu vollends genesen nach Hause zurückkehren zu können.
Der ganze Krankheitsverlauf ist für den ursächlichen Zusammenhang mit der so lange Zeit fortgesetzten Einnahme von Trional beweisend. Es folgt also aus unserem Falle, dass bei länger dauernden Zuführung van Trional der Stoffwechsel einen Farbstoff producirt, der dem Haematoporphyrin zwar ähnlich, aber nicht mit ihm identisch ist, sondern einen bisher noch unbekannten Körper repräsentirt. | |
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In anderen Fällen ist, wie aus den Krankengeschichten (s. oben) hervorgeht, echtes Haematoporphyrin nachgewiesen worden. Im Uebrigen sind die Analogieen unseres Falles mit den früher veröffentlichten in die Augen fallend. Besonders charakteristisch sind bei uns die Anomalieen des Stuhles, die intensive Herzschwäche, die zeitweilig sehr für das Leben fürchten liess, die sehr ausgeprägten nephritischen Erscheinungen in Verbindung mit dem eigenthümlich gefärbten Urin, die heftigen Visceralcoliken und die nervösen Erscheinungen. Es ist zu bedauern, dass letztere wegen der grossen Schwäche der Patientin nicht genauer untersucht werden konnten, ebenso, dass die Untersuchung des Farbstoffs nur bis zu gewissen Grenzen möglich war, indem, allerdings zum Heile der Patientin, die bekannte Therapie (Erhöhung der Alkalescenz des Blutes, Aussetzen des schädlichen Medicamentes, allgemein roborirende Cur) die Quelle bald versiegen machte, aus der das Material für weitere Untersuchungen zu schöpfen war. (Berliner Klinische Wochenschrift, 2 October 1899) |
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