Der Umschwung in der geistigen Lage und die neuen Aufgaben des Sozialismus
(1930)–Henriette Roland Holst-van der Schalk–
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Der Umschwung in der geistigen Lage und die neuen Aufgaben des Sozialismus.I.
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die Gesellschaft im rationellen Sinne umgestalten zu können; von ihr erhofft er sowohl die Löfung der metaphysischen Probleme vom Wesen des Seins und vom Sinn des Lebens, wie der praktischen Frage des Aufbaus einer vernünftigen menschlichen Gesellschaft. Die ungeheuren Fortschritte, welche die Anwendung der Naturwissenschaften (Mechanik, Physik und Chemie) auf die Wirtschaft ermöglichten, schufen auch die Grundlage für die allgemeine, uneingeschränkte Herrschaft des Rationalismus. Es schien die Menschheit sich endgültig von jedem metaphysischen Denken abzuwenden und jedem Glauben an überzeitliche Werte zu entwachsen. Der lange Kindertraum lag hinter ihr, die Wendung zu Rationalismus und Positivismus bezeichnete den Anfang des männlichen Alters. Die Mechanik war jener Teil der Naturwissenschaft, welcher in dieser Zeit zuerst zu einem hohen Grad von Vollkommenheit gelangte. Dies macht die Tatsache begreiflich, dass sie anfänglich alle Zweige der Naturwissenschaft mächtig beeinflusste. Es liegt die Epoche noch kaum hinter uns, da jede Wissenschaft ihr Heil darin erblickte, nach den Methoden der Naturwissenschaft zu arbeiten. Und diese waren vorzüglich die Methoden der Mechanik. So verbreitete sich eine nicht nur rationalistische, sondern auch mechanistische Auffassung der Welt und des Lebens. Die mechanistische Denkweise hat dann freilich sehr verschiedene Formen angenommen. Zu ihr zählen wir nicht nur schroffe Materialisten wie Vogt und Büchner, sondern auch Positivisten wie Comte und Mill und die meisten Wortführer der verschiedenen Entwicklungstheorien. Auch Entwicklungsmechaniker wie Roux und Weissmann gehören zu ihr. Das letzte Ziel der mechanistischen Weltanschauung war, alle qualitativen Veränderungen auf die Bewegung kleinster, nur noch quantitativ bestimmter Teile zurückzuführen. Eine Zeitlang wurde die experimentelle Methode auch auf die Erforschung der seelischen Vorgänge übertragen, in der Zuversicht, dass es gelingen werde, auch das Psychische auf einfache, quantitativ bestimmte Elemente zu reduzieren. Für die mechanisch-materialistisch eingestellte Psychologie war das Seelische wesentlich abhängig vom Körperlichen. Der mechanistischen Biologie schien der Lebensprozess ein, zwar äusserst verwickelter, rein physikalisch-chemischer Prozess zu sein; sie betrachtete die Organismen als Maschinen von wesentlich gleicher Struktur wie alle anderen im Raume ausgebreiteten Systeme, sei es physikalischer oder chemischer Art. Das Verständnis des organischen Lebens erschien als eine Aufgabe, die sich auf die Dauer mit den Methoden der mathematisch-physikalischen und chemischen Wissenschaft restlos lösen liess.Ga naar voetnoot1) So wurde von der modernen, mechanistisch-rationalistischen Welt- | |
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anschauung erstens die organische Natur der unorganischen gleichgesetzt und zweitens das Psychologische nur als eine bestimmte Unterart des Organischen betrachtet. Das ganze Weltall wurde in eine ungeheure Maschinerie verwandelt, alles Geschehen auf einen mehr oder weniger mechanistisch aufgefassten Ablauf von Ursachen und Wirkungen zurückgeführt. Die felsenfeste Ueberzeugung von den mechanischen Kausalzusammenhängen war der Eckstein der naturalistischen Weltanschauung. Diejenige Form des Sozialismus des vorigen Jahrhunderts, die sich bezeichnenderweise ‘wissenschaftlicher Sozialismus’ nannte, begab sich gänzlich in die Gewalt der rationalistisch-mechanistisch-deterministischen Weltanschauung. Wie hätte der Sozialismus sich dieser Gewalt entziehen können? Erstens entstand er ja in der Epoche, in der die positivistische Naturwissenschaft ihre siegreichen Schlachten schlug, gegen veraltetes, entwertetes Wissen und verknöcherte Vorurteile. Dazu stand das moderne sozialistische Denken vor der Aufgabe, sich in der materiellen Welt zurecht zu finden, um ihre Bedingungen, Beziehungen und Verhältnisse erklären zu können. Im Kapitalismus ergreift der Verstand die Herrschaft über die Wirtschaft, alles Irrationelle in ihr wird in steigendem Masse ausgeschaltet: die Wirtschaftsführung wird immer mehr rationalisiert, immer mehr planmässig betrieben. Es sindet ein Prozess unaufhaltsamer Verdinglichung statt, der mit dem Prozess zunehmender Vorherrschaft der Ding-Sphäre in der Weltanschauung und Lebensauffassung parallel geht. Es ist das grosse Verdienst von Karl Marx, dass er dieser Verdinglichung in der Wirtschaftssphäre, die sich wie ein dicker Nebelschleier zwischen die persönlichen Beziehungen der verschiedenen Klassen einschiebt, durch seine gründliche Analyse und seine hellseherische Begabung auf die Spur gekommen ist. Die deterministisch-mechanistische Weltanschauung erstarkte im Kampf gegen Begriffe und Lehren, die aus den Zeiten der feudal-absolutistischen Gesellschaftsordnung stammten und von den Herrschenden gebraucht wurden, um diese Ordnung zu stützen. Der philosophische Materialismus, der Rationalismus und die Entwicklungslehre schienen überaus wertvolle Waffen im Kampf gegen Knechtschaft und gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Sie schienen nicht nur solche Waffen: sie waren es in gewisser Hinsicht auch wirklich. Jedoch bildeten sie gleichzeitig auch wieder geistige Bedingungen, welche der Ausbreitung des Kapitalismus eine günstige Sphäre schufen. Die naturalistisch-mechanistisch-rationalistisch gerichtete Lebens- und Weltanschauung und die kapitalistische Produktionsweise haben in mannigfacher Weise aufeinander reagiert. Diese Reaktionen sind ziemlich verwickelt. Dass der Kapitalismus psychologisch, wenn nicht ermöglicht, so jedenfalls stark gefördert wurde durch eine Auffassung von Welt und Leben, die die zeitlichen Werte für die einzigen reellen | |
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erklärte und alle Energien der Vitalsphäre auf diese Werte richtete, das bedarf kaum eines Beweises. Die starke Veräusserlichung des menschlichen Bewusstseins bildet die psychische Voraussetzung eines Wirtschaftssystems, dessen Bestrebungen alle, entweder direkt oder indirekt, auf die quantitative Vermehrung der Güter gerichtet sind. Es ist eine Betrachtung des Menschen nicht als eines beseelten Organismus, dessen tiefstes Wesen ein göttliches Geheimnis gleichzeitig verschliesst und offenbart, sondern als eines Homo faber, eines Schaffenden in einer Welt geschaffener Dinge, d.h. als eines Produzenten, die notwendige Voraussetzung eines Systems, in dem die absolute Unterordnung des Menschen unter die Forderungen der Produktion durchgesetzt werden soll. Die Vergottung aller von Menschen geschaffenen, endlichen Werte - und unter diesen dann noch besonders der materiellen - hat zum Gegenstück die Entwertung und Verachtung derjenigen Seiten im Menschen, die nicht der Produktion von Sachwerten dienen und nicht für sie nutzbar gemacht werden können: seiner Sehnsucht nach wahrer Gemeinschaft, seiner Ahnungen von einem von Liebe erfüllten und beseelten Zusammenleben als dem einzigen seinem höchsten und tiefsten Ich entsprechenden Leben. Gegen die Entmenschlichung des Menschen durch den Kapitalismus und die Vergottung der Materie, des Reichtums und der Macht, erhebt sich seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts ein doppelter Protest. Im Namen des christlichen Prinzips werfen prophetische Gestalten wie Carlyle, Disraeli, Lamennais, Ruskin und nicht zuletzt Tolstoi, der grösste unter ihnen, sich der kapitalistischen Dämonie entgegen. Im Namen der menschlichen Seele fordern sie soziale Gerechtigkeit. Es werden zwar die herrschenden Ausbeuter und Unterdrücker von diesen Stimmen aufgeschreckt, in der Regel jedoch verklingt ihr Protest scheinbar wirkungslos. Umsonst appellieren sie an eine Gesellschaft, in der der Sturm der Begierden jedes Gemeinschaftsund Gerechtigkeitsgefühl übertönt. Dabei werden ihre Angriffe durch den Umstand geschwächt, dass sie sich der Industrialisierung entgegenstemmen in einer Epoche, die noch stark unter dem Warenmangel leidet und in der deshalb die Steigerung der Produktivität als die wichtigste Aufgabe der Wissenschaft und der Technik erscheint. Einzig von der Rückkehr zu überlebten patriarchalischen Gesellschaftsund Lebensformen erwarten jene religiösen Sozialisten des 19. Jahrhunderts das Heil. Der sozialromantische Charakter ihrer Ideen und Vorschläge wird von der neuen herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, gebraucht, um ihre von sittlicher Empörung beseelte Kritik zu diskreditieren.Ga naar voetnoot1) | |
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Ungleich wirkungsvoller verläuft während dieses ganzen Jahrhunderts der Protest des weltlichen Sozialismus, der zwar die kapitalistische Ausbeutung scharf bekämpft, jedoch die Industrialisierung der Produktion als ein Mittel der Befreiung der Menschen von harter Fron und stofflicher Not begrüsst. In seiner ersten Periode, der des Utopismus, zeigt er in St. Simon und Fourier, vor allem jedoch in Robert Owen, seinen konstruktiven Geist. In diesem letzten besonders tritt auch der hohe sittliche Gedanke einer auf das Gemeingefühl gegründeten Gesellschaft ans Licht. Als auch der utopische Sozialismus sich machtlos erweist, die soziale Frage zu lösen, tritt der materialistisch gerichtete ‘wissenschaftliche’ Sozialismus auf den Plan. Auch sein Protest wird beseelt von sittlicher Entrüstung. In der, von prophetischer Inspiration getragenen, Anklage gegen den Kapitalismus im ‘Kommunistischen Manifest’ denunziert Marx jenes System, das die höchsten geistigen Werte den materiellen gleich macht, alles Ehrwürdige und Heilige in käufliche Ware verwandelt, mit einer kaum jemals wieder erreichten und nie übertroffenen leidenschaftlichen Wucht. In der Entwicklung des Sozialismus kommen dem Marxismus ausserordentliche Verdienste zu. Indem er dem Kampf der Arbeiterklasse gegen ihre Ausbeuter neue grosse und herrliche Ziele setzt, wird er zum Lenker gewaltiger Massen ungeformter Vitalenergie. Indem er die Verwurzelung der Gruppen-Ethik mit der wirtschaftlichen Grundstruktur der Gesellschaft aufdeckt und deren ganze Bedeutung herausarbeitet, fügt er ein neues, wichtiges Glied in die Kette der Kausalzusammenhänge ein. - Es entspringt jedoch die Auflehnung des marxistischen Sozialismus gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht aus absolutem Antagonismus, nicht aus einem Antagonismus, der sich auf alle Lebenssphären erstreckt. Der Marxismus wurzelt ja in demselben geistigen Boden wie die bürgerlich-kapitalistische Welt, im Boden der materialistisch-mechanischen Weltanschauung. Er anerkennt ja selber die Priorität der materiell-technischen Verhältnisse, er ist selber überzeugt von der Vorherrschaft selbstischer Triebe im Menschen. Ja, er betrachtet die ganze Menschenwelt als ein hauptsächlich von diesen Trieben geschaffenes Gebäude. Dazu ist der Marxismus vollkommen naturalistisch gerichtet. Jede Anerkennung der selbständigen Wirksamkeit des Geistes, jede Lehre, die im Geiste die letzte, bestimmende Kraft sieht (selbstverständlich keine uneingeschränkte Kraft, sondern eine, die ihrerseits von materiellen Verhältnissen begrenzt und an materiellen Bedingungen gebunden ist) in der Weltgeschichte, jede Auffassung, die vor dem Wehen des Geistes sich beugt als vor einem in seinen letzten Gründen Unerklärten, scheint dem marxistischen Sozialismus entweder Dummheit und Aberglauben zu sein, oder ein Werk der Arglist und der Berechnung, hinter dem er Ausbeutungsgelüste und Herrschsucht wittert. | |
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II. Der Umschwung im Geistesleben.Wie wir schon sagten, ist es kaum je möglich, den Zeitpunkt genau zu bestimmen, in dem ein Umschwung auf einem bestimmten Kulturgebiet oder auf mehreren eintritt. Auch wenn ein solcher Umschwung von der Entdeckung neuer Tatsachen oder der Aufstellung neuer Theorien ausgeht, dauert es immer noch eine Weile, bis diese Tatsachen genügend geprüft sind und diese Theorien sich völlig durchgesetzt haben. Mit dem grossen Umschwung, der sich auf dem Gebiet der Naturwissenschaften vollzieht, verhält es sich nicht anders: man kann seinen Anfang nicht genau bestimmen. Vielleicht liesse sich noch am besten das Jahr 1895 als dieser Anfang bezeichnen. In jenem Jahr bekam die Auffassung, es sei das Getriebe der Natur in ihren Grundzügen bekannt, was zu tun übrig bleibe, sei grösstenteils Detailarbeit, den ersten gewaltigen Stoss. Es wurden in jenem Jahre die Röntgenstrahlen entdeckt: ihre Eigenschaft, durch die Körpergewebe hindurch zu dringen und die Knochen sichtbar zu machen, erregte ungeheures Aufsehen weit über die Grenzen der wissenschaftlichen Welt hinaus und ward zum Ausgangspunkt neuer, fruchtbarer Forschungen. Drei Jahre später entdeckte das Ehepaar Curie das Radium, jenes Element, welches bestimmt war, gewisse Auffassungen von dem Wesen der Elemente, welche in der Chemie fast als Dogmen galten, über den Haufen zu werfen. Vollends unhaltbar wurden diese Auffassungen, als Ramfay und Toddy 1903 das Helium entdeckten, jenes gasförmige Element, welches, wie der Spektroskop anzeigte, auch in der Atmosphäre unserer Sonne vorkommt. Aus der Untersuchung ging hervor, dass das Radium, durch das Mittelglied der Radium-Emanation, das Helium erzeugte. Es zeigte sich, dass der Glaube an die Unveränderlichkeit der Elemente auf Irrtum beruht hatte. Durch den Zerfall der Radium-Atome wurden ungeheure Mengen Energie frei, die das Phänomen der Strahlung verursachten. Die neue Orientierung in der Chemie beeinflusste die eigentliche physikalische Wissenschaft aufs tiefste. Es zeigte sich, dass die ‘Atome’, d.h. die winzigen Teilchen Materie, von denen man bisher angenommen hatte, dass sie nicht weiter geteilt werden könnten, in Wirklichkeit aus noch viel kleineren Einheiten nichtmaterieller Natur, und zwar aus Teilchen negativ geladener Elektrizität bestanden. Diese winzigen Teilchen elektrischer Energie führen im Atom einen nie endigenden Wirbeltanz aus, ähnlich wie die Planeten im Sonnensystem. Es erschloss sich das Bild einer strengen Gesetzmässigkeit im unendlich Kleinen wie im unendlich Grossen, das den Menschenkopf, der sie erkannte, mit Ehrfurcht und Bewunderung erfüllte. ‘Die Elektronen-Theorie bedeutet den Anfang einer neuen Aera in der physikalischen Wissenschaft, die den, welcher sich in sie vertieft, schwind- | |
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lig macht. Auffassungen, die man vor kurzer Zeit noch als phantastischer Unsinn verschrieen hatte, wurden durch die Träger der berühmtesten Namen, wie Einstein, Lorentz u.a. vorgetragen und veranlassten eine ernsthafte Diskussion.’ Die wissenschaftliche Hypothese, dass die Materie aus Elektrizität aufgebaut fei, d.h. dass sie nichts anderes als eine Form von Energie sei, führt zu der intuitiven Anschauung alter Zeiten zurück. Man hat ausgerechnet, dass Elektrizität in Bewegung sich genau so verhalten muss, als bestände sie aus Masse. Und was lesen wir in den alten Schriften der Alchemisten? ‘Die Kraft wird Materie (Involution) und die Materie wird Kraft (Evolution), dank der Bewegung. Dieser Zyklus geht hervor aus der Einheit und geht wieder darin auf, denn er bewegt sich in ihr.’Ga naar voetnoot1) ‘Die wichtigste Aufgabe der physikalischen Wissenschaft in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren,’ erklärte der holländische Forscher Fokker in der pro 1928 gehaltenen Antrittsrede, womit er die Professur für höhere Mathematik an der Amsterdamer Universität übernahm, ‘ist die Dematerialisation der Materie.’ In noch höherem Masse als durch die Entdeckung der X-Strahlen und die Elektronen-Theorie wurde das Gebäude der alten mechanisch-materialistischen Weltlehre durch die Relativitätstheorie Einsteins, welche die Allgemeingiltigkeit unseres Zeit- und Raumbegriffes leugnet, erschüttert. Kategorien, die durch Jahrhunderte das beharrliche Gerüste des menschlichen Denkens gebildet haben, werden heute von den Leuchten der physikalisch-mathematischen Wissenschaften für Täuschung und Irrtum erklärt. Das Fundament, auf dem der ganze Bau der Erklärung der ‘materiellen’ Welt sich erhob, geriet ins Wanken. Die Konsequenzen dieser Theorien, deren Richtigkeit bekanntlich teilweise schon experimentell nachgewiesen wurde, für die Weltanschauung kommender Geschlechter dürften ungeheuer sein. Der englische Chemiker Haldane kommt - in einem anregenden und geistreichen kleinen Essay, das die Aussichten der Naturwissenschaft behandelt - auch auf die geistige Umwälzung zu sprechen, die Einsteins Relativitäts- und Plancks Quantentheorie zweifellos einleiten werden. Haldane hält dafür, dass die Auffassung, es sei unser Weltall mit seinem Raum- und Zeitsystem nur eine Möglichkeit unter unendlich vielen, für die Mehrheit der Naturwissenschaftler wahrscheinlich der Uebergang zu einer äussersten Form des Kantianischen Idealismus bedeuten dürfte. Dieser Idealismus wird, wie er glaubt, mehr und mehr zur grundlegenden Arbeitshypothese nicht nur der Fachwissenschaftler, sondern aller Gebildeten werden. Einstein hat gezeigt, dass die Erfahrung nicht durch Raum- und Zeitbegriffe interpretiert werden kann. Dies war zwar schon früher be- | |
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kannt, jedoch solange nicht gezeigt wurde, dass Raum und Zeit nicht imstande sind, die Tatsachen der Bewegung zu erklären, konnten die Physiker diese Begriffe dennoch für praktische Zwecke anwenden. Das Auftreten Einsteins in der Wissenschaft hat dies ein für allemal unmöglich gemacht. Welche gründliche Umwälzung in wenigen Jahrzehnten! Es ist noch nicht lange her, dass eine mechanistisch-materialistisch gerichtete Wissenschaft annahm, es würde sich zuletzt als möglich erweisen, alles Geschehen letzten Endes auf quantitative Bewegungen kleinster Teilchen zurückzuführen. Und sogar solche Forscher, die sich der mechanischen Auffassung, insoweit es die organische Natur betrifft, voller Ueberzeugung entgegen warfen, wie z. B. Hans Driesch, nahmen noch an, dass die mechanische Kausalität im ungeheuren Reich des Unorganischen unbeschränkt herrsche. Inmitten dieses Reiches erschien ihnen das Leben als eine kleine Insel, eine willkürliche Unterbrechung, ein Einbruch in eine gewaltige Welt strengmechanischer Prozesse und Gesetze. Heute neigt die Wissenschaft ganz anderen Auffassungen zu. So hat z. B. der Physiker Born, einer der führenden Geister in der Quanten-Dynamik, die Ansicht ausgesprochen, es seien die fundamentalen Atomprozesse wahrscheinlich nicht umkehrbar, d.h. nicht mechanisch. Falls seine Ansicht sich als richtig erweisen würde, müssten die Gesetze der Gravitation und andere mechanische Gesetze als die Grenzfälle einer ganzen Reihe nicht-umkehrbarer Prozesse betrachtet werden, die die wichtigsten Aeusserungen der fundamentalen Ordnung in der Natur sind.Ga naar voetnoot1) An Stelle einer durchaus mechanischen ist eine dynamische Auffassung der Natur getreten. Nach ihrer jahrhundertelangen fortgesetzten Entzauberung durch die Wissenschaft, d.h. das Streben, alle Erscheinungen auf mechanische Gesetzlichkeit und auf den Zusall zurückzuführen, erleben wir den Anfang einer wissenschaftlichen Einstellung, die alles Seiende wieder lebendig macht und so der Welt den Zauber zurückgibt, in dem sie bis zum rationalistisch-mechanistischen Zeitalter prangte. Je tiefer die Einsicht in diese Welt eindringt, umsomehr wachsen das Staunen, die Ehrfurcht und die Bewunderung, welche sie den Forschenden einflösst. Ehrfurcht und Bewunderung für die herrliche, geheimnisvolle Eigengesetzlichkeit des Lebens überwältigen vor allem jeden, der die wichtigsten Errungenschaften der modernen Biologie kennen lernt. Auch auf diesem Gebiete hat innerhalb weniger Jahrzehnte ein Umschwung stattgefunden, dessen Wirkungen in den Fragen der Weltanschauung erst anfangen, sich bemerkbar zu machen. Zwar hat der Entwicklungsgedanke im modernen Denken eine tiefe Furche gezo- | |
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gen, von der kaum anzunehmen ist, sie werde jemals wieder ganz verschüttet werden. Ganz anders jedoch steht es mit der spezifischen Form, die dieser Gedanke in der darwinistischen Entwicklungslehre annahm. Die Behauptung, es gebe zwischen den Arten in Wirklichkeit nur quantitative Differenzen, da alle qualitativen Unterschiede auf die natürliche Auslese und den Kampf ums Dasein zurückzuführen seien, hat sich schon vor der Jahrhundertwende als unhaltbar erwiesen. Die ‘Maschinentheorie’ des Lebens sindet fast keine Anhänger mehr. Unter den Namen der Forscher, die mit ihrer Widerlegung verbunden bleibt, steht an erster Stelle der von Hans Driesch, des Verfassers der ‘Philosophie des Organischen’. Sein grosses Verdienst ist, die Unhaltbarkeit der ‘Maschinentheorie’ des Lebens, die schon von andern Forschern erkannt war, in unwiderlegbaren Versuchen nachgewiesen zu haben. Mit ihm fängt die entscheidende Wendung in der Biologie an. ‘Die mechanische Lehre,’ urteilt Prof. Dr. H. Burger in der ausgezeichneten Rede, die er als Rektor Magnificus der Amsterdamer Universität 1929 über ‘das teleologische Denken in der medizinischen Wissenschaft’ hielt, ‘die mechanische Lehre hat es nicht vermocht, ihren Sieg zu behaupten. Die Seele hat verweigert, nur Materie zu sein.’ Die Entwicklung in der Biologie hat über die Auffassung hinausgeführt, als beftehe die Einheit eines lebenden Wesens nur in der Summe seiner Teile und als wäre es infolgedessen möglich, im Bereich dieses Geschehens das Kommende zu berechnen und vorauszusagen. Heute erkennt man schon allgemein, dass der Organismus mehr ist als die Summe seiner Zellen - dass er nicht aus diesen Zellen besteht, sondern sie verwendet. Er kann sie jedoch nur verwenden, weil er etwas anderes und mehr als ihre Summe ist. Organismen erbauen sich selber aus einer einzigen Zelle im Sinne einer unbegreiflichen Gesetzmässigkeit. ‘Tiere und Pflanzen,’ schreibt E. von Baer, ‘entstehen nach Art einer Melodie, in der zwischen dem ersten und dem letzten Ton ein wechselseitiger Zusammenhang herrscht. Die Melodie des Lebens ist vollkommen fertig, noch ehe in der befruchteten Eizelle der Teilungsprozess anfängt. Dass zwei Faktoren auch in der Zeit einander wechselseitig beeinflussen können, erscheint dem Verstande als eine innerliche Gegensätzlichkeit.’ Eine Zeitlang war der Begriff der Zielstrebigkeit strengstens für jede dem Leben nachgehende Wissenschaft verpönt. ‘Die mechanistische Naturbetrachtung,’ schreibt Prof. Burger, ‘sah auf diesen Begriff herab, wie auf eine kindliche Aeusserung gänzlich veralteter Bauern-Philosophie. Alles Geschehen sollte ausschliesslich durch die strengen Gesetze des Kausaldeterminismus erklärt werden.’ Heute wird der Begriff der Zielstrebigkeit nicht nur in der biologischen, sondern auch in der medizinischen Wissenschaft wieder | |
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anerkannt. ‘Jeder Organismus sowie jedes Organ ist auf ein Ziel gerichtet und erfüllt von einem Streben, dessen Wesen für uns unerklärlich bleibt...’ ‘Ein übersinnlicher Faktor,’ erklärte der holländische Gelehrte zum Schluss seiner Rede noch, ‘ist unbestreitbar im Leben anwesend. Der Drang nach Beharrlichkeit sowie das evolutive Streben nach Aenderung sind metaphysische Kräfte, die nicht mechanisch erklärt werden können. Alle Regulations- und Restitutionsprozesse des Organismus, ebenso die tierischen Instinkte und die menschliche Furcht vor dem Tode, tragen diesen felben teleologischen Charakter... Alle Organe, alle Zellen arbeiten in einem harmonischen, d.h. zweckmässigen Verbande, im Dienst des Ganzen. In der ganzen organischen Natur ist eine harmonische Teleologie, eine gegenseitige Hilfe unleugbar, die viel eingreifender ist als der Kampf ums Dasein. Tiere und Pflanzen sind tausendfaltig aufeinander angewiesen: dienen einander als Schutz, als Nahrung, als unentbehrliche Hilfe bei der Fortpflanzung. Dabei ist das Interesse der Art die Hauptsache und der Wert der Individuen dagegen unbedeutend.’ Wie im Grossen, so ist es auch im Kleinen. Die heilende Kraft der Natur ist eine Haupteigenschaft eines jeden Organismus. Jedes Gewebe, jede Zelle, steht im Dienst dieses Dranges, der, wenn er sich bei einer Schädigung auch an bestimmten Stellen zeigt, doch deutlich auf den Bestand des Organismus als Ganzes gerichtet ist.
In denselben Geleisen, wie wir es für die Biologie feststellen, verläuft die Entwicklung der Seelenkunde. Auch hier wird die mechanistische Einstellung schrittweise von einer Auffassung überwunden, die den inneren Triebkräften und der Eigengesetzlichkeit des Psychischen Rechnung trägt. Ebenso macht die analysierende Einstellung immer mehr einer Betrachtungsweise Platz, die sich bemüht, vor allem zum Begriff des Ganzen durchzudringen. Hans Henning, dessen kleines Buch ‘Psychologie der Gegenwart’ reiches Wissen und geklärte Einsicht auf verhältnismässig wenigen Seiten zusammenfasst, fängt seine Umschau an mit einigen Bemerkungen über die Wirkungen, welche die Mechanik als das methodische Vorbild der Seelenkunde anfänglich auf diese letzte ausüben musste. ‘Solange sie im Schatten des Aufklärungszeitalters stand und aufs nachhaltigste von der englischen Assoziationsphilosophie, jener weitgreifenden Mechanik des Geistes, befruchtet wurde, bot sie dem Entwicklungsgedanken keinen Raum.’Ga naar voetnoot1) Sogar Herder, dessen Leistungen ihn zum ersten unter den Pionieren des Entwicklungsgedankens in der Kulturgeschichte gemacht haben, bekannte sich in folgenden Worten grundsätzlich zur mechanischen Auffassung auf psychi- | |
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schem Gebiete: ‘Die Psychologie, was ist sie anders als eine reine Physik der Seele?’ Die von James Mill und seinem Sohn John Stuart Mill in klassischer Form erneuerte Lehre der Assoziationspsychologie wurde dann von Al. Bain in zwei berühmten Monographien, 1855 und 1859, weitergeführt, womit auf Jahrzehnte hinaus die Vorherrschaft mechanischer über entwicklungsgeschichtliche Grundgedanken in der Seelenkunde entschieden war.Ga naar voetnoot1) Es war jedoch schon in den dreissiger Jahren das Fundament einer experimentellen Psychologie gelegt. Die sinnnesphysiologische Untersuchung wurde seitdem von einer ganzen Reihe von Forschern mit unermüdlicher Ausdauer betrieben. Es entsteht die Psychophysik, welche die Methoden der Physik und der Physiologie ohne Abänderung auf seelische Probleme anwendet. ‘Ansatzpunkt und Hebel der Forschung sind die äusseren Reize, welche auf den Menschen einwirken.’Ga naar voetnoot2) Es wird versucht, die Beziehungen der Empfindung zu diesen äusseren Reizen experimentell festzustellen. Wie bei einer Einstellung, die wesentlich von den Wirkungen der Aussenwelt auf das psychische Leben ausgeht und dessen Autonomie leugnet, nicht anders zu erwarten ist, werden von dem ganzen unermesslichen Gebiet des Seelischen fast nur die Sinnesempsindungen zum Gegenstand der Untersuchung gemacht, ‘das eigentliche Psychologische dagegen, wie das Auffassen und Beachten, Verarbeiten und Verstehen, Gliederung und Gefühlsdurchtränkung erscheint gar nicht als Problem.’ Dies ändert sich erst langsam nach 1859, dem Jahr, in dem der Entwicklungsgedanke sich auf verschiedenen Gebieten Bahn bricht. Zuerst kommt es zu einer Blüte der Psychophysik: ‘In der Form des Weber-Fechnerschen Gesetzes, der Messung von Reaktionszeiten, Zeit- und Unterschiedswellen scheint das alte mechanistische Ideal doch endlich verwirklicht und ein exaktes System zahlenmässiger Naturgesetze der Seele erreicht.’Ga naar voetnoot3) Nach und nach steigt die Forschung immer mehr ins Einzelne herab: es wird das Gesamtgebiet der Psychologie in zahlreiche Spezialgebiete aufgelöst. Neben der Erforschung der Sinnesgebiete entsteht die der Vorstellungen, Affekte, Gefühle, Gedächtnis-, Willens- und Denkvorgänge. Das Psychische wird in seine Teile zerlegt, nicht anders als man eine Maschine demontiert. ‘Jedoch solange man im Wahn befangen war, dass Empfindungen, Gefühle und Gedanken sich genau addieren oder zahlenmässig vergleichen liessen, schritt man in der Erkenntnis des Psychischen nicht wesentlich weiter. Die eigentlichen Seelenprobleme konnten durch die Massmethodik nur von aussen berührt werden.’ Die Psychologie behält den Charakter einer Naturwissenschaft: ihr allgemeines Ziel bleibt, das Psychische auf Materielles zurückzuführen. | |
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Jedoch auch diesmal führt, wie schon so oft, die weitere Entwicklung der Wissenschaft zur Selbstkorrektur der Irrtümer und Fehler, denen sie auf einer niedrigen Stufe verfallen war. Das immer seiner durchgeführte Experiment erschliesst die Eigenart der persönlichen, inner-seelischen Faktoren. Es zeigt sich, dass die von der experimentellen Psychophysik gefundenen Zahlenwerte in bezug auf das Verhältnis von Reiz und Empfindung bei weitem nicht so zuverlässig sind als man annahm. Das Dogma von der AdäquatheitGa naar voetnoot1) von Reiz und Empfindung kommt zu Fall. Es ist unvereinbar mit der Erkenntnis, dass sich mit steigender Intensität auch die Qualität eines inneren Erlebnisses verändert und dass der Eigenart der Untersuchungsperson immer Rechnung zu tragen ist. In seinen ‘Grundzügen der Lehre vom Lichtsinn’, die anno 1925 erschienen, zeigt Hering, dass wir die Farben häufig gar nicht in der Art sehen, wie es den physikalischen und physiologischen Gesetzen entsprechen würde, sondern durch die ‘Brille unserer Gedächtnisfarben’ hindurch. Ehemalige Erfahrungen, Eindrücke des Vorlebens erweisen sich, als im Psychischen hinterlassene Spuren, stark genug, um die vom Reiz ausgelöste Erregung umzumodeln.Ga naar voetnoot2) Diese und andere Erfahrungen ebneten den Weg für die Einsicht in die Wandelbarkeit des inneren Menschen. Diese Einsicht, die Historisierung des Seelischen, gehört zu den wertvollen Errungenschaften der neuen Psychologie. Die Seele erscheint als eingebettet in den Strom des Geschehens, die Bergsonsche ‘Durée’. Der Wirkungswert eines jeden Reizes ist verschieden je nach dem Moment der seelischen Entwicklung, in dem er wirkt. Es entsteht das Seelische nicht aus Reizwirkungen, sondern das psychophysische System passt sein autonomes Bewusstsein nur den Reizen, d.h. den wechselnden Umweltsbedingungen, philogenetisch wie ontogenetisch, an.Ga naar voetnoot3) - Die Wirkung der gesamten Entwicklung in der Seelenkunde war, dass der Psychophysik allmählich der Boden entzogen wurde. Das allzu seste Band, womit die Seelenkunde mit der Naturwissenschaft verknüpft worden war, wurde um ein Beträchtliches gelöst. Nach langen Jahren zeigte sich endlich wieder ein Streben, welches auf einen innigen Zusammenhang mit der Philosophie drang und diesen als den allein natürlichen und fruchtbaren erklärte. Und wenn diese Wendung auch nicht auf der ganzen Linie durchgesetzt wurde, so gehört doch jedenfalls die Einsicht, dass das Psychische ein autonomes Eigengebiet mit besonderen Gesetzmässigkeiten bildet, heute züm allgemeinen Bestand der Psychologie. Es werden Bewusstseinserscheinungen nicht länger als Summen psychischer Komponenten aufgefasst, sondern es wird erkannt, dass seelische Eigenschaften konstitutiver Art sind. | |
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So ist die Seelenkunde zu denselben allgemeinen Ergebnissen gekommen wie die Biologie, vor allem zu dem Ergebnis, dass das Erlebnisganze nicht identisch mit der Summe seiner elementaren Teile sei: ‘Es ist im gewissen Sinne mehr, im gewissen Sinne anders.’Ga naar voetnoot1) Auf der Grundlage dieser Erkenntnis der Eigenartigkeit und Eigengesetzlichkeit des Seelischen wurde dann seine unendliche Mannigfaltigkeit immer tiefer durchforscht. Es entstanden Arbeiten über die Psychologie der Religion, der Völker, des Rechts, der Sprache, der Kunst, der Gesellschaft und der Masse. Die Eigenwelt des Kindes wurde erkannt und das Seelenleben des Primitiven zum Gegenstand gründlicher Untersuchung gemacht; die Tierpsychologie, vom Experiment unterstützt, förderte neues, wichtiges Material zutage. Auch auf dem Gebiete des Abnormal-Seelischen vollzog sich eine wichtige Erweiterung: das Pathologische und das Gefunde werden heute als Wandlungen einer einzigen, bis jetzt mit Unrecht weit auseinander gerissenen Grundgesetzlichkeit anerkannt. Neben allen diesen Spezialgebieten der Forschung entstand noch die, unmittelbar auf die Praxis zugespitzte, Psychotechnik. Inmitten der psychologischen Bestrebungen der Gegenwart nehmen die psychoanalytischen Schulen einen zu wichtigen Platz ein, als dass wir sie stillschweigend übergehen könnten. Die neuen psychologischen Theorien, welche diese Schulen aufstellen, haben tiefgehende weltanschauliche Konsequenzen. An ihrer Spitze steht die hervorragende Gestalt Siegmund Freuds, des grossen Entzauberers, den man nicht mit Unrecht den Karl Marx der Psychologie unserer Zeit genannt hat. Der Psychoanalytiker im Sinne Freuds wähnt ‘das Labyrinth der Seele durchwandern zu können am Ariadnefaden der Sexualität’ (Henning). Freuds Lehre ist ein kühner Versuch, die Analyse des Bewusstseinsinhalts von einem einzigen Prinzip aus durchzuführen. Man kann ihre Abstammung von mechanistischem Denken schon ableiten aus der Art und Weise, in der in ihr die Assoziationskette solange vollkommen mechanisch abgerollt wird, bis man schliesslich auf etwas Sexuelles stösst. Die infantile Sexualität wird zum Zentralgedanken, auf dem Freud sein ganzes System aufbaut. Von diesem Gedanken ausgehend, sieht seine Psychoanalyse überall und in allem ‘vom leisesten sprachlichen Versprechen bis zu Totem, Tabu und Gottheiten, vom Alltag bis zu den höchsten Kunstwerken’ nur symbolisierte Sexualität. So wie der Marxismus glaubte, im ökonomischen Materialismus eine Generalformel der Welt entdeckt zu haben, so stellt diese Psychoanalyse eine solche Formel in der infantilen Sexualität auf. Jedoch ungeachtet aller Einseitigkeit, Uebertreibung und Dogmatik hat Freud ausserordentliche Verdienste. Er trat auf als der grosse Entschleierer, der die gesellschaftliche Verlogenheit auf einem äusserst wichtigen Lebensgebiet aufdeckte und die dunklen Gewalten der | |
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menschlichen Sexualität ins Licht stellte. Er machte deutlich, wie das Unbewusste nicht passiv Eindrücke aufnimmt, sondern selbst aktiv ist, wie in diesem verborgenen Reiche beständig eine intensive Arbeit vor sich geht. Ihm ist es auch zu verdanken, wenn die Forschung an psychisch erkrankten Personen nicht länger nach naturwissenschaftlichem Vorbild generalisierend betrieben wird, sondern in ein individualisierendes Verfahren überging. Es interessiert Freud der kranke Mensch mit seinem individuellen Schicksal. Mit ihm bricht sich die Individualpsychologie im Verstehen und in der Behandlung von seelisch-verwundeten Menschen Bahn (Henning). Der Psychoanalyse ist es gelungen, die unbewussten Bestände im Menschen ans Licht zu ziehen: sie hat es durchgesetzt, dass diese Bestände heute als zum Gesamtmenschlichen gehörig betrachtet werden. Da fand es sich, dass ein wichtiges Element in den Inhalten des Unbewussten das Schuldgefühl sei. Und wenn es leider wahr ist, dass die übergrosse Mehrheit der Psychoanalytiker mit diesem Schuldgefühl in ethischer Beziehung nichts anzufangen weiss, weil sie das menschliche Leben ausschliesslich naturwissenschaftlich, in seinen materiell-kausalen Beziehungen betrachten, so gebührt Freud jedenfalls das grosse Verdienst, in einer Welt, die überhaupt nichts von Sünde- und Schuldgefühl wissen wollte, deren Anwesenheit und gewaltige Bedeutung für den Menschen als Leib-Seele-Einheit experimentell nachgewiesen zu haben. Auf experimentellem Wege ist die Psychoanalyse zu ähnlichen Ergebnissen in bezug auf den Menschen gelangt, wie die Philosophie auf dem Wege der Betrachtung. An Stelle der substanziellen führte sie die Feld-Auffassung ein. Der Mensch existiert in einem ‘Felde’: er kann nur verstanden werden im Zusammenhang mit seiner Umgebung, mit Eltern und Geschwistern; er ist ein Aktions- und Reaktionszentrum in einer mit ihm wesenhaft verknüpften Wirkungswelt. Diese Welt gehört zu ihm, sie bildet mit ihm eine ‘Ganzheit’, d.h. einen sinnvollen Zusammenhang.Ga naar voetnoot1) ‘Kein einziger Gedanke von Freud ist reines Gold, die Wahrheit ist noch vor Schlacke undeutlich. Wenn dereinst alles umgeschmolzen wird, woran Freud selbst so dogmatisch hängt, dann bleibt nicht ein Gedanke von heute bestehen, und doch hat eben Freud das Ganze ins Leben gerufen. Sein Name bleibt.’ In diesen paar scharf geprägten Sätzen, in denen H. Henning sein Urteil über Freuds Lebensarbeit zusammenfasst, dürfte mehr Wahrheit enthalten sein als in manchen dickleibigen Werken. Wenden wir nach diesen kurzen Bemerkungen über die Psychoanalyse unsere Aufmerksamkeit noch einmal der eigentlichen Psychologie zu. Seit dem Anfang des Jahrhunderts ist diese in einer neuen Wandlung begriffen. Immer deutlicher zeigt sich ihr die Unmöglichkeit, sich mit einer Analyse von Elementen und Bestandteilen zu begnügen. Man wendet sich immer mehr der Erforschung des Charak- | |
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ters und der Zusammenhänge zwischen Körper und Seele zu. Wenn diese Forschungen bis jetzt noch wenig positive Resultate erbracht haben, so sind dennoch wertvolle Ansatzpunkte für das bessere Verständnis der biologischen und psychologischen Fragen der Persönlichkeit gewonnen. Besonders ist es dem Charakterologen Klages gelungen, zu zeigen, wie unzulänglich jede Problemstellung ist, die das Leib-Seelische nur als Zusammenhang von Körperbau und Charakter, also rein statisch erfasst. Nur auf Grund einer dynamischen Problemstellung kann man den Wesenheiten des lebendigen Menschen gerecht werden, denn ‘der lebende Leib ist weit mehr ein Bewegungssystem als eine körperliche Raumgestalt’ (Heinemann). Während die Charakterologie bis heute vielfach in der Problematik stecken blieb, hat ein anderer neuer Zweig der Psychologie sich mit Beibehaltung der wissenschaftlich-experimentellen Methode schon in hohem Masse durchgesetzt. Es ist dies die sogenannte Ganzheit-Psychologie. Im Zusammenhang mit der biologischen Einstellung nimmt sie seit dem zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts rasch an Bedeutung zu. Wenn auch früher dasjenige im Psychischen, was man die ‘Gestalt’- und die ‘Struktur’-Qualitäten nennt, manchem Forscher nicht verborgen geblieben war,Ga naar voetnoot1) so kommt doch erst in den letzten Jahren der konstitutive Gedanke, d.h. der Gedanke, dass alle verschiedenen Teile einer Gestalt vom Ganzen aus bestimmt sind, immer mehr zu seinem Rechte. In Einklang mit der neuen dynamischen Weltanschauung wird die Gestalt nicht als eine seste, sondern als eine fliessende Mannigfaltigkeit aufgefasst. Der Gestaltbegriff wird dynamisiert. Gleichzeitig setzt sich auch hier die Feld-Auffassung durch, das heisst die Auffassung, es sei der Mensch nur im Zusammenhang mit seiner Umwelt zu begreifen. In der Gestaltslehre - man könnte sie auch die Lehre vom Menschen, als ein Gesamtprozess betrachtet, nennen - bekommt die Psychologie einen ausgeprägt genetischen Charakter. Auch sie betont, wenn auch weniger einseitig als die Psychoanalyse, die intuitive Natur des Menschen und die Instinktgrundlage, auf der alles höhere Leben von Gefühl und Verstand beruht. Ihre wesentlichste Leistung bis heute ist wohl die Aufdeckung des grossen Irrtums, in den die Psychologie verfallen war, als sie die einfache Empfindung als den Anfang des Bewusstseins bei Tier, Kind und erwachsenem Menschen betrachtete. Heute wissen wir, dass Empfindungen nicht Anfang-, sondern vielmehr Endprodukte einer langwierigen Entwicklung bilden. Als das Primäre gilt heute für die Psychologie ‘ein verhältnismässig ungegliederter, zusammengeballter Komplex, der von starken Gefühlen getränkt ist und in den sich primitive Strebungen ergiessen’.Ga naar voetnoot2) | |
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Der älteren Psychologie erschien die Auslöfung einer Empfindung durch einen Reiz als ‘eine sinnlose Koppelung stückhaften Geschehens’Ga naar voetnoot1). Nach der neuen Auffassung, die sowohl die ‘Ganzheit’ als den genetisch-dynamischen Charakter des Menschen berücksichtigt, bedeutet jede Reaktion auf einen Reiz eine Veränderung des ganzen Menschen, eine, die sich auf sein ganzes Verhalten, sein Fühlen, Wollen, Streben usw. erstreckt. Es kann irgend ein Reiz im Menschen nur dasjenige wirken, was der Anlage, der Tendenz nach schon in ihm steckte. So räumt die Gestaltlehre gründlich auf mit dem Dogma der Konstanzannahme, die das Fundament der alten Seelenkunde bildete. Auch sie führt uns das Bild des Menschen vor Augen, wie er sich mit der ihn umgebenden Welt und den ihn umgebenden Menschen in einem ‘Felde’ zusammensindet. Man dürfte erwarten, dass die Einsicht, der isolierte Mensch existiere ebenso wenig in psychologischer als in sozialer Beziehung, - es existiert der Einzelne ausschliesslich im Zusammenhang mit anderen und zwar mit grösseren Einheiten, mit strukturierten Gruppen, - die Wirkung haben würde, die Forschung auf den Weg des Studiums der Gesetzmässigkeiten dieses kollektiven Menschen zu drängen. Leider aber ist bis heute dieses Studium in Westeuropa im Ganzen sehr zurückgeblieben, wenn auch vor allem MacDougall in seinem Werke ‘The Group Mind’Ga naar voetnoot2) manche wertvolle Auffchlüsse gegeben hat. Man hat Grund zu erwarten, dass dieser Zweig der Psychologie vorläusig besonders in Russland gepflegt werden und dass diese Pflege zu reichen Ergebnissen führen wird. Aber die Umwelt des Menschen beschränkt sich nicht auf seinen Mitmenschen: nicht nur mit diesen ist er in einem Seins-Zusammenhang, der zugleich ein Sinn-Zusammenhang ist, verbunden. Auch Tiere und Pflanzen gehören zu dem ‘Felde’, in dem er sich mit den lebenden Organismen, ja und auch mit Metallen und Gesteinen, mit Wasser und Wind, mit der Sonne und den Gestirnen zusammensindet. Nach allen Seiten ist er in Anderem und im Anderen eingeschlossen. Im Zusammenhang mit diesem ‘Anderen’ bildet die Menschheit ein ebenso wirkliches Ganzes, als der einzelne Mensch für sich eine Ganzheit bildet. Dies ‘Andere’ jedoch ist unbegrenzt und unendlich. ‘Nur der Mensch, der in Resonanz steht mit diesem Unbegrenzten, Unendlichen: mit dem All und mit Gott, kann die Menschen, die Menschenwelt und die Geschichte verstehen’ (Heinemann). Mit diesen letzten Betrachtungen sind wir faktisch vom Gebiet der Psychologie schon zu dem der Philosophie übergegangen. Auch in ihr ist es in den letzten Jahrzehnten zum Bruch mit der Vergangenheit gekommen. Dieser Bruch vollzog sich zuerst in der Form eines Sichaufbäumens des vitalen Menschen gegen die absolute Herrschaft des Verstandes. Die Welt des Unberechenbaren lehnt sich auf gegen die Welt | |
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der verstandesmässigen Berechnung, die der formlosen Kraft gegen das Geformte, gegen seine Prätention, die einzige Welt zu sein. Von verschiedenen Seiten her vollzieht sich im zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts der Angriff gegen die Herrschaft des Verstandes. In Feuerbach und im Materialismus überhaupt bricht die Materie ein, in Schopenhauer der Trieb, in Kierkegaard die christliche Seele. In derselben Zeit erhebt der von Marx geführte Aufstand des Proletariats gegen die bürgerliche Welt sein Haupt. Die mächtigste Persönlichkeit der letzten Jahrzehnte ist aber zweifellos Nietzsche. In ihm kündigt sich, nach Fritz Heinemanns glücklichem Ausdruck, in tausend Brechungen das Morgenrot des neuen Tages an. Auf Nietzsche folgt Bergson. Im Namen des Instinkts und der Intuition weist er die Anmassung des Intellekts zurück, der einzige Herr zu sein in den Gebieten des Lebens. In Freud kündigt die sexuelle Vitalität die auf ihre Verleugnung und Verhüllung zielenden Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft einen unerbittlichen Krieg an. Um seine Doktrin entbrennt leidenschaftlicher Kampf; von vielen wird er als Herold der Befreiung begrüsst. In allen diesen verschiedenen Erscheinungsweisen der ‘Lebensphilosophie’ erinnert der Mensch sich seines Charakters als Triebwesen, als ‘strömende Mannigfaltigkeit’: der lange zurückgedrängte Enthüllungstrieb bricht ein und wird oft bis ins Krankhafte gesteigert. Nicht nur in der Wissenschaft kommt es zum Einströmen von starken Vitalwerten, auch im Leben selbst vollzieht sich der Einbruch. Die anfänglich fast gestaltlose, fast nur durch gemeinsame negative Einstellung zur bürgerlichen Welt zusammengehaltene proletarische Masse dringt in diese Welt ein. Die Frau, der ihre politischjuridische Emanzipation nicht genügt, nicht genügen kann, macht sich auf, um ihre, viel tiefer als diese Emanzipation einschneidende, Befreiung als Triebwesen durchzusetzen. Die Jugend erhebt sich gegen das Alter und gegen die von ihm gesetzten Normen, gegen die rationalisierten Lebensformen und die bürgerlich-städtische Kultur: auch sie fordert die Freiheit, nach den Gesetzen ihrer eigenen Natur zu leben. All diejenigen Tendenzen, die man unter dem Namen der Lebensphilosophie zusammenfasst, sind wohl wesentlich der seelischen Not entsprungen, die die Technisierung und Rationalisierung der Gesellschaft über den Menschen gebracht haben. Auf die Zukunft gerichtete Naturen mit aussergewöhnlicher intuitiver Begabung wie Nietzsche und Bergson haben diese Not vorgefühlt, schon damals, als die Rationalisierung und Mechanisierung des Menschen und der Gesellschaft mehr noch als Tendenz der Wissenschaft denn als soziale Tatsache vorhanden waren. Ihre Angriffe richten sich gegen die drohende Auflösung des Menschen durch die Versachlichung des Lebens. Ihre Philosophie ist ein Protest gegen die Entseelung des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft. Zudem ist sie vor allem bei Nietzsche | |
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eine Auflehnung der menschlichen Vitalenergien gegen die Alleinherrschaft des Verstandes. In Nietzsche vollzieht diese Auflehnung sich mit beispielsloser Wucht im Namen aller Triebe und Gewalten, die sich als Wille zum Leben und Wille zur Macht im Menschen erheben. Der Mensch, nach seinem Sinne, nimmt die Welt durch die Triebe auf. Er pflegt diese, nach seinem eigenen Wort, als das Fundament alles Erkennens. Er stellt sich mit allen seinen Kräften auf ihre Resonanz ein. Von der Weisheit des Leibes erwartet Nietzsche, dass sie ihm das Verständnis der Welt eröffnen wird. Im Namen des von ihm vergötterten Leibes führt er den Angriff gegen den Geist. Auf dem Altar der Triebe opfert er alles: die Harmonie zwischen Leib und Geist, das abstrakte Denken und endlich auch die Idee der Humanität. Gegen jeden metaphysischen Gedanken bäumt er sich auf; jedes Jenseitige lehnt er bedingungslos ab: ‘Brüder, ich beschwöre euch, bleibt der Erde treu,’ wird sein Schlachtruf. Für Nietzsche bedeutet der Tod Gottes die Erlösung der inneren Menschenwelt von schrecklichen Gewissensqualen und furchtbaren Hemmungen. Nur durch die Emanzipation dieser Welt, durch die Befreiung des Triebwillens im Menschen, kann das schöpferische Prinzip im Menschen sich durchsetzen. Dieser schöpferische Mensch soll sich auf den Thron der Welt setzen, dorthin, wo seit endlosen Zeiten die drohende Gestalt des Gottes fass. Fortan soll Dionysos der Herr der Welt sein. In Nietzsche setzt sich der Wille zur Macht als absoluter Lebenswert. ‘Gut ist alles, was die Macht im Menschen erhöht.’ In der Lebenssteigerung überhaupt erblickt er die grosse Aufgabe der Geschichte; nach dem qualitativen Inhalt dieser Steigerung fragt er nicht. So erwacht in ihm das Ideal des Uebermenschen, des Menschen, in dem die Lebenskraft eine Steigerung erfährt weit über den Durchschnitt hinaus. Diesen Menschen, der bis heute nur hie und da, zufällig, sich auf Erden zeigte, gilt es, wissentlich zu züchten, in ihm kulminiert die Menschheit, die grosse Herde soll nur der Schemel sein, auf dem seine Füsse ruhen.Ga naar voetnoot1) In keiner zweiten Gestalt hat die Erhebung der Lebensgewalten gegen den Geist eine so furchtbare innerliche Spannung erzeugt wie in Nietzsche, und zugleich hat sie in keiner die Form einer so verführerischen Verlockung zur ‘Freiheit’ angenommen wie bei ihm. Nietzsche war vorzüglich eine dichterische und | |
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prophetische Natur. Der grosse philosophische Vorkämpfer der Lebensphilosophie jedoch ist Bergson. Nicht wie bei Nietzsche sindet sich bei ihm die Grundspaltung zwischen Trieb und Verstand. Nach Bergson stammen beide aus einer Urquelle, aus dem Instinkt. Diesen betrachtet er als die Grundsorm des Bewusstseins aller lebenden Geschöpfe: Pflanzen, Tiere und Menschen. Nicht die Triebe, sondern die Intuition setzt Bergson dem Verstand grundsätzlich entgegen. Die Tätigkeit dieses letzteren ist immer bezogen auf das Handeln, d.h. auf etwas fest Geronnenes, Diskontinuierliches, etwas Räumliches, woran gehandelt und das geändert werden soll. Die Intuition dagegen bezieht sich auf den fliessenden Strom des ungeteilten Lebens, dessen Kernwirklichkeit keine räumliche ist. Die Intuition braucht keine mühfame Analyse, um sich des Wesentlichen einer Erscheinung zu bemächtigen. Sie tut dies unmittelbar. Jedoch steht vor ihr der Weg zur Analyse immer offen, während umgekehrt von dieser letzten kein Pfad zum unmittelbaren Verstehen führt. Nur durch die Intuition erfasst der Mensch das Irrationale, wozu der Verstand hilflos Eingang sucht. Die Philosophie Bergsons richtet ihre Spitze gegen alle psychologischen Doktrinen, die, wie die verschiedenen Nuancierungen der Assoziationspsychologie, das Seelische mechanisieren. Seine Grundauffassung ist die Ueberzeugung, es sei das Psychische wesentlich anders als alles, was unter den Kategorien der Zeit und des Raumes fällt. Das Wesen des Psychischen betrachtet er als völlig qualitativ, es hebt sich ab gegen das Räumlich-Zeitliche und hat keinerlei Verwandtschaft mit der Zahl. Insoweit das Seelenleben wirklich ist, - nicht mechanisiert, nicht auf praktische Erfolge in den Lebensgebieten von Raum und Zeit bezogen, - gibt es in ihm keine begriffliche Gesetzmässigkeit, sondern ausschliesslich strömende, irrationale Mannigfaltigkeit. Bergsons Lebensarbeit war dem Versuch gewidmet, eine Psychologie zu schaffen, die das Seelische in seiner fliessenden, ungestalteten Realität erfasst. Gegen alle Begriffe, die festgeronnene Lebensaspekte verbildlichen, hat er andere aufgestellt, die es mit dem ungeformten, ungeteilten Strom des Lebens tun. Gegenüber der Zeit als ‘Länge’ prägte er den Begriff der ‘wirklichen Dauer’, d.h. der schöpferischen Entwicklung, des sich unaufhaltsam erneuernden Seins. An dieser ewigen Neuschöpfung hat nach Bergson das gesamte Naturleben teil. Nirgends gibt es ausschliesslich mechanisches Geschehen. Bergson erstrebte, durch seine psychologische Philosophie die alten Gegensätze von Materialismus und Vitalismus aufzuheben. Seiner Ueberzeugung nach erschöpft die Entwicklung sich weder in einer Reihe von Anpassungen, noch ist sie die Verwirklichung eines Gesamtplanes, wie der Finalismus annimmt. Die Tore der Schöpfung stehen immer offen, heute ebenso wie am ersten Tage der Welt. | |
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Wir können hier nicht untersuchen, in wieweit Bergsons Auffassungen sich mit der neuen Orientierung in der Physik, der Biologie und der Seelenkunde decken. Dass sie dies im allgemeinen tun, glaube ich sicher. Der Neo-Vitalismus von Hans Driesch, die Relativitäts-theorie Einsteins, die Ganzheit-Psychologie der letzten Jahre, - sie alle stammen mit Bergsons Glauben an die schöpferische Entwicklung und an den Kern der Wirklichkeit als etwas, das Raum und Zeit transcendiert, aus einer gemeinsamen Sphäre. Was die Welt heute braucht, das ist ein synthetisches Genie, um alle diese Ansätze in einem Ganzen zu vereinen. Aber wäre es möglich, dass in dieser Epoche der Spezialisation ein derartiges Genie sich durchsetzte? Jedenfalls hat Bergson durch seine Forderung einer Philosophie des Organischen viele spätere Untersuchungen vorweggenommen: durch seine Originalität, seine herrliche Intuition der wesentlichen Qualität des Lebens, hat er das Geistesleben nach verschiedenen Richtungen hin mächtig befruchtet. - Jedoch auch bei Bergson zeigt sich, dass es nicht genügt, gegenüber der Mechanisierung von Welt und Seele den intuitiven Reichtum des Psychischen aufzuzeigen. Zum grossen Teil bleibt er in der Negation gegen alles Geformte stecken. Es erscheint ihm jede Form als etwas Erstarrtes, Totes. So gelangt er zur absoluten Gegenüberstellung von Leben und Form, einer Gegenüberstellung, die selber nur auf dem Wege verstandesmässiger Abstraktion begreiflich ist. Denn ein ungeformtes, gestaltloses Lebendiges vermögen wir uns nicht vorzustellen. Wir kennen nur geformtes, gestaltetes Leben. Es ist denn auch Bergsons tief durchdachte Darstellung der Lebensphilosophie für die wissenschaftliche Betrachtung ebenso ungenügend, wie der starke Wein von Nietzsches glühenden Aphorismen. Ebensowenig kann aus dieser Philosophie eine neue, allgemein gültige, praktische Lebenslehre hervorgehen. Tatsächlich wurden denn auch die verführerischen Lockungen Nietzsches ein Element der individuellen Zersetzung, besonders für die intellektuellen Schichten, während Bergsons Ideen von den Trägern entgegengesetzter Lebensanschauungen und gesellschaftlicher Bestrebungen als Waffen benutzt werden.
Auch um das Verständnis der historisch-geistigen Welt ist in den letzten Jahrzehnten heiss und unaufhaltsam gerungen worden. Wir wollen hier nur die Namen von Dilthey, Troeltsch und Simmel nennen und nur nebenbei auf die bedeutsamen Versuche von Max Weber hinweisen, die Abhängigkeit wirtschaftlicher Entwicklungen von geistig-kulturellen, besonders religiösen, (z. B. des Kapitalismus vom Calvinismus) aufzuzeigen. Für Dilthey wird anstatt des rationalen Geistes die Seele zur Realität der Geschichte: er versucht, statt rationelle Zusammenhänge zu konstruieren, sich in die innere Erfahrung hineinzuleben. Auch er stützt sich auf das Gefühl eines Ganzen, das in der Geschichte er- | |
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fahrbar wird. Von diesem Ganzen aus bewegt seine Betrachtung sich zu den Teilen. Er versucht hinabzusteigen in die unergründlichen Tiefen des Lebens, um diese sichtbar zu machen. Jedoch ist er in der Relativität aller menschlichen Beziehungen und Betrachtungen stecken geblieben: einen Weg zu absoluten Werten hat er nicht gefunden. Seiner Lebensanschauung liegt das Prinzip der Disharmonie zu Grunde. Klarer noch als in Dilthey spiegelt sich in Troeltsch die Gesamtsituation der Epoche. Sein Leben lang hat ihn die Gegensätzlichkeit der Formungsprinzipien beschäftigt, in der die Disharmonie des Lebensprozesses sich enthüllt. Seine Natur führte ihn zur Betrachtung des historischen Lebens der grossen Menschheit; es schien ihm ‘der Reichtum göttlichen Lebens zu sein, der sich in dieser historischen, unendlich verschiedenartigen Welt ausdrückt und der Seele des Betrachters seine eigene Weite und Grösse einflösst’. Ebenso stark und ursprünglich jedoch war in ihm das Interesse an einer sesten und zentralen religiösen Lebensposition, von der aus das eigene Leben erst ein Zentrum in allen praktischen Fragen gewinnt. Aus dem Konflikt in seinem Inneren, der, wie Troeltsch ausdrücklich feststellte, die persönliche Form war, in der ein allgemeines, in der Zeit und Entwicklung liegendes Lebensproblem ihm zum Bewusstsein kam, ist seine ganze wissenschaftliche Fragestellung entsprungen. Die Tragik der Wertauflösung in Religion und Geschichte hat er in seiner Person durchlebt. Das zentrale Erlebnis war für ihn der Kampf für einen absoluten Lebensgehalt in seiner Existenz. Wie nur Wenige hat er gerungen um das Problem neuer absoluter Werte, um den Sinn der Religion. Vor allem hat er versucht, das allgemeingültige Recht des Christentums auf einer breiteren realen Basis zu fundieren, als auf der ‘Nadelspitze persönlicher Ueberzeugung’. Jedoch von Stufe zu Stufe wurde er in bezug auf den Offenbarungsglauben und den Universalitätsanspruch des Christentums zurückgedrängt, bis er schliesslich zu der Einsicht kam, der Inhalt der Religion sei ‘jedesmal von dem Boden und den geistigen, sozialen und nationalen Grundlagen abhängig, auf denen sie lebt’.Ga naar voetnoot1) An Troeltsch zeigt sich in besonders erschütternder Weise, wie der Historismus die tragische Situation der modernen Gesellschaft ist. Diese Situation zwang ihn fast gegen seinen Willen, die religiöse Lebenssubstanz, die er stärken wollte, durch seinen Relativismus erheblich zu schwächen. Freilich ist von einer wirklichen Zerstörung dieser Lebenssubstanz bei Troeltsch nie die Rede. Immer blieb er der Ueberzeugung treu, dass eine höhere, in sein Bewusstsein hineinragende Geisteswelt das Grundphänomen der Existenz sei. An einer Gestalt wie Troeltsch wird ganz besonders deutlich, dass | |
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die Ursache der religiös-sittlichen Krise unserer Zeit nicht zuletzt in der Historisierung alles Geistigen zu suchen sei. Es führt diese Historierung fast unwiderstehlich an den Abhängen der Skepsis zum Abgrund des ‘Wert-Nihilismus’ hinab. Die Frage, wie der Mensch sich vor der Zermalmung durch die Auflösung aller Werte im Relativismus retten, wie er sich ihr entziehen könne, steht wie ein Sphinx vor dem Menschen unserer Tage. Ebenfalls ein Vertreter des Relativismus, und zwar in seiner äussersten Spielart, war, wenigstens in seiner ersten, bis 1900 reichenden Phase, Simmel - ein ausserordentlich komplizierter und sublimierter Geist, dessen sozial und evolutionistisch gewendeter Positivismus alle religiösen Uebertöne, wie sie in Dilthey und Troeltsch noch erklingen, zum Verstummen bringt.Ga naar voetnoot1) Sein Wahrheitsbegriff ist durchwegs pragmatisch: Wahrheit ist für ihn gleichbedeutend mit Gattungszweckmässigkeit, das Erkennen umschreibt er als ‘einen frei schwebenden Prozess, dessen Elemente sich gegenseitig ihre Stellung bestimmen’. Jedoch machte Simmel eine Entwicklung in entgegengesetzter Richtung durch wie Troeltsch: sie führte ihn zur Anerkennung eines gewissen logischen und werthaften Absoluten. In der Ethik hält er sich nicht an das Handeln, sondern er steigt, wie Tolstoi, hinunter in den Mutterboden des Seins: er zeigt, dass nur aus diesem Boden die tiefsten ethischen Forderungen erwachsen. In der historüchen Forschung wendet er sich vor allem dem Sinn des historischen Geschehens zu: für ihn ist der Charakter dieses Geschehens, sinnerfüllt zu sein, das Merkzeichen, welches die Geschichte von der Naturwissenschaft trennt. Ebenso wie Troeltsch macht Simmel den Versuch, Leben und Geist einheitlich zu gestalten, und ebensowenig wie diesem ist ihm dies jemals ganz gelungen. Als das Element im Leben, welches hinausführt aus dem schicksalhaften, dumpfen Aufgeben in Kausalzusammenhängen, betrachtet Simmel die eigentliche Geisteskultur: die Reiche der Kunst, der Religion, der Ethik. Diese sind für ihn das ‘Mehr-als-Leben’, welches vom Leben erlöst. So zeigt sich bei Simmel in neuer Form ein Gedanke, der schon auf dem Grunde von Schillers Aesthetik zu finden ist. Versuchen wir noch anhand von Heinemanns ‘Neue Wege der Philosophie’ die allgemeinen Ergebnisse, wozu die an der Geschichte orientierten Denker gelangten, kurz zusammenzufassen. Die neuere, d.h. nachmittelalterliche Philosophie ruhte auf dem Gedanken, dass an Stelle des Reiches Gottes ‘das Reich des Menschen’ errichtet werden sollte. Durch den Verstand und die Wissenschaften würde dieses Reich geleitet werden. Der Mensch der letzten Jahrhunderte war vor allem ein schaffender, seine Existenz in erster Linie von der Praxis erfüllt. Diese Lebensform hat die Gedankenform seiner Systeme bestimmt. Lange behauptet der Verstand seine Vor- | |
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machtstellung über alle Gegenströmungen hinweg: ja, er befestigt sie sogar noch in unserer eigenen Zeit: aus der ‘praktischen’ Existenzform geht die Menschheit in die rationale über. Gleichzeitig mit diesem Prozess geht der der Historisierung des Menschen vor sich. Der Mensch verliert den Zusammenhang mit der Natur. Nur aus der Verbundenheit mit der Vergangenheit kommt er noch zum Verständnis seiner selbst. ‘Es vollendet sich nun darin der Lebensprozess des modernen Menschen, dass das Vorwiegen der Praxis und des Verstandes und das Eingehen in die vielen verschiedenen Formen vergangenen Seins zu einer Entzauberung der Welt, einer Substanzentleerung und Aushöhlung führt.’Ga naar voetnoot1) Zugleich sindet in der Geisteswissenschaft noch ein dritter Prozess statt: das Bewusstsein von der Ganzheit in den geschichtlichen Erscheinungen wird lebendig. Die der Geschichte zugewendeten Forscher stellen einen Begriff an die Spitze, der die Herrschaft der Kategorie der Totalität im heutigen Denken bestätigt, im unverkennbaren Parallelismus zu den Gestalt- und Strukturbegriffen in der Psychologie. Es wird das historische Leben nicht länger aus atomhaften Elementen aufgebaut, sondern an Kollektivindividualitäten wie Völker, Staaten, Ständen, Klassen, Kulturgemeinschaften gebunden. So mündet denn auch die Philosophie der Geschichte in den neuen Strom der Entwicklung ein, der seit Anfang des Jahrhunderts immer mehr anschwillt. So flüchtig und unvollständig dieser Rundblick auch ist, so genügt er doch, um uns die Bedeutung des Umschwungs wenigstens ahnen zu lassen, der sich auf allen Gebieten des Geisteslebens vollzogen hat. Seine wichtigsten Ergebnisse will ich hier nochmals kurz zuf ammenfassen: 1. In den Naturwissenschaften ist die alte mechanisch-materialistische Einstellung allgemein einer dynamisch-organischen gewichen. a) Die Physik hat den Stoff aufgelöst in durch elektrische Kräfte vermittelte Prozesse. Wie der Glaube an die Materie, ist der an die Allgemeingültigkeit der Zeit erschüttert. In der Chemie wurde das Dogma aufgegeben, es könnten Elemente in keinem Falle ineinander übergehen. b) Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in der Biologie. Auch hier wurden mechanisch-statische Anschauungen von dynamisch-organischen abgelöst. ‘Das Problem der Form ist zu dem der Formbildung geworden.’ ‘Das Tier ist ein Geschehen.’ Der Gedanke des Organismus als eine über seinen Teilen stehende, von Zielstrebigkeit erfüllte Einheit, hat über den Mechanismus gesiegt. c) In der Seelenkunde sind die mechanischen Auffassungen der Assoziationspsychologie völlig überholt. Alle Separatkräfte werden aufgelöst im Strom einer fliessenden Mannigfaltigkeit. Wie der Orga- | |
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nismus, so wird die Seele aufgefasst als ein Etwas, das anders und mehr als die Summe ihrer Teile ist, eben die Seele. Jede Seele bildet eine Einheit, die ihr Ziel in sich selbst trägt. Weder das Experiment noch die Analyse der elementaren Eigenschaften können zu ihrem Verständnis führen. Im Gegenteil: nur aus dem Ganzen heraus können die Teile, nur von der ‘Struktur’ und der ‘Gestalt’ aus kann das Untergeordnete und Nebensächliche verstanden werden. d) Es gibt die Wissenschaft den Wahn auf, als könne das Geheimnis des Lebens und der Seele durch Experimentieren, durch Messen und Wägen oder durch unendliches Zergliedern entdeckt werden. In vielen Köpfen bricht der Gedanke von der eigenartigen, unerschöpflichen Eigengesetzlichkeit der lebenden Materie sich Bahn. Der Mensch wird erfasst als Leibseele-Einheit, als beseelter Organismus. Der weitgehende, ja in vielen Fällen erstaunlich grosse Einfluss des Psychischen auf das Leibliche ist schon zu einer auch von der medizinischen Wissenschaft anerkannten Tatsache geworden. Berühmte Psychiater, wie Mäder, nehmen an, es sei in der Tiefe der Seele irgend eine höhere Kraft anwesend, die zur Heilung und zur Regeneration leiten könne. e) Aehnlich innige, mannigfaltige und unaufhörliche Wechselbeziehungen wie in den Einzelnen zwischen Körper und Seele herrschen auch in der menschlichen Gesellschaft zwischen materiellen (ökonomischen) und geistigen Faktoren. Aus ihrer unaufhörlichen wechselseitigen Beeinflussung, aus dem ganzen reichen Spiel ihrer äusserst zusammengestellten Beziehungen besteht das gesellschaftliche Leben. 2. In Bezug auf die Geisteswissenschaften folgt aus der neu gewonnenen Erkenntnis besonders noch: a) Es wird jeder Versuch aufgegeben, auf diese Wissenschaften die naturwissenschaftlichen Methoden zu übertragen, da heute erkannt wird, dass die Eigengesetzlichkeit des Geistigen besondere Methoden und Mittel der Forschung erheischt. b) Es wird der Glaube an die Berechenbarkeit der menschlichgeschichtlichen Entwicklung aufgegeben. Man wendet sich von den Versuchen, diese im voraus zu bestimmen und daraus Konsequenzen für das Handeln zu ziehen, ab und verlegt das Hauptgewicht auf den Einsatz des Willens und der sittlichen Tat. c) Weiter wird die Auffassung aufgegeben, dass die ökonomisch-technischen Faktoren als bildende und umändernde Kräfte in der menschlichen Gesellschaft eine Vorherrschaft ausüben. Es hat sich gezeigt, dass 1. in allem Lebendigen das Wirken äusserer Faktoren modifiziert, gefördert oder bekämpft wird von inneren Kräften; 2. dass das Irrationale (sowohl als Ueber- wie als Unterrationales) bei den Handlungen von einzelnen und von sozialen Gruppen eine bedeutende Rolle spielt, und 3. dass der Geist ein unberechenbarer Faktor | |
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ist, dessen Einbruch in gewissen, hoch über die Art hinausreichenden Persönlichkeiten dem Strom der Geschichte neue Werte zuführen und die Richtung, in der dieser Strom fliesst, abändern kann. d) Man gibt die Methode der positivistischen Epoche auf, die sich damit begnügte, die Erscheinungen als solche beschreiben zu wollen und die der Meinung war, dass dies durch die blosse Herstellung des kausalen Zusammenhanges und die Zerlegung ihrer Totalität in sinnlose letzte Elemente genüge. Die neue Richtung des Erkennens steht unter den beiden Gesichtspunkten der Totalität und der Sinnerfülltheit. Ihr Blick ist auf das Ganze der Erscheinung gerichtet, aus der das Einzelne seinen Sinn erhält. Sie sieht aber auch die Erscheinungen nicht isoliert, sondern in ihrem ‘Felde’, das individuelle Ganze im Ausser-individuellen, das menschliche Ganze im Ausser- und Uebermenschlichen, das Zeitliche und Räumliche im Ueberzeitlichen und Ueberräumlichen. Und endlich erblickt sie die Erscheinungen nicht in statischer Erstarrung, sondern in einem Strom lebendigen Werdens, sieht sie als Prozess. Dieser dynamische Gesichtspunkt hindert sie nicht, absolute Werte und Normen anzunehmen. Denn ihr zweiter Gesichtspunkt ist die Sinnerfüllung, welche die Herrschaft des mechanistischen Kausalismus, dem nur ein stark beschränkter Geltungsbereich gelassen wird, verdrängt. Von ihrem Sinn aus, den es intensiv zu erfassen gilt, müssen die Erscheinungen verstanden werden. Er ist die wahre Ganzheit der Erscheinung. Umgekehrt jedoch führt das Suchen nach der Sinnerfüllung wieder zum Gesichtspunkt der Ganzheit. Denn Sinn ist nur denkbar als Bezogenheit des Subjektes auf anderes oder andere; er lebt nur von Kontakten. Der Versuch, den Sinn des menschlichen Lebens und des Seins zu erforschen, ihren Inhalt und Wert zu bestimmen, führt zum Versuch, den verloren gegangenen Kontakt mit dem Universum und mit Gott zurückzufinden. Die Aera der Verdinglichung und der Verrationalisierung, das Zeitalter der religiösen Substanzentleerung, in der das hohe Meer des religiösen Lebens auf einige kleine Binnenseen zusammengeschrumpft war, geht seinem Ende entgegen. Denken und Wollen bemühen sich um die Wiederherstellung des Bewusstseins der lebendigen Verbundenheit des Menschen mit einer höheren Welt. | |
III. Welche sozialen Wirkungen übt der Umschwung im Geistesleben schon heute aus?Der Umschwung im Geistesleben ist also unverkennbar. Er wird auch kaum ernstlich mehr bestritten. Fragt man sich jedoch, zu welchen Ergebnissen im Leben er schon geführt hat, so lautet die Antwort vorwiegend negativ. Zwar gibt es schon einige Gebiete, auf | |
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denen die neuen Auffassungen, besonders in biologisch-psychologischen Dingen, teilweise realisiert wurden. Dies ist z. B. der Fall in den Bestrebungen für eine neue Erziehung, die statt auf Disziplin von oben auf innerer Zucht beruht, statt auf blossem passivem Aufnehmen auf Selbst-Tätigkeit, statt auf dem Prinzip des Wetteifers auf dem der kameradschaftlichen Hilfe. Des weiteren weise ich auf die neue Richtung in der Psychiatrie hin. Sie geht aus von dem Gedanken einer seelischen Regenerationskraft, die auch beim psychisch kranken Menschen nicht ganz zerstört werde und ganz besonders durch Selbsttätigkeit gefördert werden könne. Die Arbeitstherapie nimmt ja in der Behandlung von Neurosen und Psychosen heute einen grossen Platz ein. Eine ähnliche Entwicklung macht die Behandlung der körperlichen Krankheiten durch: auch hier gewinnt eine Richtung an Kraft, die statt chemische Arzneien, Gifte, Einspritzungen usw. anzuwenden, den Kranken in natürlichere Lebensbedingungen zu versetzen trachtet, Naturkräfte wie Sonne und Wasser als Heilmittel gebraucht und vor allem versucht, die Heilkraft, welche im Körper steckt, anzuregen und zu stärken. Es besteht also auf diesen Gebieten menschlicher Tätigkeit ein Streben, vom mechanistischen auf das dynamisch-vitalistische Geleise überzugehen. Bemerkenswert ist weiter eine starke Neigung bei der Jugend, ohne Unterschied ihrer politischen Einstellung, nicht nur gegen die mechanisierte städtische Kultur zu rebellieren, sondern auch zu versuchen, eine neue Kultur auf lebendiger Grundlage zu schaffen. Die Jugendbewegung sucht den verloren gegangenen Kontakt mit der Natur wieder herzustellen. Sie empsindet die körperlich-geistige Selbsttätigkeit als einen Genuss und eine Förderung des leib-seelischen Lebens. Sie strebt nach einer neuen Resonanz. Vielleicht könnte man auch das Erstarken der Bewegung gegen Militarismus und Krieg in einen gewissen Zusammenhang mit der Wendung in der Wissenschaft bringen. Die neue Anthropologie und Ethnologie verneint ja das Bestehen isolierter Rassen, folglich wirkt sie dem alten Vorurteil von der Ueberlegenheit der weissen oder kaukasischen Rasse entgegen. Die Idee allgemeiner Zusammenhänge, allgemeiner Menschlicher Solidarität, lässt den Krieg, jeden Krieg, als ein Verbrechen erscheinen, ein Gedanke, den noch nie eine Generation mit solcher Klarheit und Bestimmtheit, wie die heutige, ergriff. Dieser Gedanke des Zusammenhangs, der gegenseitigen menschlichen Verpflichtung, äussert sich auch in der wenigstens theoretischen Anerkennung des Rechtes der Arbeiter, wie Menschen und nicht wie Sachen behandelt zu werden. Im Arbeitsrecht und in der Arbeitsgesetzgebung wird der menschliche Wert des Arbeiters grundsätzlich anerkannt, wie dürftig und ungenügend die Verwirklichung dieses Grundsatzes in der Praxis auch durchgehend sei. | |
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Das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Verantwortung ist heute nicht auf den Menschen beschränkt: es strebt über das Menschenreich hinaus, es will auch das Tierreich umfassen. Bewegungen für Tierschutz, Anti-Vivisektion, Vegetarismus usw. sind nur verständlich auf der Grundlage einer kosmisch-gerichteten Welt- und Lebensanschauung. Besser als früher wird verstanden, dass eine Zivilisation, die auf das lautlose Leiden der Tiere hört und bestrebt ist, ihm ein Ende zu machen, auch den Menschen menschlich behandeln wird.Ga naar voetnoot1) Im allgemeinen jedoch sind die Ergebnisse des Umschwungs, dessen Bedeutung wir darzustellen versucht haben, für das Leben noch recht gering. Ja, es will manchmal scheinen, als sei für die Menschenwelt die neugewonnene Einsicht noch gar nicht da, als lebte diese Welt noch völlig von den Beständen der vorigen Periode. Zwar wurde der Stoffbegriff aufgelöst, jedoch die Herrschaft der Materie und des Materiellen im Leben hat sich um kein Milligramm verringert. Zwar denken wir statt in Atomen und Molekülen heute fast nur noch in Kräften und Wellen, aber im Leben stehen die alten Grenzpfähle zwischen Klassen, Völkern und Rassen noch unerschüttert da. Zwar sind wir aus dem Albtraum erwacht, es seien der Mensch und die Welt mechanische Gebilde, aber in der Menschenwelt greist die Mechanisierung in allen Sphären des Lebens immer weiter um sich. Viele Menschen sind heute wieder überzeugt, dass Leben und Seele schöpferische Kräfte sind, aber wir richten das ganze Leben - mit der Schule angesangen - so ein, dass jede schöpferische Kraft so viel wie möglich gehemmt, unterdrückt und zugrunde gerichtet wird. Das Leben bleibt nach aussen gewendet und materialistisch gerichtet: die herrschende Oberschicht, die Nutzniesserin der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, interessiert letzten Endes nur die Vermehrung der materiellen Mittel. Die Vergötterung der Technik nimmt immerfort zu. Wir versuchen auf intuitiv-deduktivem Wege den Sinn des Menschen und den Sinn des Seins zu erfassen, und wir verschliessen uns jede Möglichkeit, zu diesem Sinn hinzudringen, durch die falsche Art, in der wir leben. Wir suchen nach der Lebensfülle, die sich nur ergoss und sich nur ergiessen kann in den Zeitaltern, wo der Mensch in seinem Zentrum lebt und wir leben ausser uns selbst; wir mühen uns in Plage und Verzweiflung ab, zu uns selbst zu gelangen und können unser tiefes, wahrhaftiges Selbst doch nimmer finden. ‘Der Mensch ist nicht bei sich’, schreibt Fritz Heinemann in seinem Buche ‘Neue Wege der Philosophie’, aus dem wir im vor- | |
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hergehenden schon manches Treffliche entnahmen, ‘er ist ausserhalb seiner, er lebt in der Reflexion, im Intellekt, in peripherischen Schichten seines Seins, nur nicht in seinem wesenden Sein, nur nicht aus seinem Zentrum. Und zwar weil er ohne Gott lebt, weil in ihm die Beziehung zum Kosmos abgebrochen ist.’ ‘Der heutige Mensch gleicht dem Dürstenden, dem kein Trunk erreichbar’, schreibt Gertrud Hermes in ihrem tiefsinnigen Werke ‘Ueber die geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters’ am Schluss einer Betrachtung über den Versuch dieses Menschen, in gewissen verabsolutierten Dingen der endlichen Welt, wie Vaterland, Klassenkampf, Geschlechtsliebe, Kunst, Wissenschaft usw. für das Wahrhaft-Absolute einen Ersatz zu finden und seine Sehnsucht nach wirklich-religiösen Erlebnissen zu betäuben. ‘Die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart’, schreibt sie an anderer Stelle, ‘leiden tief unter dem Ausbleiben des Heils: sie haben nur das negative Heilserlebnis’. ‘Die Verheissung ist da, aber nur die Verheissung: die Heilserfahrung, das Heilserlebnis selbst kennt die heutige Menschheit nicht.’ Der Umschwung im Geistesleben schafft zwar die negativen, nicht jedoch die positiven Bedingungen zu neuen Heilserlebnissen. Manche alten Sperrungen auf dem Gebiet des geistigen Lebens sind aufgeräumt, aber die Stelle, wo sie sich erhoben, blieb wüft und leer. Es gilt zuerst ein neues Fundament zu errichten, und dies kann nur im Leben selbst erfolgen. Die Philosophie hat ihre Einstellung wesentlich geändert: sie wendet sich heute wiederum der transcendentalen Sphäre zu; sie sucht eine Antwort nicht nur auf die Frage nach dem Wesen des Seins, sondern auch auf die nach dem Sinn des Lebens. Jedoch die Philosophie an und für sich vermag diese Antwort nicht zu finden. Sie vermag es nicht, weil der Sinn des Lebens nicht durch metaphysische Spekulation, nicht verstandesgemäss ermittelt werden kann, sondern durch lebendige Gesinnung erfahren werden muss. Er bleibt verschleiert, so lange der Mensch falsch lebt. Der heutige Mensch kann den Sinn des Lebens nicht erfahren, weil er sich in die endlichen Werte festgebissen und die unendlichen darüber vergessen hat. Dazu hat er denn auch in der Vitalsphäre die Werte zweiten Ranges, wie den materiellen Besitz, über erstrangige wie z. B. die Familie, erhoben. Die Verdinglichung des Menschen greist im Kapitalismus weiter und weiter um sich, sie verbreitet ihr Gist durch den ganzen gesellschaftlichen Körper. Der Mensch ist heute gottlob noch nicht ganz verdinglicht, ebenso wenig wie er vollständig mechanisiert ist. Er empsindet noch Grauen über seine innere Leere: aus diesem Grauen entspringt seine furchtbare Unruhe, sein krampfhaftes Streben nach Betäubung, aus ihr entquillt auch seine tiefe Sehnsucht nach Religion, seine Heilsbedürftigkeit. Seine innere Wandlung zeigt sich in der zunehmenden Erschütterung jener Zuversicht, die ihn einst erfüllte, das Heil in der end- | |
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lichen Welt zu finden, in der Welt der Technik, der industriellen Zivilisation, der künstlich vermehrten und gesteigerten Bedürfnisse. Als Tolstoi vor ungefähr vierzig Jahren auf die Nichtigkeit dieser Zivilisation hinwies, die weder den wirklichem, materiell-geistigen Bedürfnissen der Massen zu genügen, noch die Sehnsucht des Menschen nach Einigkeit mit seinen Mitmenschen und mit Gott zu erfüllen vermöge, da wurde er wegen seinen barbarischen Anschauungen verspottet und verhöhnt. Zwar bleiben für die übergrosse Mehrheit der Menschen die technischen Errungenschaften auch heute noch das Grossartigste und Herrlichste, was es überhaupt gibt. Die Entwicklung des Flugwesens, die es möglich macht, Ozeane zu überqueren und innerhalb wenigen Tagen um den Erdball herum zu rafen; - die ‘Kurze Wellen-Apparate’, mittelst welcher zwei Menschen, wovon der Eine in West-Europa, der Andere in Süd-Asien lebt, sich mit einander unterhalten können, - diese und viele andere an sich bewundernswerte Ersindungen werden gefeiert als die Befreiung des Menschen von den Ketten des Raumes, der Zeit und der materiellen Begrenzungen des Daseins. Gewiss liegt in der zunehmenden Herrschaft der Menschen über die Naturkräfte etwas Grossartiges, gewiss wäre diese Herrschaft äusserst erfreulich, wenn sie der Menschheit wirklich zum Segen gereichte. Jedoch, wer kann das heute behaupten? Jede technische Ersindung oder Verbesserung dient wesentlich, seis mittelbar, seis unmittelbar, der Aufrechterhaltung der Herrschaft des Kapitalismus und des Imperalismus. Besonders werden alle Fortschritte, die in den elektrischen Industrien und im Flugwesen gemacht werden, schon heute zu Mitteln, um die Freiheitsbewegung der farbigen Rassen grausam zu unterdrücken. Auch ist kein Zweisel daran möglich, dass diese Fortschritte im Fall einer Revolution oder eines Krieges zur Vernichtung des Gegners gebraucht würden. Immer deutlicher zeigt sich, wie richtig Tolstoi urteilte, als er schrieb: ‘Ohne Gottesglauben sind die Menschen, die eine so gewaltige Macht über die Naturkräfte besitzen, wie Kinder, denen man Dynamit oder ein explosives Gas zum Spielzeug gegeben hat. Betrachtet man die Macht, welche die Menschen unserer Zeit besitzen, und die Art, womit sie diese anwenden, dann fühlt man, dass ihnen in Hinsicht auf ihren sittlichen Entwicklungsgrad das Recht nicht zukommt, nicht nur zum Gebrauch von Eisenbahnen, Dampf, Elektrizität, Telephon, drahtlose Telegraphie, sondern sogar zur einfachen Kunst, Eisen und Stahl herzustellen, da sie alle diese Verbesserungen und Künste nur anwenden zur Befriedigung ihrer Triebe, zu Genuss, Unenthaltsamkeit und gegenseitiger Vernichtung’. (Brief über den Krieg 1904.) Eine Ahnung dieser Wahrheit bewegt vielleicht heute der Menschen Herz und Sinn, wenn irgend eine Explosion stattsindet, der viele Unschuldige unter schrecklichen Qualen zum Opfer fallen, oder wenn giftige Gase sich aus irgend einer chemischen Fabrik in kurzer | |
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Zeit über ein ganzes Stadtviertel verbreiten. Jedoch die Jagd des heutigen Grossstadtlebens, die Not und Sorge unter den Massen, das Hasten und Hetzen von einer Beschäftigung oder einer Belustigung zur andern bei den Privilegierten - dies alles macht, dass solche Ahnungen schnell vorübergehen, ohne nachhaltige Wirkungen auszuüben. Dies Eine jedoch ist gewiss: die siegessichere Zuversicht, mit der der Mensch des vorigen Jahrhunderts, besonders der der Jahre 1850 bis 1890 von der Wissenschaft Erlösung und Heil erwartete, diese Zuversicht besteht heute nicht mehr. Man regt sich auf über eine Zeppelinfahrt, man schwört auf Automobile, Motorfahrräder und Flugzeuge, man vernarrt sich in das Radio und den Geräuschfilm, man sucht überhaupt nur Ablenkung durch einander jagende Eindrücke, nur Betäubung durch Lärm, Glanz und Sensation - jedoch in der Tiefe des Gemüts lauert die Erkenntnis: ‘Dies alles ist es nicht, es bringt nicht Ruhe, nicht Frieden, nicht Harmonie und innere Festigung; es füllt die innere Leere nicht aus’. Die Einsicht in die Schattenseiten der Kultur nimmt zu; es wächst die Besorgnis vor der Erstarrung des Menschen durch die unaufhaltsam zunehmende, sich immer neue Lebensgebiete unterwerfende Mechanisierung. Die klarsten Köpfe, diejenigen, welche sich nicht hinreissen lassen von dem Taumel des Tages, betrachten diese Möglichkeit als die ärgste Gefahr, welche heute die Zukunft der Menschheit bedroht. ‘Es gibt Zeitalter’, schreibt Prof. J. Huizinga, der Autor des auch im Ausland hochgeschätzten Werkes ‘Der Herbst des Mittelalters’, in einem bemerkenswerten Buch über Amerika, ‘in der die Macht zu binden, die dem Kulturmechanismus eigen ist, grösser scheint als die Macht zu befreien... So in dem Jahrhundert, in welchem wir leben, da die Menschheit der hilflose Sklave ihrer eignen vollkommenen Hilfsmittel materieller und sozialer Technik zu werden scheint.’ Ein in mancher Hinsicht so nüchterner und skeptischer Denker wie Bertrand Russell ist der Ansicht, dass heute die Aufgabe nicht so sehr in der weiteren Förderung der Produktion nach der quantitativen Seite liegt als in der Leitung und Beherrschung der Wirtschaft und vor allem in der Förderung nicht mechanisierter, spontaner Geistestätigkeit, um ein Gegengewicht gegen die Mechanisierung in der Sphäre der materiellen Produktion zu bilden. In seinem ‘Aufruf zum Sozialismus’ hat Gustav Landauer schon vor zwanzig Jahren die Behauptung aufgestellt, es bedeute die heutige Zivilisation in den für das menschliche Heil wichtigsten Lebenssphären nicht Fortschritt, sondern im Gegenteil fortschreitenden Verfall. Ganz besonders bezog sich diese Aeusserung auf die grosse Schwächung des Gemeingefühls und den Verlust jeder inneren Geschlossenheit. Heute mutet diese Behauptung weite Kreise unendlich weniger fremdartig an als zu der Zeit, da sie von dem grossen revolutionären Sozialisten getan wurde. | |
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IV. Die neuen Aufgaben des Sozialismus.Es steht wohl unzweiselhaft fest, dass der gewaltige Impuls, welchen der Marxismus vor einem halben Jahrhundert dem Denken und Wollen der Arbeiterklasse gab, im letzten Jahrzehnt überall - mit Ausnahme von Russland, wo eine ungeheuere Neubelebung und gleichzeitig eine Umbiegung in voluntaristischer Richtung erfolgte,Ga naar voetnoot1) bedeutend nachgelassen hat. Der Glaube, dass die sozialistische Gesellschaftsordnung ‘im Schoss des kapitalistischen Produktionssystems’ sich von selbst entwickle und dass der Sozialismus ‘naturnotwendig’ den Kapitalismus ablösen müsse, ist im Bewusstsein der Arbeiterklasse tief erschüttert. Es hat sich gezeigt, dass die Wirklichkeit in verschiedener Hinsicht nicht mit diesem Glauben in Uebereinstimmung war. Erstens schon nicht auf dem Gebiet des ökonomisch-sozialen Lebens. Es führt die Entwicklung nicht in gerader Linie zu dem Punkte, wo die Spannung der Gegensätze in einem Bruch, einem jähen Umsturz enden muss. Zwar geht der Konzentrations- und Zentralisationsprozess im Kapitalismus immer weiter, aber es ist keineswegs gewiss, dass dieser Prozess schliesslich zum Ergebnis führt, dass eine Handvoll Kapitalmagnaten einer ungeheuren Anzahl Proletarier gegenüber stehen, die die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung bilden. In der sozialen Entwicklung gibt es überhaupt kein ‘schliesslich’, d.h. keinen absoluten Endpunkt einer bestimmten Entwicklungsreihe. Es gibt im Gegenteil, wenn man so sagen darf, nur ‘verhältnismässige Endpunkte’, nur Transformation, Uebergänge von einem zeitlichen Gleichgewichtszustande in einen anderen. Nach der Gewerbestatistik machte die Klasse der Handarbeiter, einschliesslich der Hausangestellten und der Heimarbeiter, im deutschen Reich bei der Betriebs- und Gewerbezählung von 1907 noch fast 50 % der Bevölkerung aus. Erstaunlich sind auch die folgenden von Sombart in seinem Werk über den Hochkapitalismus der amtlichen Statistik entnommenen Zahlen: in Deutschland waren noch anno 1907 fast eben so viele Menschen handwerksmässig wie industriell-kapitalistisch beschäftigt (selbstverständlich ist die ökonomische Bedeutung beider Gruppen bei weitem nicht gleich), nur 30 % aller Erwerbstätigen standen damals direkt, im Dienste des Kapitalismus. Für Mittel- und West-Europa wird der Anteil des Kapitalismus auf ein Viertel bis ein Drittel aller Beschäftigten berechnet, für Nordamerika auf gegen zwei Fünftel. Dazu kommt die Tatsache der sog. ‘kapitalistischen Sättigung’. Es scheint nämlich sicher, dass jedes Land nur ein gewisses Mass von kapitalistischer Industrie verträgt: die Industrialisierung sindet ihre letzte, wenn auch ebenfalls elastische, Grenze in dem für die Nahrung usw. zur Ver- | |
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fügung stehenden Boden. Der Kapitalismus, der sich auf organischer Grundlage entsaltet, stösst früher oder später an die Grenzen, welche das langsamere, an die Gesetze der Natur gebundene Wachstum alles Organischen ihm zieht.Ga naar voetnoot1) Sehr wichtig ist auch die Tatsache, dass während der letzten Jahre die Konzentrationsbewegung in gewissen Branchen unterbrochen und aufgehalten wurde durch eine infolge der Elektrotechnik möglich gewordene Dezentralisation. Wer verbürgt uns, dass wir hier nicht am Anfang einer ganz neuen, der Zentralisation entgegengesetzten Entwicklung stehen? Bei der heutigen Technik sind noch viele Ueberraschungen möglich! Wir müssen uns, was das Oekonomische anbetrifft, mit diesen wenigen Bemerkungen begnügen. Werfen wir jetzt noch einen Blick auf das sozial-psychologische Gebiet. Die zentrale Tatsache auf diesem Gebiet ist wohl die erhebliche Schwächung, welche die Endreichshoffnung in der sozialistischen Bewegung erfahren hat. Die Einsicht in die Vielgestaltigkeit des modernen Staats- und Wirtschaftsbetriebes ist gewachsen. Viel mehr wie früher wird heute verstanden, dass es keine reinen wirtschaftlichen Erscheinungen gibt und dass die Wirtschaft eingebettet ist in etwas Grösseres, Allgemeineres: in die gesellschaftliche Gesamtkultur. Dazu kommt die Tatsache, dass die ‘Cadres’ der Bewegung nur zu oft in die Tagesaufgaben der praktischen Politik völlig verstrickt werden: der prinzipielle Gegensatz zur kapitalistischen Umwelt flaut dann leicht in ihnen ab und die kapitalistische Rangordnung der Werte dringt damit in gewissem Masse in die sozialistische Ethik und Praxis ein. Auf der andern Seite stehen diejenigen, welche glauben, nur auf den Trümmern der bürgerlichen Gesellschaft den Sozialismus errichten zu können. Es kommt ihnen in erster Linie auf die Zerstörung dieser Gesellschaft an - was zur Folge hat, dass sie hauptsächlich an die negativen Triebe im Menschen appellieren. Sie begehen damit einen ungeheuerlichen und verhängnisvollen psychologischen Fehler. Denn diese Triebe setzen sich immer in Gegensatz zu den sozialen Gefühlen und, was damit unzertrennlich zusammenhängt, auf Kosten der gestaltenden, schöpferischen Kräfte im Menschen durch. Wenn es auch gelingen würde, durch die Entfesselung der negativen, antisozialen Triebe wie Hass, Rachsucht, blinde Zerstörungswut usw. in den Massen die alte Ordnung zu stürzen, so wäre damit für die Errichtung eines sozialistischen Gemeinwesens noch äusserst wenig erzielt. Denn in der nämlichen Stunde, wo die von keinem innerlichen Gebot, keiner Ehrfurcht für das Höhere im Menschen eingedämmten und ge- | |
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richteten menschlichen Vitalenergien sich auf das Lebensfeld ergiessen würden, da würde sich sogleich den klügsten und verantwortungsvollsten Führern die Unerlässlichkeit der Einsetzung einer starken Autorität aufdrängen. Auch dies lehrt uns Russland. Der mit allen Mitteln auf die proletarische Diktatur hinzielende Radikalismus arbeitet in Wirklichkeit auf einen mit gewaltigen Machtbefugnissen ausgerüsteten Staatssozialismus hin, der sich vom Staatskapitalismus nur in gewissen, vielleicht gar nicht primären Beziehungen unterscheidet. Für eine den sozialistischen Idealen einigermassen entsprechende Lebensgestaltung ist eine weitgehende Umbildung des menschlichen Bewusstseins ebenso notwendig, wie eine Umbildung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wobei es demjenigen, der sich vom schablonenmässigen Denken befreit hat, klar ist, dass die geistig-persönliche Umgestaltung hier ununterbrochen der materiell-gesellschaftlichen die Wege bereiten muss. Deshalb ist die Bildung schon einigermassen sozialistisch fühlender Menschen, Menschen mit einem über den Durchschnitt stehenden Gemeinschafts- und Verantwortlichkeitsgefühl, die unerlässliche Vorbedingung für eine mehr oder weniger sozialistische Lebensgestaltung. Oeffnet der Umschwung in der Geisteslage, mit dem wir uns ausgiebig beschäftigt haben, dafür gewisse günstige Aussichten? Macht dieser Umschwung wahrscheinlich oder wenigstens möglich, dass auch der Sozialismus eine innere und äussere Wandlung durchmachen wird? Es ist ohne weiteres klar, dass es zu einer solchen Wandlung kommen muss, wenn vom Sozialismus ein neuer gesellschaftlicher Impuls ausgehen soll, der an Wucht und Nachhaltigkeit dem des marxistischen Sozialismus vergleichbar wäre. Denn auch vom Sozialismus unserer Zeit gilt, dass er nicht bei sich selbst lebt, sondern in seiner Peripherie, dass auch er zu sich kommen, in sich selbst eingehen soll. Auch er muss sich besinnen auf seinen Ursprung, muss sich erneuern aus dem Geiste des Sozialismus heraus, nicht aus dem Geiste irgend eines besondern Sozialismus, sei es der utopische oder der marxistische oder der syndikalistische, sondern aus dem Geiste des Sozialismus überhaupt, der mehr und tiefer ist als irgend eine seiner zeitlichen Formen, der der Wille ist zur brüderlichen Gerechtigkeit, der Wille zur Verwirklichung des Gemeinschaftsgedankens und der Wille, für diese Verwirklichung zu arbeiten, zu kämpfen, Opfer zu bringen und zu leiden. Aus dem Geiste eines Sozialismus, der bei aller Wandlung seiner, mit der geschichtlichen und sozialogischen Situation wechselnden Werte, sich selbst treu bleibt und gleich bleibt, weil er alle endlichen Werte auf die unendliche Gemeinschaft bezieht und allen Werturteilen einen unwandelbaren Massftab zu Grunde legt. Ich will jetzt darzustellen versuchen, welche Aussichten die Wandlung im Geistesleben für den Sozialismus eröffnet und welche Aufgaben daraus für ihn erwachsen. | |
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Vergegenwärtigen wir uns nochmals, wie diese Wandlung zu einem Begriff des Universums und einer Auffassung des Lebens geführt hat, woraus alles Starre und Mechanische verschwindet. Die Welt, die unter der fast nur auf mechanisches Geschehen gerichteten Aufmerksamkeit einer vorigen Generation von Forschern gleichsam versteinert schien, ist, seit der Geist die in ihr vorgehenden Prozesse anders interpretiert, wieder lebendig geworden. Man kann sagen, dass eine ungeheure Auferstehung stattgefunden hat, und zwar in doppelter Hinsicht. Einmal als Auferstehung des Geistes, dem sein unerschöpfliches Geheimnis, sein Recht auf ‘Anderssein’ als die Materie, zurückgegeben wurde, und dann als Auferstehung der lebenden Materie selber und der in ihr vorgehenden Prozesse, deren nicht-mechanischer Charakter anerkennt wurde. So hat die unendliche Herrlichkeit des Lebenswunders sich wieder aufgetan. Es werden heute von der Wissenschaft kaum mehr ernsthafte Versuche unternommen, die Welt aus einem einzigen Prinzip zu erklären, d.h. sie auf ausschliesslich Geistiges oder Materielles zurückzuführen. Im Gegenteil geht die Entwicklung darauf hinaus, die Wirklichkeit darzustellen als das Ergebnis inniger Verbindung und unaufhörlicher Verflechtung nicht-materieller Kräfte mit materiellen Prozessen. Alles Geschehen in der organischen Natur wird heute erfasst als die Einwirkung von gewissen, in ihrem Wesen unbekannten, nicht-körperlichen Agentien auf körperliches Sein, das dann selber wiederum in Geschehen aufgelöst wird. ‘Das Tier ist (rein biologisch geredet) ein Geschehen’. Diese Agentien sind das struktuelle Prinzip, welches die unendliche Vielfältigkeit des Lebendigen dadurch zu ‘Einheiten’ zusammenfasst, dass es in materiellen Systemen ‘wirkt’, wobei seinem Wirken selbstverständlich durch die Natur dieser materiellen Systeme bestimmte Grenzen gezogen sind. Sowohl in der biologischen wie in der psychologischen und der historischen Wissenschaft bricht sich eine ähnliche Auffassung Bahn - eine Auffassung, welche von dem inneren Faktor, den wir bei lebenden Organismen überhaupt Zielstrebigkeit, bei höheren Organismen Lebensdrang, beim Menschen Geist nennen - jenem Faktor, der einer eignen Gesetzlichkeit gehorcht - annimmt, er sei zwar von den materiellen Systemen und den ‘äusseren’ Umständen bis zu einem gewissen Grade abhängig, jedoch nicht anders als der Spieler von dem Instrument, das er spielt, abhängig ist. Diese Einsicht in die innige Verbundenheit der wesentlich anders gearteten Faktoren, deren Zusammen-Sein und Zusammen-Wirken das Sein überhaupt, die Welt oder das Universum bildet, hat für unsere Lebensauffassung und unser Lebensgefühl sehr wichtige Konsequenzen. Und nicht weniger hat sie solche Konsequenzen für den Sozialismus. Denn aus ihr folgt, dass ein Sozialismus, welcher die ökonomischen, d.h. die materiellen Bedingungen als das Fundament der Gesellschaft, als die einzige gesellschaftliche Realität betrachtet, durch | |
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die wissenschaftliche Entwicklung überholt worden ist. Er ist heute veraltet. Aus ihr folgt auch, dass ein Sozialismus, der ausschliesslich auf die gegensätzlichen Prinzipien in der Gesellschaft seine Aufmerksamkeit richtet, einseitig ist. Und aus ihr folgt schliesslich, dass nur ein Sozialismus, der sich auf die Achtung für das Höhere in allen Menschen und auf das Gefühl der menschlichen Zusammengehörigkeit und der menschlichen Verpflichtung stützt, nur ein Sozialismus der an den Gerechtigkeitsdrang appelliert und jedem Menschen zu seinem menschlichen ‘Recht’ helfen will, - aus dem Gefühl der Mit-Verantwortung für alles Kommende, weil ja alles Geschehen miteinander verkettet und verbunden ist, weil ja jeder Mensch, jede Handlung, ja jeder Gedanke ein Element ist im unendlichen Kraft-Ganzen, das die Welt gestaltet, - dass nur solch ein Sozialismus in Einklang ist mit der heutigen Einstellung des Geisteslebens und dass deshalb nur solch ein Sozialismus immer mehr Menschen bewusst oder unbewusst befriedigen wird. Zusammengehörigkeit aller Teile des Weltalls, und zwar Zusammengehörigkeit in einem ganz bestimmten Sinn als allgemeine und gegenseitige funktionelle Abhängigkeit: das, so lehrt uns die heutige Wissenschaft, ist das Wesen der Welt, das organische Gesetz ihres Werdens. Im Sinne dieser Lehre zu handeln, verbürgt am besten, dass unser Handeln fruchtbar sein wird. Folgt aus dieser Einsicht nicht eine viel tiefer gegründete Verurteilung des Kapitalismus, der die menschliche Zusammengehörigkeit leugnet und sie zerstört, als aus der Auffassung, er habe sich heute als Produktionsweise ökonomisch und historisch überlebt, d.h. aus einer nur kausal-mechanischen Betrachtungsweise? Wird die Ueberzeugung, dass der Kapitalismus sich durch seinen Ueberrationalismus, seine faktische Leugnung der höchsten, unzeitlichen Werte, seine Verachtung für den Menschen, in so weit dieser anders und mehr ist als ein ökonomische Werte bildender Faktor im Produktionsprozess, in Gegensatz setzt zu ewigen, kosmischen Gesetzen, wird diese Ueberzeugung nicht den neuen Impuls zum Kampf für seine Ueberwindung und für den Aufbau einer neuen Gesellschaft geben? Ja, was anderes als gerade diese Ueberzeugung wird es tun können? Das Gefühl der Zusammengehörigkeit macht den Menschen seiner inneren Verpflichtung und Verantwortung bewusst, und zwar nicht nur den Mitmenschen, sondern allen lebenden Geschöpfen, ja dem ganzen Material seines Schaffens gegenüber. ‘Wachsendes Verantwortungsbewusstsein’, schreibt Fritz Klatt in seinem tiefdurchdachten Buch über ‘Die geistige Wendung im Maschinen-Zeitalter’, ‘ist das heimliche Kennzeichen unseres Zeitalters’.Ga naar voetnoot1) Es fängt der Mensch an, sich seiner Verantwortung den Naturkräften und vor allem der Erde gegenüber bewusst zu werden. Er fängt an zu erkennen, dass auch der Gebrauch der Materie an Grenzen gebunden ist, die er nicht straf- | |
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los vergewaltigen kann, dass alles Lebendige sein eigenes ‘Recht’ besitzt, dem Rechnung getragen werden soll, wenn auch nicht allem gegenüber in gleicher Weise. Nach unten dehnt sich dieser Begriff des Lebendigen heute schon viel weiter aus als frühere Geschlechter träumten, und es dürfte sich immer weiter ausdehnen. Nach oben ist der Mensch das höchste Geschöpf, das wir kennen, weil in ihm der Geist zum Durchbruch kam, so wie im Tier die Seele und in der Pflanze der Lebensdrang. Deshalb ist unsere Verpflichtung und Verantwortung dem Menschen gegenüber am grössten: ihm gegenüber vor allem empfinden wir, wenn wir nicht entartet sind und unser Gewissen nicht abgestumpft würde, jene religiöse Gebundenheit, auf die Klatt besonders in bezug auf die Erde und ihre Begebenheiten hinweist.Ga naar voetnoot1) Jeder Mensch, dessen Streben sich nicht in seiner privaten Existenz und in seinen privaten Interessen erschöpft, spürt heute schon etwas von diesem Verantwortungsgefühl und kann sich der Einsicht nicht entziehen, dass der heutige Kapitalismus mit seinen furchtbaren Hauptbegleiterscheinungen: Militarismus, Imperialismus und kolonialer Unterdrückung den äussersten Pol bildet zu allem, was dieses Gefühl von uns fordert. Denn dasjenige, was es fordert und was aus der ganzen neuen Geistes-Einstellung folgt, das ist im Grunde Mitarbeit, erstens an der sinnvollen Gestaltung zunächst alles menschlichen, und dann, so weit dies möglich ist, auch des ausser-menschlichen Lebens. Der Kapitalismus dagegen entleert die Arbeit und das Leben der grossen Mehrheit der Menschen jedes Sinnes, er zwingt sie, ununterbrochen eintönige, mechanische Arbeit zu verrichten, die mit der Zunahme des Druckes der Arbeitsstunden und Arbeitsjahre zu immer schlimmerer Zerstörung führt. Der Imperialismus zerstört alle sinnvollen Arbeits- und Lebensformen, deren die Menschen sich in vorkapitalistischen Gesellschaftsformen trotz aller Mängel und Härten des Daseins erfreuten, und der Militarismus zwingt die Menschen sogar, ganz sinnlos zu töten und sich töten zu lassen, das eigene Leben, das höchste und letzte der irdischen Güter, hinzugeben, ohne zu wissen warum, und es andern Menschen, gleichfalls ohne zu wissen warum, zu nehmen. Ein Sozialismus, der sich auf die neue Grundlage stützt, wird gewiss ‘radikal’ sein, d.h. er wird nach einer völligen Umgestaltung der Gesellschaft streben und unaufhaltsam den Gegensatz seines Wollens und Wertens zu dem des Kapitalismus betonen. Aber sein Radikalismus wird ein ganz anderes Gesicht haben als das Gesicht des alten überlieferten Radikalismus. Er wird die Gewalt, auch den politischen Gegnern gegenüber, scheuen und hassen und alle härteren Formen des Zwangs soviel wie möglich vermeiden. Er wird auch besonders danach streben, den guten Willen zu erwecken und die Selbst-Tätigkeit zu stärken; er wird geduldig sein und lieber in langsamerem | |
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Tempo vorwärts gehen, als Hass, Verbitterung und Rachsucht wachzurufen; er wird nicht doktrinär sein, d.h. nicht nach einem bestimmten Dogma die Gesellschaft verwandeln wollen, sondern alles anfassen, so wie der Künstler sein Material anfasst: von unendlicher Liebe und Rücksicht beseelt. Er wird, mit einem Worte, weder die Menschen noch die Natur überwältigen wollen. Der Sozialismus, der bestrebt ist, sich in Einklang zu setzen mit der neuen geistigen Einstellung, wird sein wissenschaftliches Fundament wesentlich umschaffen müssen. Im vorigen Zeitabschnitt wurde dieses Fundament in der Hauptsache gebildet von der Wirtschaftslehre und der Philosophie der Geschichte, jedoch in solcher Fassung, dass die zweite sich in einseitiger Abhängigkeit von der ersten befand. Hier ist eine Umstellung und ein Ausbau erforderlich, zu denen die bürgerliche Forschung des letzten halben Jahrhunderts auf den Gebieten der Wirtschaftslehre, der Soziologie und der Geschichte, der vergleichenden Philosophie und Religionsforschung usw. schon eine gewaltige Vorarbeit geleistet hat. Auf Grund dieser Vorarbeit - die ja selber in vieler Hinsicht Karl Marx ganz ausserordenlich verpflichtet ist - ist es heute möglich, die verwickelten Zusammenhänge zwischen geistigen Lebensformen, Formen der Arbeit und der Familie, Rechtswesen, Technik, Klassenbeziehungen, geographischen und ethnologischen Gegebenheiten usw. und ihr wechselseitiges Auseinanderwirken viel tiefer zu erfassen als der historische Determinismus dies tat. In ihm ist vieles zu kurz gekommen: so die Autonomie des Geisteslebens und die Wirkung, welche von seinen höheren Gebilden - von Religion, Philosophie, Kunst - auf das Gebiet des sozialen und wirtschaftlichen Lebens ausging; so der Einfluss der grossen schöpferischen Persönlichkeiten auf die Gesellschaft, ihre erneuernde und gestaltende Kraft; so der Einflust der aufkommenden und kämpfenden Arbeiterklasse, die vom Marxismus hauptsächlich passiv, als Objekt der Ausbeutung betrachtet und beschrieben wurde, als ein Faktor der Umbildung des herrschenden gesellschaftlichen Prinzips, ihr Einfluss auf die Formen der Wirtschaft und der Politik, auf die Rechtsbegriffe, die soziale Moral, die Künste (Architektur, Literatur, Filmkunst). Nur von den neuen Gesichtspunkten aus ergibt sich auch die Möglichkeit einer Geschichte der inneren und äusseren Entwicklungen des Proletariats, wie überhaupt eines tieferen Eingehens auf seine innere Wandlung und seelische Umgruppiernug, der Versuch, seine heutige seelische Struktur zu erfassen. Hier haben Henrik de Man, Gertrud Hermes, Fritz Klatt, Paul Piechowski u.a. schon wertvolle Ansätze geschaffen, jedoch harrt ein fast unendliches Arbeitsseld noch der Bearbeitung. Aus dem hier Gesagten geht schon hervor, welch ein wichtiges Hilfsmittel die Seelenkunde für die neue sozialistische Wissenschaft darstellt. Ohne der Mode zu opfern und sich zu unvorsichtigen Bünd- | |
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nissen mit bestimmten, ungenügend fundierten oder einseitigen psychologischen Strömungen und Schulen verleiten zu lassen, soll der Sozialismus sich heute doch die wichtigsten Auffchlüsse zu eigen machen, die die Psychologie uns über den innern Menschen vermittelt. Hier ist der Unterschied zwischen der heutigen Einstellung und der der Epoche, in der Marx seine Hauptwerke schuf, ungeheuer gross. Vor vierzig Jahren stand ja noch die halb mechanistische Auffassung des Seelenlebens in der Blüte. Es wurde noch eine seste Beziehung zwischen Reiz und Empfindung angenommen; das tiefere Seelenleben wurde noch fast nicht beachtet, die Seele wurde in eine Anzahl von besonderen Vermögen zerlegt, denen allen die Wissenschaft ihre besondere, streng lokalisierte Stelle im Gehirn zuwies. Und vor allem - das seelische Leben wurde aufgefasst als in der Hauptsache in rationellen Faktoren fundiert. Wir haben gezeigt, wie anders dies alles heute geworden ist, wie sehr unsere Einsicht in die psychologischen Prozesse und die seelischen Kräfte zugenommen hat. Dies macht auch ein viel tieferes Verstehen der Motive und Handlungen unserer Gegner möglich, sowie der Rolle, die bestimmte menschliche Eigenschaften und bestimmte Typen in der Arbeiterbewegung spielen. Die Bedeutung des Führers, die Psychologie der Sekten, das Wesen des Radikalismus und dasjenige der hauptsächlich nach Anpassung Strebenden - über dies alles und vieles andere in der Bewegung vermag die Psychologie heute ein viel helleres Licht zu verbreiten, als damals möglich war, wo man alles auf ‘wirtschaftliche Bedingungen’ und wirtschaftliche ‘Interessen’ zurückführen wollte. Hier darf man von einem Sozialismus, der die menschliche Natur besser durchschaut und ihr mehr Rechnung trägt, als der Marxismus tat und tun konnte, erwarten, dass er der Notwendigkeit sehr verschiedener Richtungen innerhalb des Sozialismus verstehen und mit ihnen in der Organisation und in der Arbeit Rechnung tragen wird. Besseres psychologisches Verständnis wird hoffentlich auch zum Abbau übertriebener Zentralisation, zum Streben nach föderalistischen Formen sozialistischer Organisation und zur Erkenntnis der Vorteile weitgehender Autonomie aller Teile der Bewegung führen. Mit der Seelenkunde in enger Berührung entwickelt sich heute die Pädagogik. Auch hier soll der Sozialismus zwar der Ueberstürzung, der Mode, den ungenügend fundierten Experimenten vieler Schulreformer kritisch gegenüberstehen; jedoch auch hier kann er von der bürgerlichen Wissenschaft recht viel lernen. Der Marxismus hat ja die Frage der sozialen Erziehung fast völlig vernachlässigt, was auch selbstverständlich war, weil er doch die bewusste Umbildung und Umwandlung des Menschen in ein mehr als heute soziales Wesen bis zur Zeit ‘nach der Revolution’ verschob. Heute kommt im Sozialismus der Gedanke der Transformation, der Arbeit an dem Gegebenen und mit dem Gegebenen, um es umzubilden, immer mehr in den Vor- | |
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dergrund. Da wird die Erziehung eine Frage ersten Ranges. Es dürfte da, bis zu einem gewissen Punkt, die Losung ‘Zurück zum utopischen Sozialismus’ am Platze sein! Zurück zu Godwin und Owen, zu Fourier und St. Simon, d.h. nicht zu allen ihren Ansichten und zu den von ihnen befürworteten Methoden, sondern zum Verständnis der Wichtigkeit der direkten und vor allem der indirekten Erziehung, zum Verständnis der Einflüsse, welche das Milieu auf das Kind und den jungen Menschen ausübt. Hier wie überall ist der Sozialismus eingeklemmt zwischen seinem eigenen Streben nach Erlösung der menschlichen Persönlichkeit und den harten Tatsachen der kapitalistischen Welt, die die Erziehung zur Vorbereitung des Kindes für einseitige Arbeit in einem bestimmten Beruf stempelt, entweder in den Reihen der ausgebeuteten Mehrheit oder der bevorrechteten Minderheit. Und hier wie überall kann der Sozialismus sich nur von dieser Umklammerung befreien, wenn er versucht, die allgemeine bürgerlich-kapitalistische Umwelt durch Sozialreform umzuwandeln und zugleich Menschen bzw. Institutionen zu bilden, in denen sein eigenes Prinzip zum Durchbruch kommt. In der marxistischen Gesellschaftslehre hat die Klassen-Antithese bekanntlich eine hervorragende Rolle gespielt. Die Gegenüberstellung ‘Bourgeoisie-Proletariat’ wurde als gleichbedeutend aufgefasst mit der Gegenüberstellung: ‘Kapitalistisch-Sozialistisch’, also mit einer Antithese, in der ein Werturteil enthalten war. Ganz mit der Wirklichkeit gestimmt hat diese Antithese nie: vom Beginn der sozialistischen Bewegung an war doch ein ‘Bourgeois-Sozialismus’ da, schon zur Zeit, als die übergrosse Mehrheit des Proletariats noch nichts vom Sozialismus wissen wollte. Jedoch war sie wesentlich richtig: denn es hatte erstens die Bourgeoisie ihre eignen Lebensideale, ihre eignen Werte, die sie den sozialistischen entgegenhielt, und zweitens wurde alles, was in der Arbeiterklasse zum Leben kam, mit sozialistischem Inhalt gefüllt. Deshalb war die Gegenüberstellung ‘Bürgerlich-Proletarisch, Kapitalistisch-Sozialistisch’ nicht nur eine Denkformel, die die Arbeiterklasse über ihr eignes Sein und Bewusstsein und das der Klassengegner aufklärte, sondern sie wirkte auch als eine motorische Kraft, die ihr Selbstvertrauen und ihre Siegeszuversicht erhöhten. Heute ist diese Antithese in ganz anderem Masse nicht auf die Wirklichkeit abgestimmt, als dies vor einem halben Jahrhundert der Fall war. Sie ist es nicht, weil auch ausserhalb der Arbeiterklasse bei verschiedenen sozialen Gruppen das Wollen und Streben sozialistische Färbung annimmt, weil gewisse Bestrebungen des Staates und vor allem der Gemeinden ein mehr oder weniger ausgeprägtes sozialistisches Element enthalten, und so fort. Sie ist es auch nicht, weil in gewissen Teilen der Arbeiterklasse der Wille zum Sozialismus geschwächt und ihr Begehren auf die Aufnahme bestimmter, meist | |
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minderwertiger bürgerlicher Kulturelemente und auf die Nachahmung meist äusserlicher, unwesentlicher Seiten dieser Kultur gelenkt wurde. Aus allen diesen Gründen braucht die sozialistische Gesellschaftslehre eine neue Formel, um den Gegensatz der sozialistischen zu der kapitalistischen Welt auszudrücken, eine Formel, die sich nicht schablonenmässig nur auf die äussere Lage, auf die Klassenverhältnisse bezieht, sondern die Gegensätze in umfassenderer und tieferer Weise versteht. In der Gegenüberstellung von einer kapitalistischen und sozialistischen Rangordnung der Werte finden wir eine Formel geprägt, die diese Forderung schon in hohem Masse erfüllt. Freilich muss sie noch ergänzt werden, und zwar wird sie es, wie mir scheint, am besten, durch die Gegenüberstellung von mechanischer Gebundenheit und geistiger Freiheit. Die mechanische Gebundenheit ist ja unter allen futchtbaren Auswirkungen des Hochkapitalismus jene, die sich der Forderung einer sinnerfüllten, von innen heraus gestalteten Existenz am entschiedensten widersetzt. Ihre lebens- und religionswidrigen Tendenzen können nur überwunden werden, ‘wenn der heute schon in vielen Menschen lebende Wille, menschlich frei und doch gemeinfam gebunden in Werk und Arbeit, in Genuss und Freude zu leben’, (Klatt) Mittel und Wege sindet, um sich durchzusetzen. Als solch ein Mittel kann die allmähliche Umwandlung der hierarchischen, von oben bestimmten Wirtschaftsform des Kapitalismus in eine Wirtschaftsdemokratie betrachtet werden. Stückweise kann das neue Leben in Freiheit und Zielgebundenheit schon hie und da von zusammengehörigen Gruppen heute verwirklicht werden. Aber nur, wenn die gesellschaftliche Entwicklung in der Richtung zum Sozialismus sich in unserem Sinne vollzieht, wird es möglich werden, die tieferen gestaltenden Kräfte im Menschen entweder (was am meisten wünschenswert erscheint) im Arbeitsleben selbst allgemein in Dienst zu nehmen, oder für ihre Entfaltung ausserhalb der Arbeitssphäre günstige Bedingungen zu schaffen. Die sozialistische Bewegung kann diese Entwicklung in verschiedener Weise fördern. Sie wird es umso besser können, je tiefer sie den Umschwung in der Geisteslage erfasst und je mehr sie jede abgesondert vor sich gehende Tätigkeit auf verschiedenen Lebensgebieten (Politik, Kulturbestrebungen, sozial-ethische Erziehung) zu einer strömenden Mannigfaltigkeit zu vereinen versteht. Sie soll sich dabei leiten lassen von der Einsicht, dass die Aufstellung der schönsten und erhabendsten ethischen Forderungen kaum Spuren im Leben hinterlässt, wenn es nicht gelingt, sie mit den tagtäglichen Lebensanforderungen zu verbinden und etwas von ihrem Inhalt in den Sitten und Gewohnheiten zu fixieren. Die sozialistische Ethik, die sich in der Arbeiter-Bewegung bildete, war bis vor kurzem wesentlich Kampf-Ethik. Sie machte den Arbei- | |
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tern die Solidarität zur Pflicht und gewöhnte sie daran, diese, wenn auch meist innerhalb ziemlich enger Grenzen, auszuüben. Sie lehrte die Arbeiter, den Alkohol zu lassen, nicht nur aus dem in ihnen erstarkenden Gefühl ihrer menschlichen Würde heraus, sondern auch weil sie des Rausches nicht länger bedürften, um im Leben auszuhalten, nachdem die Verheissung des Sozialismus in ihr Dunkel hereingebrochen sei. Im Marxismus wurde diese Ethik bis zu einem gewissen Masse gestaltet. Auf dem Fundament des Trieblebens, der Selbstachtung und der sozialen Gefühle erhoben sich der Wille zur sozialen Gerechtigkeit und die proletarische Solidarität. Sie bilden die Grundlagen des proletarisch-sozialistischen Ethos. Der Marxismus hat die Bedeutung des ethischen Willens als motorischer Kraft in der sozial-umwälzenden Praxis nie geleugnet, aber sein Irrtum war, zu glauben, dass es möglich sei, diese Kraft auf die Dauer lebendig und stark zu erhalten in Massen, die gelehrt wurden, im ‘Klassen-Interesse’ das Hauptmotiv ihres eigenen sowie jedes menschlichen Handelns zu erblicken. Die Behauptung des Marxismus, es führe das proletarische Klassen-Interesse im Gegensatz zu dem der Bourgeoisie, die sich ja auf dem absteigenden Ast der Entwicklung besinde, von selbst zur Steigerung von sozialen Gefühlen, wie Solidarität, Treue zu der Sache, Opferwilligkeit und Heldenmut, wirkte nicht anders als jede Suggestion wirken muss, die Menschen in dem Wahn erzieht, es seien eine ununterbrochene Selbstkontrolle, ein ununterbrochener innerer Kampf gegen Egoismus, Trägheit, Schlendrian für sie überflüssig. Er, der Marxismus, hat in den Arbeitern, welche ihn annahmen, jene Selbstzufriedenheit und geistige Sattheit gezüchtet, die Gustav Landauer so hassenswert vorkam und in der dieser tiefe Geist mit Recht eine so schwere Gefahr für die Verwirklichung des Sozialismus witterte. Dabei hatte die aggressive und halb militaristische Art, in der der Klassenkampf aufgefasst wurde, sowie seine Festsetzung im Bewusstsein als ein absoluter Wert, nicht unbedenkliche Konsequenzen. Sie führten zu einer hämischen Disposition dem ‘Klassenseind’ gegenüber. Bei der gewaltigen Provokation, die die Misshandlung der Arbeiterklasse im Kapitalismus an und für sich bildet, ist es kein Wunder, dass die Erhebung des Klassenkampf-Gedankens zum Kern der sozialistischen Lehre eine nur zu natürliche Einseitigkeit und Verengung des Bewusstseins förderte. Härte, ja Unmenschlichkeit einem Feinde gegenüber, dessen eigene Handlungen jeder Gerechtigkeit spotteten und der kein einziges, noch so unmenschliches Mittel verschmähte, um seine Herrschaft zu behaupten, schienen vollkommen natürlich und erlaubt. Die Grossmut, welche die sozialistischen Kämpfer der vormarxistischen Periode im allgemeinen | |
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ausgezeichnet hatteGa naar voetnoot1), schien dem utilitarischen marxistischen Militarismus kindische Romantik. Derselbe utilitarische Gesichtspunkt führte zur übermässigen Betonung des Interesses, was wohl nicht anders konnte, als einen gewissen Materialismus der Gesinnung aufkommen zu lassen, der auf die allgemeine Klassenfolidarität lähmend wirkte und zu einer Abschliessung der bessergestellten Gruppen nach aussen zu, sowie zu einer gewissen Gleichgültigkeit für das Leiden tiefer stehender Gruppen (ungelernter Arbeiter, Jugendlicher, Frauen, Landarbeiter, Farbiger u.s.w.) führte. So bekam in den ökonomisch kräftigsten Teilen der Arbeiterschaft ein nüchterner Utilitarismus die Oberhand, der sich selbst für überaus ‘praktisch’ hielt, in Wirklichkeit jedoch eine Hemmung wurde für alle heroischen Formen des Kampfes, wie der Sympathie- oder Solidaritätsstreik, für praktischen Antimilitarismus und Anti-Imperialismus, für eine weitherzige Solidarität mit allen Unterdrückten, allen Opfern der Ausbeutung und der Klassenjustiz. Mit der Verherrlichung, ja Vergottung des Klassenkampfes ging selbstverständlich eine stark negative Einstellung in Bezug auf die heutige Gesellschaft Hand in Hand. Diese wurde ‘en bloc’ als kapitalistisch abgeurteilt. Alles was mit der bürgerlichen Welt in Verbindung stand, wurde mit den Augen des Hasses und des Misstrauens betrachtet. So wurde viel aufrichtige Bereitschaft zur gemeinsamen Arbeit für bessere Verhältnisse abgestossen und viel guter Wille versandete ungebraucht. Hier erwarten einen sich erneuernden Sozialismus gewaltige Aufgaben, deren er nicht ohne grossen sittlichen Mut und starken Wahrheitssinn Herr werden kann. Es gilt aufzukommen gegen Gedanken und Gefühlsformen, die in Millionen Menschen zu Dogmen erstarrt sind. Es gilt den Kampf zu führen gegen einen demagogischen Einschlag im Sozialismus, der seine Reinigung von den durch die Jahre angesammelten Schlacken, seine Vertiefung und innerliche Verfestigung erschwert. Es gilt das sittliche Bewusstsein der kämpfenden Arbeiterschaft zu vereinheitlichen, in ihr das Bewusstsein zu erwecken, dass, wenn es ‘Klassenpflicht’ ist, immer grössere Rechtsforderungen an die heutige Gesellschaft zu stellen, es individuelle Pflicht ist, an die eigene Person ethische Forderungen zu stellen. (H. de Man.) Es gilt, den Gedanken in ihr Wurzel fassen zu lassen, dass die Verantwortung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht in eine unbekannte Zukunst verlegt werden darf. Es ist freudig anzuerkennen, dass auf diesen Gebieten eine gewisse Aenderung bereits eingetreten ist. Das Gefühl der Verantwortung für die Gestaltung des Heute ist in der sozialistischen Bewegung im Wach- | |
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sen begriffen. Sowohl der neue geistige Impuls, der von verschiedenen Seiten her einsetzt, als die Steigerung der Möglichkeiten, wenigstens für gewisse Schichten der Arbeiterschaft, ihr menschliches Verantwortungsgefühl zu betätigen und zu üben, sind an diesem Wachstum beteiligt. Jedoch bleibt noch sehr viel zu tun übrig. Das Gefühl des Unrechts, das am Arbeiter verübt wird, verbreitet sich durch alle Schwingungen seines Bewusstseins und gibt allen seinen Vorstellungen eine bestimmte Klangfarbe. Die Arbeiterklasse hat das Gefühl, tagtäglich auf dem Altare der kapitalistischen Gewinn- und Genusssucht geopfert zu werden. Sie fühlt sich als den Teil der Gesellschaft, der ewig zu kurz kommt, als die enterbte Klasse, der verweigert wird, was die Reichen in Hülle und Fülle besitzen. Sie fühlt sich nicht nur, sondern sie ist dies alles. Deshalb ist es nur zu begreiflich, dass ihrem ethischen Bewusstsein das Schuldgefühl fehlt. Gertrud Hermes schreibt dies Fehlen eines inneren Verhältnisses zu Schuld und Sühne der Tatsache zu, dass die Arbeiterklasse eine aufsteigende, vorwärtsstürmende Klasse ist. Gegen die Richtigkeit dieser Auffassung spricht wohl erstens der Umstand, dass es in dieser Beziehung bei der Bourgeoisie gar nicht besser steht, obwohl sie heute gewiss keine aufsteigende Klasse mehr ist und zum Schuldgefühl reichlichen Grund hätte. Dazu kommt, dass auch in Zeiten oder bei Geschehnissen, wo von Aufstieg, Sturm und Eroberung keine Rede sein kann, ja sogar nach schweren, schmerzlichen Niederlagen, jede Erkenntnis, wahrscheinlich auch jedes bewusste Gefühl einer Schuld, in der Arbeiterklasse ausbleibt. Es bleibt auch dann aus, wenn die Verschuldung ganz ausser Frage steht, wie beim sozialistischen Bruderzwist. Hier scheint es wohl sicher, dass die übermässig intellektualistische Auffassung des Marxismus, seine Art, alle Probleme des sozialen und persönlichen Ethos in politisch-wirtschaftliche Probleme aufzulösen und so ‘wegzuerklären’, das Bewusstsein der Arbeiterklasse ungünstig beeinflusst hat. Es führte dies zur gewohnheitsmässigen Unterdrückung der Gefühle von Schuld und Reue, was dann wieder verhängnisvolle Folgen für das ganze Seelenleben hatte. Denn jedes religiöse Tiefenerlebnis steht mit diesen Gefühlen, sowie mit ihrer Ueberwindung durch Sühne und Versöhnung, im innigsten Zusammenhang. Dies Erlebnis kann gar nicht aufkommen, so lange Schuld, Reue und Sühne aus dem bewussten Gefühlsleben verdrängt werden. Deshalb haftet dem inneren Leben des Einzelnen wie der sozialen Gruppen, denen sie fehlen, eine gewisse Dürftigkeit, Flachheit und Armseligkeit an. Es ist, als fehlte diesem Leben eine dritte Dimension. In der Bourgeosie ist es schon längst in Bezug auf die Sphäre des sozialen Lebens zu einer weitgehenden Verhärtung und Verkalkung des Gewissens gekommen. Absolut ist diese Verhärtung glücklicherweise noch nicht. Sowohl die Sozialpolitik als die eigentliche Philanthropie und viele mit ihr zusammenhängende soziale Bemühungen | |
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können in gewisser Hinsicht als Aeusserungen des Strebens der Bourgeoisie betrachtet werden, ihre unermessliche Schuld dem Proletariat gegenüber abzutragen und durch ‘Ersatzgaben’ das sich immer wieder aufdringende Schuldgefühl loszuwerden.Ga naar voetnoot1) Nicht den Mangel an sogenannter ‘Kultur’, sondern das Fehlen des bewussten Schuldgefühls und im allgemeinen die Bevorzugung des Rationalismus und die Unterbindung jedes tiefen und innigen Seelenlebens, jedes religiösen und mystischen Erzitterns, betrachte ich als die Hauptursache der Armseligkeit und Oede, welche in der Sphäre sozialistischer Verkündigung, in der sozialistischen Presse usw. leider vielfach herrscht und sich u.a. auch im schablonenhaften Charakter der meisten politischen Arbeiterlieder, die russischen ausgenommen, zeigt. In allem, was sich auf das innere Leben und das religiöse Erlebnis bezieht, hatten die dem Glauben der Väter noch anhängenden Arbeiter einen Vorzug vor ihren ‘aufgeklärten’ und ‘klassenbewussten’ Kameraden. Den protestantischen Arbeitern blieb die prophetische Sprache und der unerschöpfliche Reichtum der Bibel erhalten, sowie den katholischen die tiefsinnige Schönheit mancher Kultushandlungen und Gebete. Die sozialistischen Arbeiter dagegen konnten ihren Durst nach überrationeller Lebensweisheit und Schönheit nur laben am Quell jener im Kampf entstandenen Volkspoesie, und dieser Volkspoesie fehlt gerade die Innigkeit, welche mit dem demutvollen Gefühl der eignen Unzulänglichkeit dem Unbedingten gegenüber zusammenhängt. Es sindet sich in dieser Poesie Trotz, Kampfeslust, Eifer, Begeisterung genug. Aber es fehlt ihr vollkommen jede Demut, jedes Bedürfnis nach innerer Erlösung. Deshalb kann die marxistische Volkspoesie z. B. nicht den Vergleich aushalten mit der kämpferisch-religiösen Volksdichtung des 16. Jahrhunderts, die in den Geuzenliedern zu uns gekommen ist, von der herrlichen mittelalterlichen, weltlich-geistigen Volkspoesie ganz zu schweigen. Es fehlt der marxistisch-kämpferischen Volksdichtung jede tiefere Resonanz. Sie hat den Anschluss verfehlt sowohl an die innigsten persönlichen Gefühle als an die Empfindung der kosmischen Verbundenheit. Die Erweckung des Schuldgefühls im Arbeiter ist zunächst nur denkbar als die Besinnung auf die Schuld, die er gegen seine Brüder auf sich geladen hat durch die Verletzung der proletarischen Solidarität, die Entzweiung und den Bruderzwist. Es ist ja gar nicht anders möglich, als dass ein sich durch viele Jahre hindurch ziehender Bruderkampf, wie er in den abscheulichsten Formen heute vor allem in Deutschland stattsindet, und wobei jeder Teil dem andern gegenüber eine furchtbare Blutschuld auf sich geladen hat, ein erdrückendes | |
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Schuldgefühl hervorrufen muss, dessen immer wieder erfolgende Verdrängung zweifellos schreckliche Verwüstungen in der kollektiven Arbeiterseele anrichtet. Nur aus dem ganzen psychologischen Zusammenhang ist die unendliche Verbitterung, womit Sozialisten und Kommunisten einander gegenüberstehen, mehr oder weniger verständlich. Jedes Streben nach einem gerechten Urteil über die ‘Andern’ hat die Erkenntnis eigener Versündigung zur Vorbedingung. Hier ist neben besserer Einsicht in die eigenen politischen Fehler und Irrtümer das Bewusstwerden des Schuldgefühls die unerlässliche Vorbedingung wirklicher Gesundung. Nur ein Sozialismus, der in dieser Hinsicht dem Peinlichsten und Schwersten nicht ausweicht, sondern es offen ausspricht, und damit ringt, schafft die Grundlage für eine bessere Zukunst. Hier, im tieferen Eingehen auf die eigenen Verfehlungen, als einen unter den Gründen des Bruderzwistes, der die Kräfte der Arbeiterschaft nutzlos verzehrt, sowie überhaupt auf die Probleme der Gewalt, des Bolschewismus, der Erhebung der Kolonialvölker - hier liegt der Punkt, von wo aus es vielleicht möglich ist, das Gefühl der Verschuldung dem Absoluten gegenüber bewusst zu machen und die Richtung auf ausserzeitliche Werte zu verstärken. Hier liesse sich vielleicht am ehesten eine Verankerung der zeitlichen Werte in der unendlichen Gemeinschaft zustande bringen. Nur eine solche Verankerung wird die Gefahren überwinden können, welche heute den Sozialismus wesentlich bedrohen - Gefahren, die man ganz allgemein als Verflachung und Verwilderung bezeichnen kann. Der Sozialismus verflacht, wenn er dem Augenblick verfällt und aufgeht in zeitlich begrenzten Zielen, statt diese den überzeitlichen unterzuordnen. Er verflacht, wenn er seine Werte nicht rein denen des Kapitalismus entgegenstellt, sondern beide des Augenblickserfolges wegen vermischt. Der Sozialismus verwildert, wenn er des äusseren Erfolges wegen seine Zuflucht nimmt zu Mitteln, die seinem Wesen widerstreben und deren gewohnheitsmässige Anwendung den sittlichen Charakter der Kämpfer schädigen und den Kampf herabziehen muss. Sobald der Sozialismus, sei es nach der einen oder der andern Seite, zu weit von der Norm abweicht, bedeutet jeder äussere Erfolg für ihn einen inneren Verlust, weil er durch ihn weiter Schaden leidet an seiner Seele. Ein Sozialismus, der aus Neigung zur Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft der kapitalistischen Klasse weitgehende Zugeständnisse macht, wird innerlich ausgehöhlt und verwandelt sich zuletzt in etwas, das nur dem Namen nach noch Sozialismus ist. Dasselbe ist der Fall mit einem Sozialismus, welcher der Eroberung der Macht oder ihrer Befestigung wegen grausame Unterdrückung übt und gewohnheitsmässig Gewalt anwendet. Der Sozialismus wächst nur wirklich, wenn mit zunehmender Machtentsaltung in der äussern Sphäre zunehmende Verfestigung und Verwurzelung in der inneren zusammengeht. Denn er ist nicht nur | |
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eine neue Form der Eigentums- und Produktionsverhältnisse, die von der Vergesellschaftlichung der wichtigsten Wirtschaftsgebiete ihren Stempel bekommt, sondern auch eine höhere Gestaltung der menschlichen Existenz, die gekennzeichnet wird durch freudige Anerkennung allseitiger Verantwortung und gegenseitiger Verpflichtung, durch eine Ausdehnung des Feldes gegenseitiger Hilfe weit über das heute bestehende Mass hinaus und ein starkes Wachstum brüderlicher Gerechtigkeit. Der Sozialismus kann allerdings nicht die Frucht nur des Strebens nach innerseelischem Heil und der Ausübung christlicher Nächstenliebe sein. Zu seiner Realisierung ist der Kampf gegen die Macht des Kapitals, des Konservatismus, des Schlendrians und der Vorurteile nötig, die Einsicht in die zeitweiligen Verhältnisse und Möglichkeiten, die Fähigkeit ihrer Entwicklung über das Bestehende hinaus, überhaupt der Gestaltung des formlosen Lebensstoffes. Ebensosehr bedarf er der religiösen Vertiefung, der Ehrfurcht für das Lebenswunder und für das Heilige im Menschen, des Gefühls der wesentlichen Verbundenheit des Einzelnen mit der Menschheit und dem Kosmos, und des Bewusstseins der unendlichen Verpflichtung gegenüber dem Grund alles Seins. So ermöglicht der Umschwung im Geistesleben eine Wendung im Sozialismus, die seiner Verjüngung und Erneuerung gleichkäme. Im Anschluss an diesen Umschwung muss der Sozialismus trachten, der inneren Wandlung wie dem äusseren Ausbau gerecht zu werden, weder den Kampf zu scheuen, noch die Lebensgestaltung zu vernachlässigen, die Schaffung der geistig-sittlichen Voraussetzungen zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung mit der der ökonomisch-politischen zu vereinen. Bei seinem ganzen Streben soll er sich von den Gesetzen aller organischen Entwicklung leiten lassen. Das innere, auf ein Ziel gerichtete Streben passt sich in dieser Entwicklung dem Stoff der äusseren Umstände und Verhältnisse zwar bis zu einem gewissen Grade an, doch ist es diesem Stoff gegenüber nie völlig passiv, im Gegenteil: es gebraucht ihn und bildet ihn um. Es krankt heute die Politik des Sozialismus an demselben Mangel wie seine Wissenschaft und seine Ethik: Sie versteist sich auf Grundsätze, die in eineren früheren Periode eine freilich bedingte Richtigkeit hatten, heute jedoch veraltet sind. Bedingt richtig war das Prinzip der Nur-Aggreffivität, der rein negativen Einstellung zur bürgerlichen Gesellschaft, war die Auffassung dieser Gesellschaft als einer auf allen Gebieten dem Proletariat seindlichen Ganzheit. Bedingt richtig war, wenn das auch zum Vorhergesagten in einem gewissen Widerspruch zu stehen scheint, die Anerkennung der Landesverteidigung in einer Epoche, wo Angriffs- und Verteidigungskrieg sich noch wirklich voneinander unterschieden und die Befreiung und Befestigung west- und füdeuropäischer National-Staaten noch einen Schritt vorwärts bedeutete auf dem weiten Wege zur Gemeinschaft der freien Völker. | |
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Bedingt richtig war schliesslich, besonders gewissen maschinenzerstörerischen Neigungen in der Arbeiterschaft gegenüber, das Eintreten für jede Verbesserung der Technik, auch wo diese anfänglich zur Arbeitslosigkeit führte, in jenen Zeiten, da die Frage, wie die Produktivität der Arbeit gleichen Schritt halten könnte mit dem Wachstum der Bevölkerung, noch ungelöst war. Heute ist all dieses bedingt Richtige unrichtig geworden. Der Sozialismus hängt noch immer an veralteten Anschauungen; er hat weder eine richtige wissenschaftliche, noch eine richtige ethische Grundlage. Und weil diese fehlen, haben die sozialistischen Parteien heute auch keine sichere, den Massen verständliche, prinzipielle, grosszügige, tapfere und praktische Politik. So lange diese fehlt, wird es ihnen nicht gelingen, die werktätigen Massen in einer mächtigen, von einem Willen und einem sittlichen Ideal getragenen Bewegung gegen Krieg und Militarismus zu vereinen. Es wird ihnen nicht gelingen, die zersplitterten Kräfte gegen die Tyrannei des Faschismus zusammenzuziehen und der Schreckensherrschaft wirksam entgegenzutreten, mittels deren er seine Macht handhabt. Es wird ihnen nicht gelingen, der Anziehungskraft, die der Bolschewismus auf manche feurige Naturen und auf gewisse Teile des Proletariats ausübt, durch einen nicht äusserlichen, sondern prinzipiellen Radikalismus entgegenzutreten. Und es wird ihnen ebensowenig gelingen, die Kräfte aufzubringen zur zielbewussten Abwehr einer Art von Rationalisierung, die weder die Schonung des Menschen noch die Vermehrung der allgemeinen Wohlfahrt zum Zweck hat, sondern einzig und allein die Steigerung der kapitalistischen Gewinne. Hier, wo es gilt, den Menschen als körper-geistige Einheit zu schützen, vielleicht sogar vor drohender kollektiver Mechanisierung zu retten, steht der Sozialismus ratlos, weil er selbst vielfach der Vergottung des technisch-organisatorischen Fortschrittes verfallen ist. Hier können innerhalb der sozialistischen Gesamtbewegung fast nur jene Strömungen, welche den Wert der Persönlichkeit immer hochhielten und in ihrer Entfaltung eine Voraussetzung einer wirklichen sozialistischen Gemeinschaft erblickten, den Kampf gegen die Verirrungen der Rationalisierung aufnehmen und der Arbeiterschaft helfen, ihren intuitiven Abscheu gegen diese Verirrungen zum bewussten, einsichtsvollen Willen zu entwickeln.Ga naar voetnoot1) Schliesslich muss auch der Kampf gegen die Kolonialherrschaft und für die Befreiung der farbigen Rassen erwähnt werden, als ein Problem, das bis jetzt weder von der sozialistischen Wissenschaft noch vom sozialistischen Ethos gelöst wurde: deshalb bildet es wohl auch den | |
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schwächsten Punkt der internationalen sozialistischen Politik. In der Unterjochung von vielen Millionen Menschen, von hunderten von Völkern, sehr verschiedenen Kulturformen zugehörig und auf sehr verschiedenen Kulturstufen stehend, hat der Imperialismus den kommenden Geschlechtern ein furchtbares Problem aufgeladen. Eine Sphinx steht vor uns, die die weisse Rasse und ihre Kultur verschlingen wird, wenn es uns nicht gelingt, ihr Rätsel zu lösen. Grosses, weit ausgebreitetes Wissen ist dazu erforderlich, Wissen von uns selbst und von diesen anders gearteten, durch die geschichtlichen Mächte Jahrhunderte lang anders Geformten. Jedoch dieses Wissen genügt nicht: es ist auch notwendig ein starkes Gerechtigkeitsgefühl, das sich über die Furcht vor der Schmälerung der eigenen Existenzbasis hinwegsetzt, das Gefühl menschlicher Solidarität mit diesen Millionen, die brüderliche Liebe auch für die, welche uns heute hassen. Notwendig ist die heroische Gesinnung, welche der Sozialismus in der Arbeiterklasse einst erweckt, die jedoch ein zu sehr im Endlichen gefangener Sozialismus in ihr wiederum geschwächt hat. Diese Gesinnung, weit entsernt davon, eine Katastrophe der bürgerlichen Welt zu fürchten, wünscht diese sogar herbei, wenn sie der einzige Weg zur sozialen Freiheit und Gleichheit wäre. Den utilitarischen Auffassungen, im Namen derer das Gruppen-Interesse in den Vordergrund gestellt wird, soll der Verzicht auf diese Interessen im Namen der sozialistischen Ideale entgegengestellt werden. Dies zu tun, vermag freilich nur ein von religiösen Gefühlen und Erlebnissen durchtränkter Sozialismus. Der heutige politische Marxismus vermag es ebensowenig wie der Bolschewismus. Deshalb nimmt jener sich der Sache der Kolonialvölker nur in lauer, halbherziger Weise an und zaudert er, ihren Kampf um Freiheit tatkräftig zu unterstützen, während dieser sie zwar aufrüttelt, - jedoch nur aus den Interessen des russischen Sowjet-Staates und aus dessen Gegensatz zu den bürgerlich-imperialistischen Staaten gegenüber handelt. Die neue Orientierung in der Wissenschaft ist also durchaus einer Umbildung des Sozialismus förderlich, die die Revolutionierung der geistig-ethischen Sphäre als einen ebenso wichtigen Teil der sozialistischen Lebensgestaltung betrachtet wie die des ökonomisch- politischen Gebietes, - ja in gewisser Hinsicht der ersten die Priorität zukennt, weil nur aus der geistigen Umwandlung der Wille und die Kraft zur wirtschaftlichen Umgestaltung erwachsen. Zweitens mahnt uns diese neue Orientierung, unsere Aufmerksamkeit von einem Teilgebiet des gesellschaftlichen Geschehens auf das ganze, d.h. auf den Gesamtprozess des sozialen Lebens zu lenken, weil sie, unendlich mehr als die ältere, mechanistisch gerichtete Wissenschaft uns Einsicht gibt in den innigen Zusammenhang alles Bestehenden und in die vielartige, von zahllofen Quellen genährte, nach allen Seiten spriessende Mannigfaltigkeit, die alles Geschehen darstellt. | |
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Das Zeitalter der nurkritischen Einstellung ist für den Sozialismus vorüber. Er kann sich nicht länger damit begnügen, die politische und soziale Wirklichkeit anzuklagen und den Staat als ‘Vollzugsausschuss der besitzenden Klassen’, wie die marxistische Formel lautet, darzustellen. Der Sozialismus ist ja heute selbst in die sozialpolitische Wirklichkeit als Macht eingerückt, wenn auch diese Tatsache die andere nicht aufhebt, dass die Arbeiterklasse noch immer eine unterdrückte Klasse ist. Aber sie hat Organe ausgebildet, Mittel und Wege aussindig gemacht, deren Zweck es ist, die seindliche Wirklichkeit allmählich konkret zu überwinden. Der Sozialismus ist dazu berufen, um diese Ueberwindung auf allen Gebieten zu ringen, ohne sich mit der Wirklichkeit auszusöhnen und ohne Illusionen zum Opfer zu fallen. Dieses Ringen vollzieht sich in den letzten Jahren nicht länger ausschliesslich auf dem Felde des politischen Kampfes. Es erweitert sich das Gebiet immer mehr, auf dem der Sozialismus bestrebt ist, die gesellschaftlichen Beziehungen mit neuem Sinn zu erfüllen und das Leben seinen Idealen gemäss zu gestalten. Zugleich wächst die Einsicht, dass sozialistisches Handeln und Leben schon heute bis zu einem gewissen Grade möglich sind: die Einsicht, dass seine Jünger versuchen sollen, alle seine Keime, von welcher Art sie seien, zu pflegen, jeden schon geschaffenen Apparat, jede Institution und jede Organisation sozialistisch zu verwerten, d.h. im Sinne des Sozialismus innerlich umzuwandeln und äusserlich auszubauen. Hier, auf dem Gebiet der sozialistischen Lebensgestaltung, harrt eine Fülle der Aufgaben, die vielleicht noch lange nicht alle erkannt sind. Jedenfalls wird an die meisten von ihnen erst verstreut und vereinzelt Hand angelegt. Hie und da wird versucht, in der Richtung auf den ganzen Menschen zu wirken, indem man die Arbeiterbildung in Lebensgemeinschaften von verschiedenem Typus und verschiedener Intensität betreibt. Man trachtet etwas von der Kameradschaft, wovon wir glauben, dass sie im kommenden Reich alle Menschen mehr und mehr umschliessen wird, schon heute im Umgang zwischen Jungen und Alten, Lernenden und Lehrern, Hand- und Kopfarbeitern zu verwirklichen. Man versucht ein sinnvolles, sittliches und freies, auf edlerer Erotik beruhendes Verhältnis der Geschlechter durchzuführen. Man ist bestrebt, in Andachtsstunden, in Festen, Feier-Wochen u.s.w. den ganzen Menschen zu erfassen und zugleich der Glaubenskraft wie der Sehnsucht, dem Frohmut wie der sittlichen Empörung der strebenden und kämpfenden Klasse sinnvollen Ausdruck zu verleihen. Man versucht in der sozialistischen Kinderbewegung die Autonomie des Einzelnen und der Gruppe durchzusetzen; man ist bestrebt, Kinder zu erziehen zu einer freiwilligen Zucht, die in innerer Freiheit wurzelt und zum harmonischen Sich-verhalten in der grösseren sozialen Einheit führt. Es erwacht die Erkenntnis | |
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- die man nicht zuletzt der experimentellen Psychologie und der Physiologie verdankt - dass die kleinste Aenderung der Lebensgewohnheiten und Sitten in der Richtung auf Verantwortung, innere Verpflichtung und Zusammengehörigkeit wichtiger ist als die scharfsinnigste Analyse der gegebenen Kräfte, die herrlichste Rede, die klarste und schärfste Resolution, wichtiger als alles revolutionäre Gebaren auf der Strasse. Man fängt an zu begreifen, dass die Hauptschwierigkeit immer wieder ist, vom Gedanken, vom Wort, von der Erörterung den Weg zu finden zum Handeln, - den Weg zu den Taten, die etwas, wie wenig auch, am Getriebe der Welt verändern. Man fängt an, sich vom archaischen Glauben an die magische Kraft des Wortes zu befreien. Im heutigen Sozialismus bricht eine doppelte Erkenntnis sich Bahn. Erstens die von der Gebundenheit seiner Verwirklichung im Grossen an kleine Aenderungen im Gefüge des Alltags, in den Sitten und Lebensgewohnheiten zuerst einer Vortruppe und allmählich grösserer Massen. Und zweitens die von der Wahrheit, dass der Mensch eine Ganzheit ist und als Ganzheit erfasst werden muss, woraus die Unzulänglichkeit und Dürftigkeit jeder sozialistischen Bewegung folgt, die sich auf das politische Gebiet beschränkt. Jedoch auch mit der Auffassung des ganzen Menschen ist es noch nicht genug. Denn der Mensch wirkt ja in einem ‘Felde’, er ist mit seiner Umwelt wesentlich verknüpft. Deshalb muss der Sozialismus bestrebt sein, gleichzeitig auf den Menschen, bezw. auf die soziale Gruppe und auf die Umwelt einzuwirken. Das modifizierte Lebensfeld wirkt dann wieder auf den Einzelnen und auf die Gruppe zurück. Auf die ganze gesellschaftliche Umwelt soll die Wirkung sich erstrecken, damit von diesem Ganzen Wirkungen ausgehen: auf die Wohnung, die Arbeits- und Berufsverhältnisse, die Schule, den Sportplatz, die Ferienkolonie, das Krankenhaus. Als besonders wichtig sind die Sphären der Berufs- und der Wohnverhältnisse zu betrachten. In den ersteren gilt es immer weiter den Rechtsschutz auszubauen, der das Menschentum des Arbeiters gegen die Uebermacht des Kapitals beschirmt, und das Mitbestimmungsrecht im Betrieb durchzusetzen, das es ihm ermöglicht, dies Menschentum gegen die Tyrannei der mechanisierten Arbeit zu verteidigen. Bei den Wohnverhältnissen ist es nicht genug, Reformen des Wohnungswesens zu erstreben, die ein wirkliches Familienleben ermöglichen, für Luft und Licht zu sorgen, sowie für alle Einrichtungen, die der Hausfrau die Arbeit erleichtern. Es soll auch der Verspiesserung entgegengewirkt werden, die gerade den besser gestellten Arbeitern droht. Womöglich sollen bei grösseren Blocs gemeinschaftliche Speise- und Erholungssäle gebaut werden. Vor allem soll die Schaffung von gemeinsamen Spielplätzen bezw. Spielräumen für Kinder ins Auge gefasst werden, damit die jüngere Generation auch im Heim zu stär- | |
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kerem Gemeingefühl erzogen werde. Das Beispiel von Menschen, die als Pioniere des gemeinsamen Haushalts auftreten, möchte von nicht geringer Bedeutung sein. Der geschlossene Haushalt der Kleinfamilie ist gewiss nicht in Einklang mit einem sozialistischen Aufbau der Gesellschaft. Dort wo sie, die Kleinfamilie, wie heute in Russland und zum Teil in Deutschland, von der sozialen Not auseinander gebrochen wird und ihre Mitglieder hinausgejagt werden in die Fabriken und öffentlichen Speisehallen, die Klubs, die Kleinkinderbewahrplätze, dort bringt die Umwandlung so viel Schmerz, Reibung, Härte, Leere und Unsitte mit sich, dass jeder Schritt zum sozialistischen Gemeinleben furchtbar teuer bezahlt wird. Was Not und Druck in dieser Hinsicht schaffen, das hat ja immer einen gezwungenen und peinlichen Charakter. Bestenfalls kann es ein Ausgangspunkt für eine neue Entwicklung sein. Dagegen ist, was freiwillig geschaffen wird aus Gesinnung und Ueberzeugung heraus, wirklich ein Vorwegnehmen einer kommenden besseren Welt. Dies Letzte ‘gewissermassen’ zu sein, gibt wohl auch allen Versuchen sozialistischer Siedlung einen Wert, der weit über den praktischen, materiellen Erfolg hinausgeht. Jede Siedlung, die sich in der kapitalistischen Umwelt behauptet, ist ein Zeuge für den Sozialismus. Die Zusammenarbeit auf genossenschaftlicher Grundlage, die Ersetzung der erzwungenen kapitalistischen Disziplin durch eine freiwillige kameradschaftliche - das sind lebendige Widerlegungen der Behauptung, dass der Mensch nur zu arbeiten vermöge entweder unter dem Ansporn der Not oder angetrieben von der Profitwut. Auf die Bedeutung von Schule und Erziehung in diesem Zusammenhang hinzuweisen, ist kaum notwendig. Auch an diesem Punkt soll der Sozialismus seine besten Kräfte einsetzen. Die Notwendigkeit einer Umsormung des Unterrichts, die diesen als einen Teil des Lebens auffasst, ergibt sich aus der wissenschaftlich-psychologischen Umstellung nicht weniger als die einer Durchdringung des Unterrichts mit dem Geist der Selbsttätigkeit und gegenseitigen Hilfe. Die Volkserziehung bleibt heute hinter den neugewonnenen Einsichten ebenso sehr zurück, wie die sozialen Lebensformen hinter dem technischen Können. Die Erziehung zur persönlichen Verantwortung und die soziale Anpassung an die Gruppe, die Erweckung der Selbstachtung und der Achtung für die Persönlichkeit anderer, die Scheu, sie zu vergewaltigen, sie sollen aufgefasst werden als einander ergänzende Elemente in der Erziehung zu sozialistischem Menschentum. In Bezug auf die Erweckung des Geistes der Humanität sei man eingedenk, dass Moralpredigten bekanntlich eine äusserst geringe Wirkung haben. Auch hier gilt es, das Gemüt zu treffen und die Fantasie anzuregen. Die Kunst könnte und sollte hier Grosses schaffen, allererst in Bezug auf den Kampf gegen den Krieg, nicht so sehr auf negative Art, durch Darstellung seiner Greuel, als dadurch, dass sie das Pathos des frei- | |
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willigen Opfers und der brüderlichen Hingabe durch Wort, Bild, Musik, Lichtbild u.s.w. darstellte. Von vorzüglicher Bedeutung wäre auch eine erzieherische Leitung, die dem Kinde hilft, in seiner Seele die Furcht zu überwinden. Es gibt kaum eine andere seelische Disposition, welche einerseits so sehr dem Gewaltglauben Vorschub leistet, anderseits so stark zur herdenmässigen Massendisziplin disponiert. In der Jugendbewegung haben positiv sozialistischen Wert alle jene Tendenzen zur ‘Lebensreform’, die den jungen Menschen lehren, den Quantitätswert, der ja der typische kapitalistische Wert ist, zurückzustellen und sich nach Qualitätswerten zu richten. Auch die der Versklavung an gewisse materielle Bedürfnisse (Alkohol, Tabak, Naschen) entgegenwirkenden Tendenzen auf Abstinenz und Askese sind wertvoll als Voraussetzung zu geistiger Konzentration, geschlechtlicher Reinheit und richtiger Würdigung höherer Lebensgenüsse. Die Erkenntnis der Bedeutung der ‘Ganzheit’, die jetzt im Sozialismus erwacht, soll noch in anderer Weise betätigt werden. In der Epoche, die hinter uns liegt, wurde der Sozialismus aufgefasst als die ausschliessliche Angelegenheit der Arbeiterklasse. Er wollte ja selber nichts anderes sein; er schloss sich innerhalb der Grenzen der Klasse ein; er wollte nur der Klasse dienen, die Klasse erlösen. Die übrige Menschheit existierte entweder nicht für ihn oder sie war in der Gegenwart der Feind, gegen den seine Angriffe sich richteten und den er vernichten wollte. Zwar zielt auch der marxistische Sozialismus in der Theorie auf die Erlösung aller Klassen, auf die Beglückung der gesamten Menschheit, dieses kann jedoch nur geschehen nach der Katastrophe, das heisst in einer ungewissen Zukunst. Auch in dieser Hinsicht hat der Sozialismus, der sich selbst, zur Auszeichnung vor allen anderen, den ‘wissenschaftlichen’ nannte, gezeigt, dass er noch mit starken utopischen Elementen belastet war. Keine Klasse kann wirken, ohne auf andere zu wirken, keine sich selbst umwandeln, ohne dies gleichzeitig mit der Gesellschaft zu tun. Der Kampf der Arbeiterklasse, ihr Aufstieg, ihre Verwandlung, sie haben tiefe Wirkungen auf die Politik, auf die Wissenschaft, auf den Staat, auf das ganze öffentliche Leben ausgeübt. Die Gesellschaft ist ja ein strukturiertes Gebilde; wenn zwischen ihren verschiedenen Teilen heute auch gegenseitige Interessen bestehen, so stehen diese Teile dennoch zu einander im Verhältnis von gegenseitiger funktioneller Abhängigkeit. Die Arbeiterklasse ist von der Geschichte dazu berufen, die Hauptmacht zu bilden im Kampf für die sozialistische Gesellschaftsordnung. Nur in ihr konnte der Gedanke der klassenlosen Gesellschaft sich tief verwurzeln; ihr fällt die Hauptaufgabe zu, den Widerstand der monopolistischen Bourgeoisie und ihres Anhangs zu brechen. Wer ihr den Glauben an ihre weltgeschichtliche Mission nimmt, der nimmt ihr das Beste, trennt sie von der tiefsten Quelle ihrer Kraft. Aber | |
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einerseits kann sie die Welt nur vom Fluch des Kapitalismus erlösen, wenn ihr Streben bei anderen Klassen Verständnis und Sympathie sindet, bei den Intellektuellen, den kleinen Bürgern, dem Bauerntum, anderseits lastet der Fluch des Kapitalismus auf allen Klassen, auf der Bourgeoisie ebenso wie auf dem Proletariat, nur in anderer Weise. Alle sollen sie erlöst werden, wenn sie auch nicht bewusst die Sehnsucht nach der Erlösung empfinden. Aus allen diesen Gründen soll der Sozialismus aus der Sphäre der Beschränkung heraustreten. Er soll sich nicht darauf versteifen, die Angelegenheit nur eines Teiles der Gesellschaft zu sein. Er ist eine Angelegenheit aller, und das, was er ist, soll er wagen zu scheinen. Er soll sich zu seiner universellen Erlösungsmission freudig und selbstbewusst bekennen. Er braucht ja auch die tätige Unterstützung aller, um sie durchzuführen. Ohne tätige Bejahung und freudige Mitarbeit des Bauerntums und der Intellektuellen kann eine sozialistische Gemeinschaft nicht errichtet werden. Und wenn etwas errichtet werden könnte, was ihr gleichfähe, eine Art Mittelding zwischen Staatssozialismus und proletarischer Diktatur, so würde es sich nicht zum Sozialismus fortentwickeln können. Nicht nur weil Bauern und Intellektuelle in der Wirtschaftssphäre überaus wichtige, unersetzliche Funktionen ausüben, sondern auch, weil die Werte der Arbeiterklasse nicht anders als einseitig und unvollkommen sein können und auf diesen einseitigen, unvollkommenen Werten allein keine gesellschaftliche Ganzheit errichtet werden kann. Die Werte des Bauerntums vor allem kann eine solche Ganzheit nicht entbehren. Es liegt ja in ihnen ein Verhältnis zum Kosmischen, das der Arbeiterklasse, der entwurzelten, in der grossstädtischen Oede aufgewachsenen, fehlt. Was die Intellektuellen anbetrifft, so gibt es unter ihnen, wenn auch zweiselsohne bei der Mehrheit von ihnen die Gesamtpersönlichkeit erheblich geschwächt ist, doch eine Minderheit, bei der dies nicht zutrifft. Dieser Minderheit gilt der Sozialismus wesentlich als Dienst an der Gesamtheit. Ihre Auffassung vervollständigt den Arbeiter-Sozialismus, der in erster Linie Kampf für eine gerechtere Gesellschaftsordnung ist. Nur durch diese Vervollständigung wird der Sozialismus zum allgemeinen Prinzip der Erneuerung der Gesellschaft. Jedoch noch in einem anderen und höheren Sinne muss der Sozialismus nach Ganzheit streben. Alle endlichen Werte, wonach er strebt, laufen immer Gefahr, sich in Unwerte zu verkehren, wenn er, anstatt sie auf ein Absolutes zu beziehen, ihnen selbst absoluten Charakter verleiht. Alle menschliche Kraft verfällt der Entartung, wenn sie nicht fortwährend erneuert und gereinigt wird in den Kraftquellen des Ewigen. Dies hat der Sozialismus der heutigen, in gewisser Hinsicht schon halb überwundenen, Phase vergessen. Und dies ist es, woran der kommende sich wieder erinnern soll. Nur dann kann er seine Aufgabe der Arbeiterklasse und der Menschheit gegenüber er- | |
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füllen. Nur dann wird er sich zu einer neuen Stufe erheben, in der das Beste, Wertvollste der früheren Stufen - des utopischen, des marxistischen, des syndikalistischen Sozialismus - aufgehoben enthalten ist. Diese neue Stufe wird die des religiösen Sozialismus sein. Die unermesslichen geistigen Kräfte, die der Sozialismus in sich trägt, die jedoch der marxistische Sozialismus noch nicht vollständig zu verwerten und zu leiten vermochte, weil er sich zu sehr nach der äusseren Welt richtete und zu viel auf materielle Ursachen hielt - diese Kräfte werden sich tausendfach entfalten, wenn der Sozialismus sich entschliesst, den Sieg nicht sowohl von einer mehr oder weniger mechanischen Notwendigkeit zu erwarten, als von dem Einbruch des Geistes in sie, das heisst von der inneren Freiheit. |
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