Holländisch-deutsche Wechselbeziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts
(1981)–Ferdinand van Ingen– Auteursrechtelijk beschermdVDie pietistische Frömmigkeit Arndts entsprach auch in Holland dem Verlangen breiter Kreise nach einer verinnerlichten Glaubenspraxis, für die die Kirche wenig Raum bot. Groß war die Zahl derjenigen, die sich spiritualistischen Bewegungen zuwandten. Diese waren vor allem in Amsterdam stark vertreten und nährten sich, durch Vermittlung deutscher Emigranten, vorwiegend aus deutschen Quellen. Dabei haben die Schriften Jakob Böhmes von jeher die Hauptrolle gespielt. Der Kaufmann Abraham Willemszoon van Beyerland, der u.a. zu Franckenberg in Beziehung stand, sammelte Abschriften und Drucke von Böhmes Werken, übersetzte sie und erstellte schon 1642 eine Bibliographie.Ga naar eind104 Die deutsche | |
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Jan Luyken:
Jesus en de Ziel. Titelkupfer Böhme-Ausgabe, die 1682 in Amsterdam erschien und die erste vollständige und kritische Ausgabe darstellt, beruht auf dem von Beyerland gesammelten Material.Ga naar eind105 Möglicherweise stammen die symbolischen Figuren mit Erklärungen von Franckenberg und Jan Luyken. Luyken war nicht nur Kupferstecher, sondern auch ein beliebter Dichter, der mit seinen erotischen Gedichten (Duytse Lier, 1671) viel Erfolg hatte. Seiner Biographie (1712) zufolge soll er im Jahre 1675 plötzlich bekehrt und unter den Einfluß Böhmes geraten sein. Man schreibt ihm die niederländische Übersetzung der Aurora zu, zu Recht oder zu Unrecht sei dahingestellt,Ga naar eind106 aber Tatsache ist, daß sein Büchlein Jezus en de Ziel von Böhmes Geist und Werk geprägt wird. Es besteht aus kurzen dreiteiligen Kapiteln: einem Gedicht, einem sinnbildlichen Kupferstich und einer Prosaerklärung. Jan Luyken:
Kupfer zu ‘Een water als kristal...’ Dargestellt wird die Reise einer Christenseele ins ewige Vaterland. In die Prosatexte sind Böhme-Zitate hineinkomponiert, ohne daß allerdings Böhmes Name genannt wird.Ga naar eind107 Das würde-uns alles nur am Rande interessieren, wenn Luyken nicht ein Dichter gewesen wäre, der auch heute noch überzeugt. Wie eindrucksvoll ist z.B. gestaltet, wie die Seele ihr Wesen beschreibt: Een water als kristal, waer op geen koelte speelt,
Ontfangt so cierlyk en so schoon het sonnen-beelt;
Soo was de schoone Ziel, het edelste aller dingen,
Die door de wysheyt Godts een wesentheyt ontvingen;
Een vonck van 't eeuwigh vuur, doorschenen met Godts licht,
Een klare Spiegel voor het eeuwige aengesicht;
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Daer 't eeuwig end'loos EEN, in hoogte, noch in brete,
Noch eeuwige diepten, noyt te gronden noch te meten,
Sich selve schoude, en vond in een geschapen beelt,
Dat voor de schepping in zyn wysheyt hat gespeelt.Ga naar eind108
Das ist Böhmes Geist, spürbar bis in die Bilder und Wortprägungen hinein, das ist zugleich ein vollendetes Gedicht: Luykens Lyrik gehört zu den Höhepunkten der niederländischen Dichtung im letzten Drittel des Jahrhunderts.
Eine so tiefgreifende Beeinflussung eines niederländischen Dichters bleibt in der Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen Holland und Deutschland im 17. Jahrhundert eine Ausnahme. In Deutschland war man über die niederländische Literatur verhältnismäßig gut informiert,Ga naar eind109 Cats war hier ebenso gut bekannt wie in Holland.Ga naar eind110 Umgekehrt zeigte man in den Niederlanden offenbar wenig Interesse für die deutsche Literatur; die in Amsterdam und Leiden gedruckten deutschen Bücher wurden sofort nach Deutschland abtransportiert.Ga naar eind111 Aber es gibt doch einige zeitgenössische Übersetzungen, die schon aufgrund ihres Seltenheitswertes Erwähnung verdienen. Ich kann hier nur eine erste, vorläufige Ernte bieten, hauptsächlich auf den Beständen in Den Haag und Utrecht basierend. - Neben in Holland hergestellten deutschen Zincgref-DruckenGa naar eind112 gibt es eine holländische Übersetzung: Duytsche Apophthegmata (1669 in Amsterdam erschienen), die mit ihrem volkstümlichen Gehalt rasche Verbreitung finden konnte. Mit aufgenommen wurden die ‘Sin-Pit-Punt-en-Spot-Redenen’ von Johann Ludwig Weidner, der ja schon Zincgrefs Sammlungen mit Erweiterungen herausgegeben hatte.Ga naar eind113 Der unbekannte Übersetzer erinnert an die Vorliebe der Niederländer für diese GattungGa naar eind114 und begründet damit seine Hoffnung auf eine günstige Aufnahme des Buches in Holland.Ga naar eind115 Das Bestreben ist hier wie in anderen Fällen deutlich darauf gerichtet, die aus dem Deutschen übersetzten Bücher an die niederländische Tradition anzuschließen. So überrascht es nicht, daß die Persianische Reise des Olearius auch in Holland ein Publikum fand.Ga naar eind116 Aber es wurde auch seine Saadi-Übersetzung Persianischer Rosenthal auf holländisch herausgebracht, und zwar mit einem typischen Hinweis auf den Nutzen versehen: Hier heeft een Perssiaan een nutten Gaard geplant,
Die lieflyk bloost en geurd, tot voeding van 't verstand,
Daar elk een heylzaam zoet tot artzeny kan smaaken.Ga naar eind117
Bemerkenswert ist hier der Versuch, das deutsche Original der Eigenart des holländischen Verses anzupassen: Voorts heb ik mijn uytterste vlijt aangewend, om in't oversetten alles door een suyvere pen te gieten. ...De Vaarzen, die doorgaans als Roosen in deesen Hof geplant staan, heb ik, om de selve voor onse Lands-genooten te aangenaamer te vertoonen, dikwijls in de maat- en woorden-stellingen van Olearius, naa haer eysch, verandert: overmids dat elke taal, voorneemlijk in vaarzen, een byzondere voeging heeft. (‘Aan den Leeser’) Der Übersetzer ist Jan van Duisberg, der ein sicheres Gespür für die Bedürfnisse des Publikums besaß. Das zeigen nicht nur eine Psalmen-Bearbeitung und eine Ausgabe der Werke von Jan Vos, sondern auch seine Übersetzung von Rists Galathea;Ga naar eind118 diese Sammlung gehörte in Deutschland ja mit Zesens Frühlingslust zu den beliebtesten Liederbüchern der ersten Jahrhunderthälfte.Ga naar eind119
An deutschen Romanen war man offenbar weniger interessiert, jedenfalls fehlen die großen Namen hier völlig. Um so überraschender ist eine gereimte Teilübersetzung aus Anton Ulrichs Aramena: Het Veertiende Hoofdstuk van Job (1709), eine recht gute Arbeit, über die sich aber im Augenblick noch wenig mit Bestimmtheit sagen läßt.Ga naar eind120 Hier mag das biblische Thema, von jeher in der niederländischen Literatur bevorzugt, | |
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Titelkupfer zu der niederländischen Übersetzung vom ‘Persianischen Rosenthal’ des Adam Olearius (1654).
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entscheidend gewesen sein. Überhaupt achtet man auch bei Übersetzungen besonders darauf, daß sie nicht nur nutzbringend sind, sondern auch in stilistischer und anderer Hinsicht nicht unangenehm auffallen und sich in die niederländische Situation einfügen. Das beweist in aller Deutlichkeit Simon de Vries, ein Utrechter Schulmeister, der neben hilflosen poetischen Arbeiten eine große Anzahl Schriften ‘curieusen’ oder erbaulichen Inhalts in die Presse gegeben hat, darunter auch Übersetzungen aus dem Deutschen.Ga naar eind121 Von ihm stammt eine Moscherosch-Übersetzung: Ses satyrische wondergesichten.Ga naar eind122 Im Vorbericht werden Schottelius' lobende Worte über den Autor niederländisch zitiert,Ga naar eind123 aber de Vries unterläßt nicht mitzuteilen, daß er das Original mit Rücksicht auf die niederländischen Verhältnisse habe ändern müssen: ‘...kaum hatte ich die Gedichte eingesehen, so stellte ich erstens eine zu große unangenehme Weitläufigkeit fest, dann auch, daß viele, ja die meisten Dinge nicht zu den Verhältnissen in unserem Land paßten, abgesehen davon, daß Darbietungsweise und Sprache häufig bei uns Anstoß erregt hätten.’Ga naar eind124 Deshalb habe der Übersetzer den Text ziemlich frei bearbeitet, ‘in der Hoffnung, dem Leser dadurch genehmer zu sein, als wenn er sich genau an den Text gehalten hätte.’Ga naar eind125 Von Harsdörffer hat de Vries einen reichlichen Gebrauch gemacht für zwei umfangreiche Bücher: De Groote Schouw-Plaets der Lust-en-leerrijcke Geschiedenissen und De Groote Schouw-Plaets Der Jammerlijcke Bloed-en-Moord-Geschiedenissen. In beiden Fällen wird Harsdörffers Name neben anderen im Titel erwähnt.Ga naar eind126 Im Zusammenhang der literarischen Wechselbeziehungen sind die Bloed-en-Moord-Geschiedenissen von besonderem Interesse. De Vries teilt im Vorbericht ‘Aan den Leeser’ einiges über Harsdörffer mit, fügt ausdrücklich hinzu, daß er seine Kenntnisse nur vom Hörensagen hat, und schreibt hartnäckig ‘Hersdorfer’. Er kündigt hier auch eine Übersetzung der ersten beiden Bände von Biondis Eromena an, die ‘binnen weynig weken’ erscheinen werde.Ga naar eind127 Das Werk erschien tatsächlich im gleichen Jahr.Ga naar eind128 Obwohl Stubenbergs Name weder auf dem Titelblatt noch im Vorbericht genannt wird, hat dem niederländischen Übersetzer mit Sicherheit nicht das italienische Original, sondern Stubenbergs deutsche Übersetzung vorgelegen. Im Vorbericht werden nämlich die Worte in Übersetzung wiedergegeben, mit denen Harsdörffer in seiner langen Vorrede die Vorzüge der (deutschen) Eromena lobt.Ga naar eind129 Weitere Indizien enthält der Vorbericht des Verlegers Johannes Ribbius zu den Bloed-en-Moord-Geschiedenissen. Ribbius hat das Buch Otto Gallus von Stubenberg und seiner Gemahlin Hedwig Sophia von Herberstein gewidmet. Ribbius schätzt sich glücklich, daß die Edelleute in Utrecht Wohnung genommen haben und meint, daß sie Gefallen an dem Buch finden werden, ‘um so mehr, da die Geschichten zum größten Teil in hochdeutscher Sprache gesammelt wurden, und zwar von Herrn Georgh Philips Harsdorfer (sic), Ratsherrn zu Nürnberg, einem sehr vornehmen Herrn, Euch wohlbekannt, sowohl persönlich wie durch seine hochverdienten Schriften, die Ihr mir des öfteren in unserer Sprache unseren Landsleuten mitzuteilen empfohlen habt.’Ga naar eind130 Die Widmung wirft ein sympathisches Licht auf Stubenberg. Otto Gallus war ein berühmter Bücher- und Bildersammler, er war mit Birken bekannt und schriftstellerte auch selber.Ga naar eind131 Es liegt nahe, daß er sich auch für die ndl. Eromena-Bearbeitung eingesetzt hat. Die Biondi-Übersetzung seines Vetters war guten Gewissens zu empfehlen, denn das Buch versprach auf fast jeder Seite Nutzbringendes, und auch de Vries konnte in seiner Übersetzung erklären, daß er von dem moralischen Nutzen überzeugt und auch selber ein Feind solcher Bücher wäre, die ‘den Tugenden, insbesondere der Tugend der Ehrbarkeit zuwiderlaufen.’ Ga naar eind132 Man kann sich vorstellen, wie es zu einer niederländischen Übersetzung von Stubenbergs Bearbeitung kam:Ga naar eind133 Harsdörffer hatte bekanntlich seinen Grossen Schau-Platz Jämmerlicher Mordgeschichten Johann Wilhelm von Stubenberg gewidmet, in Erinnerung an ihre ‘jüngstgeschlossene Freundschaft’. Otto Gallus, der sein eigenes Exemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt haben dürfte, konnte so das Gespräch leicht auf seinen literarisch bedeutenden Vetter bringen und - was nur wahrscheinlich ist | |
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- dem Verleger die Eromena-Bände in die Hand drücken. Es ist seiner persönlichen Vermittlung zu verdanken, daß das holländische Publikum mit Harsdōrffer und (mittelbar) mit Stubenberg bekannt wurde. Wie bescheiden diese Versuche, die deutsche Literatur über die Grenze zu tragen, sich im Licht der literarhistorischen Entwicklung auch ausnehmen mögen, dieses frühe Beispiel sollte nicht vergessen werden. Es ist auch historisch nicht ohne Bedeutung: Zeigt es doch, daß das deutsche literarische Selbstbewußtsein in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kräftig genug geworden war, um nun auch für die deutsche Literatur die Rolle des Gebenden in Anspruch zu nehmen. |
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