Der Umschwung in der geistigen Lage und die neuen Aufgaben des Sozialismus
(1930)–Henriette Roland Holst-van der Schalk–
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Vorwort.Es gibt keine dringlichere Notwendigkeit, als dass der Sozialismus sich von seiner das eigene innerste Wesen verfälschenden und seine Wirkung vergiftenden und lähmenden Verbindung mit der naturalistisch-mechanischen Weltanschauung der Mitte des letzten Jahrhunderts befreie. Es ist für ihn die Frage von Sein oder Nichtsein. Vollzieht er diese Befreiung, die wie jede Befreiung ein Zusichselbst-kommen ist, nicht oder nicht rechtzeitig, dann wird er an seiner eigenen Entseelung sterben und von der Welle des andrängenden neuen Geisteslebens verschlungen werden. Die vorliegende Schrift, die aus einem Vortrag in einem sozialistischen Kreise entstanden und zuerst in der Zeitschrift ‘Neue Wege’ (Zürich) erschienen ist, kann sowohl dem einzelnen Sozialisten, der um eine bessere Begründung und Gestaltung des Sozialismus ringt, als auch der ganzen sozialistischen Bewegung für die Erfüllung dieser dringlichsten Aufgabe von allen einen grossen Dienst tun. In meisterhafter Gedrängtheit zeigt sie sowohl den Weg des Abstiegs zum Tode des Mechanismus und der Entseelung, als auch den Weg des Aufstiegs zu neuem Leben und neuem, wahrhaft revolutionärem Geist Sie kann damit ein äusserst wirksames Organ dieser Selbstbefreiung des Sozialismus werden, die eine bessere Selbstverwirklichung bedeutet. Es handelt sich nicht - wie man die Verfasserin dieser Schrift vielleicht missverstehen könnte - darum, dass der Sozialismus nicht den Anschluss an die neue Bewegung in Philosophie und Wissenschaft versäumen dürfe. Diese neue Bewegung ist vielmehr bloss ein Zeichen des Durchbruchs jener wesenhaften Wahrheit, ohne die der Sozialismus nicht leben kann. Dieser soll nicht jeweilen der neuesten wissenschaftlichen Methode nachjagen, sondern soll aus dem Bann einer falschen Wissenschaft und überhaupt seiner falschen Stellung zur Wissenschaft heraus und sich auf seine wahre Begründung und sein wahres Wesen besinnen. Der Zusammenbruch jener Wissenschaft, auf der zu ruhen sein Stolz war, soll ihm zeigen, welches seine von allem Wechsel der Wissenschaft unabhängigen ewigen Fundamente sind. Die Verfasserin, Frau Henriette Roland-Holst, ist nicht nur als Hollands grösste lebende Dichterin allgemein anerkannt, sondern hat auch in der sozialistischen Bewegung Europas eine bedeutsame Rolle gespielt, eine Rolle, die heute eine neue, nicht weniger wichtige | |
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Form annimmt. Sie ist begeisterte Marxistin gewesen und hat jene Weltanschauung geteilt, mit welcher der Marxismus ein durch die Zeitlage bedingtes Bündnis eingegangen war, sie mit der Glut ihrer dichterischen und prophetischen Seele erfüllend. Auf diesem Wege ist sie bis zum Ende gegangen. Durch erschütternde Erfahrung und tiefstes seelisches Erleben belehrt, ist sie umgekehrt, nicht etwa, wie so viele auf Grund ähnlicher Entwicklungen, in irgend eine Form von Reaktion hinein, sondern zu einem im echten Sinn des Wortes radikaleren, weil besser begründeten, sich selbst richtiger verstehenden, die Seelen tiefer anfassenden und die Welt wirksamer umgestaltenden Sozialismus. Ihre Schrift ist darum Bekenntnis und Zeugnis. Diese Frau, die, aus bürgerlichen Kreisen stammend, dem Sozialismus ihr reiches Leben geweiht und dem Proletariat ihre grosse lautere, glühende Seele geschenkt hat, verdient wie wenige gehört zu werden, wenn sie den Sozialismus auf neue Bahnen und damit zu sich selbst ruft. Besonders sollte die Jugend auf sie hören; ist sie doch, bei aller Reife des Geistes und der Seele, jünger als die Jungen.Ga naar voetnoot1) Wer diese kleine, aber so weittragende Schrift verbreitet, der arbeitet auf die Weise, die heute die entscheidende ist, für den Sozialismus und damit auch für das, was mehr ist als er, von dem allein er leben kann und in dessen Dienst er gross und heilig wird. Leonhard Ragaz. |
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