'Sies mijn vlien, mijn jaghen'. Over vorm en inhoud van een corpus Middelnederlandse spreukachtige hoofse lyriek. Lund, UB, Mh 55 en Brussel, KB, Ms.IV 209/II
(2005)–A.C. Hemmes-Hoogstadt– Auteursrechtelijk beschermd
[pagina 291]
| |
Zusammenfassung‘Sies mijn vlien, mijn jaghen’ Zu Form und Inhalt eines Korpus mittelniederländischer spruchhafter höfischer Lyrik: Lund, UB, Mh 55, und Brüssel, KB, Ms. IV 209/11 | |
1 Einleitung1926 entdeckte E. Rooth in der Universitätsbibliothek der schwedischen Stadt Lund ein beschädigtes Doppelblatt aus Pergament mit sechzehn mittelniederländischen höfischen Gedichten (L). Von W. de Vreese, mit dem er über seinen Fund korrespondierte, vernahm er, dass dieser gut dreissig Jahre zuvor in einem Bucheinband zwei sehr schadhafte Fragmente mit acht der Form und dem Inhalt nach vergleichbaren Gedichten angetroffen hatte, die jetzt in Brüssel aufbewahrt werden (B). Die Einleitung zu Rooths diplomatischer Ausgabe der Lunder Texte im Jahr 1928 enthält unter anderem Information über und Zitate aus beiden Textgruppen. Pläne zu einer kritischen Edition mit Kommentar zu Sprache und Stil der Lieder konnte Rooth jedoch nicht zur Ausführung bringen. Mehr als fünfzig Jahre lang standen diese ‘Lunder Lieder’ einmal mehr, einmal weniger im Mittelpunkt des Interesses. 1984 gab F. Willaert der Erforschung der Lieder einen neuen Impuls im Auftakt zu der Analyse von Hadewijchs Poetica in den Strophischen Gedichten. Er suchte vor allem Zusammenhänge mit altfranzösischer/okzitanischer und anderer mittelniederländischer Lyrik, versuchte zu einer begründeten Datierung des Entstehens dieser Texte zu kommen und demonstrierte anhand einer Interpretation eines Gedichts (L 2) ihren spezifischen Charakter. Die Problemstellung der vorliegenden Arbeit umkreist drei Fragen: Wie lassen sich diese Gedichte interpretieren, welche literarischen Konventionen liegen ihnen zugrunde, und gibt es einen Grund zu gerade dieser Schöpfung? Der Interpretationsfrage ist Kapitel 2 gewidmet, der Poetik hauptsächlich Kapitel 3, wo zugleich ein Versuch unternommen wird, aus allen gewonnenen Ergebnissen eine Antwort auf die dritte Frage zu finden. Da Interpretation und Poetik nicht ohne einander auskommen, spielen sie jeweils Haupt- oder Nebenrolle in diesen Kapiteln. Der Schluss (4) vereint die erzielten Resultate in Kommentaren zu den Gedichten, ihren Kopisten und ihrem Dichter oder Dichtern und den beabsichtigten Lesern. Der äusserst geringe Umfang der erhalten gebliebenen frühen mittelniederländischen Lyrik erkennt einem jeden Text die grösste Bedeutung zu; darum erhält auch die kleinste Einzelheit die nötige Aufmerksamkeit. Wer Format (L ca. 183 × ca. 155, B ca. 151 × ca. 102 mm), Aufmachung, Schrift und Rubrizierung (bzw. das Fehlen derselben) des Lunder Bifoliums mit den entsprechenden Daten der Brüsseler Fragmente vergleicht, sieht sogleich, dass sie | |
[pagina 292]
| |
nicht derselben Handschrift entstammen und dass sie von verschiedenen Kopisten geschrieben sind. Zugleich zeigt sich an bestimmten Fehlern und unreinen Reimen, dass sie wohl nach einer Vorlage kopiert wurden. Eine Analyse der Beschädigungen des Doppelblatts führt zu der Vermutung, dass das Pergamentblatt später als Rücken verwendet wurde, auf den papierene Lagen mit Archivtexten genäht wurden. Wie das Blatt nach Lund gekommen ist, darüber kann man nur spekulieren (über niederländische Kaufleute oder schwedische Studenten, über die Bibliothek von Königin Christina, ihren Bibliothekar Edmund Figrelius (Gripenhielm) oder Erik Johan Meck?). Die beiden Blätter der Brüsseler Fragmente waren wahrscheinlich als Deckblätter auf die Innenseite eines Einbands geklebt. Die dialektisch gefärbten Reimworte verweisen hauptsächlich auf Limburg, Brabant und den Osten des mittelniederländischen Sprachraums als Herkunftsoder Arbeitsgebiet des Dichters, weshalb an das Grenzgebiet zwischen Limburg und Brabant gedacht werden kann als möglichen Entstehungsort der Texte. Die Heimat der beiden Kopisten, die beim Verbessern dieser Dialektformen ein paar Mal die Reime durcheinanderbringen und auch innerhalb der Verse ihre Spuren nachgelassen haben, wird wohl etwas weiter westlich (Mittel- oder Westbrabant?) gesucht werden müssen. | |
2 Text und TexterklärungDie Gedichte von L und B haben alle die höfische Minne zum Thema. Kapitel 2 beginnt mit Anmerkungen zur Textüberlieferung; danach folgt die Edition aller Texte in zwei Fassungen: links diplomatisch, so genau wie möglich der Handschrift folgend, rechts kritisch, in der Form, wie sie dem Dichter wahrscheinlich vor Augen stand. So kann der Leser feststellen, welche editorialen Eingriffe, neben Emendierung und Hinzufügung von Interpunktion, erfolgt sind. Durch Zurückhaltung bei der Anpassung wird der Authentizität des Texts der Vorzug gegeben vor der grösseren Lesbarkeit, die eine modernisierte Rechtschreibung dem Leser-Benutzer bietet. Jedem Gedicht ist eine Besprechung hinzugefügt; darin wird kein Wissen aus vorangehenden Gedichten vorausgesetzt: Jeder Text muss gesondert gelesen werden können und in sich verständlich sein. Diese Besprechung, in der auch Unsicherheiten und Emendationen zur Sprache kommen, richtet sich in erster Linie auf die Interpretation des Textes. Auch poetikalen Aspekten wird Aufmerksamkeit geschenkt. | |
3 PoetikJedes Gedicht besteht aus drei Teilen, deren Anfang durch eine rote Initiale (B) oder eine dafür offengelassene Stelle (L) angegeben ist. Den Beginn bildet eine so genannte Spruchstrofe, eine Einheit von sechs Versen mit dem Reimschema aabccb, in der in der dritten Person im Präsens eine allgemeine didaktische Aussage über die Minne gegeben wird. In dem darauf folgenden mittleren Teil singt ein | |
[pagina 293]
| |
lyrisches ‘Ich’ in zehn Versen (Reimschema dedeededee) über seinen mit dieser Aussage zusammenhängenden Liebeskummer, den die Haltung der Dame verursacht hat. Zuletzt fasst eine neue Spruchstrofe den letzten Teil des mittleren Stücks zusammen. In B geht jedem Gedicht noch ein in roter Tinte geschriebener zweizeiliger Minnespruch voraus, der, einer Rubrik vergleichbar, die Essenz des Gedichts kurz zusammenfasst. Nach einer Blankozeile schliesst ein vergleichbarer Spruch, der jedoch keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem vorhergehenden noch mit dem folgenden Text hat, mit einer allgemeinen Minneweisheit das Gedicht ab. Die behandelten lexikalischen, prosodischen, syntaktischen und thematischen Verfahrensweisen - die zusammen das so genannte Register bilden - zeigen, wie einer oder mehrere Dichter (dies kommt im Schluss zur Sprache) diesen poetischen Raum benutzen. Anhand der sich daraus ergebenden Ähnlichkeiten oder Unterschiede muss entschieden werden, ob diese Texte als ein Korpus betrachtet werden können. Es zeigt sich, dass, genau wie die Lyrik von Veldeke und Hadewijch, auch L und B einen beschränkten Wortschatz haben mit kaum überraschenden und einigen wenigen gemeinsamen Leitwörtern (Tabelle 1). Aus diesen Wörtern und anderen für den Minnediskurs kennzeichnenden Schlüsselbegriffen werden vielfach Wortkombinationen, worunter Zwillingsformeln wie lijf ende leven und die oft am Versanfang stehenden formelhaften Wendungen, gebildet. Bei der Verwendung von Wortwiederholungen (polyptota) zeichnen sich in den Texten dagegen keine Reihen ab; eine relativ grosse Anzahl Wörter wird nur sparsam in einer kleinen Zahl von Gedichten wiederholt. Im Reimschema des Mittelteils, dedeededee, sind die meisten d-Reime männlich und alle e-Reime weiblich. Neben dem gebräuchlichen Endreim findet sich in L und in B bei einem d- und dem unmittelbar darauf folgenden e-Reim noch eine Reimwiederholung, jetzt aber nicht im Reimvokal und dem darauf folgenden Laut (bzw. Lauten), sondern im Stamm des Reimworts, dem mit Hilfe von -e, -n oder -en ein Buchstabe oder eine Silbe hinzugefügt wird (wie in L 4 ghenat:ghenade, B 8 ure:uren, L 7 wanc:wanghen). Diese so genannten grammatisch reimenden Wörter gehören meistens zu derselben Wortart oder kombinieren ein Verbum mit einem Substantiv; nur Homonyme sorgen für einen Bedeutungsunterschied. Gelegentlich findet sich dieser spezielle Reim innerhalb der Spruchstrophe oder zwischen Spruchstrophe und Mittelteil, wobei manchmal die im Mittelteil fehlende Variante mit den verschiedenen Zeiten des starken Verbums (wie B 6 liet:laten) vorkommt. Dieser Reim - in wechselnder Häufigkeit und Fülle - wird sowohl in der mittelniederländischen Lyrik wie ausserhalb der Niederlande von Troubadours, Trouvères, Minnesängern und Dichtern mittellateinischer Poesie verwendet. Der Ursprung dieser Technik dürfte in den artes poeticae liegen. Der Vorrat an Reimwörtern in L und B ist beschränkt; das zeigt sich an der kleinen Anzahl bevorzugter Reime, die für einen Grossteil der Reimwörter gelten. Ungefähr ein Drittel dieser Wörter wird zudem mehrmals verwendet (Tabelle 2). Die meisten Gedichte enthalten eine oder mehrere (manche sogar vier bis sechs) feste Reimkombinationen, die höchstens zweimal wiederholt werden und oft zu der Gruppe der bevorzugten Reime gehören. Manchmal bildet einer der Reim- | |
[pagina 294]
| |
partner mit einem anderen Wort ein neues Reimpaar. Bei einem anderen Typ Reimwiederholung wird ein Reim, manchmal sogar ein Reimwort, aus der Spruchstrophe oder dem Mittelteil in einem anderen Teil des Gedichts noch einmal verwendet. Alliteration und Assonanz bilden Reihen, die sich über eine oder mehrere Verszeilen erstrecken können. Bestimmte Laute werden eindeutig bevorzugt, und Reimwörter, die häufig Schlüsselwörter sind, scheinen als Starter für eine neue Reihe zu fungieren, die dann auf voraussehbare Weise darum herum gruppiert ist. Feste alliterierende oder assonierende Verbindungen kommen selten vor. Nach einer Untersuchung der Möglichkeiten, das eventuell dem Vers zugrunde liegende metrische Muster und die damit verbundene Silbenzahl herauszufinden, scheint Skandieren die beste Methode zu sein, zunächst in strikter Form, dann mit aufgelockerten Regeln wie Synalöphe und Synkope, da wo die Verteilung der akzentuierten und nicht akzentuierten Silben nicht deutlich ist. In den Spruchstrophen haben die meisten Verse zwischen den zwei üblichen Akzenten eine unbetonte Silbe, während weitaus die meisten Verse mit einem Auftakt beginnen und somit eine feste Silbenzahl haben. Durch Auflockerung der Regeln steigt die Zahl der regelmässig alternierenden Verse weiter an. Im Mittelteil variiert die Anzahl Akzente innerhalb eines Verses: Diejenigen mit einem d-Reimwort zählen beinahe immer vier, die mit einem e-Reimwort in der Regel drei. Das hieroben skizzierte Verfahren führt für die meisten dieser Verse, von denen die Hälfte keinen Auftakt hat, ebenfalls zu einem regelmässigen Wechsel einer betonten und einer unbetonten Silbe und einer festen Silbenzahl für die verschiedenen Versarten. Die Schlussfolgerung ist, dass allen regelmässig alternierenden Versen mit Auftakt ein jambisches, den Versen ohne Auftakt ein trochäisches Metrum zugrunde liegt. Dieser trochäische Beginn kann jedoch als tolerierte Variation zum jambischen Beginn gesehen werden, so dass also den meisten der Lunder und der Brüsseler Gedichte eine Tendenz zum jambischen Metrum zugrunde liegt. Auch syntaktisch gesehen sind die Gedichte Regeln unterworfen. Viele der Spruchstrophen lassen sich in zwei Halbstrophen (aab-ccb) einteilen, die sich in einer so genannten Balancekonstruktion grammatikalisch und semantisch durch eine Wiederholung oder einen Gegensatz im Gleichgewicht halten, ein Verfahren, das auch innerhalb der Halbstrophe vorkommt. Bei den Fällen von Enjambement liegt die syntaktische Grenze immer nach dem ersten Wort des nächsten Verses, häufig dem Wörtchen es. Typisch für die Spruchstrophen ist der Anfang mit dem Relativpronomen die, mit oder ohne Bezugswort, und eine Vorliebe für die Verse 1 oder 4 als Platz für das Subjekt des Hauptsatzes. Im Mittelteil setzt sich ein Enjambement bis zu zwei oder drei Wörtern im nächsten Vers fort. Zudem haben alle Gedichte - meistens genau in der Mitte - eine grammatikalische Zweiteilung, wobei in der ersten Hälfte eine bestimmte Situation skizziert wird und in der zweiten Hälfte eine neue, oft entgegengesetzte Gedankenlinie, oft im Konjunktiv und mit einem gewissen Zeitunterschied, ausgearbeitet wird. Bei grammatisch reimenden Versen besteht manchmal die Tendenz, ein Subjekt und ein Objekt (si-mi) aus dem vorhergehenden Vers im folgenden zum Objekt bzw. Subjekt (haer-ic) werden zu lassen, also Bäumchen-wechsle-dich zu spielen. Dieser nicht | |
[pagina 295]
| |
immer vollkommen durchgeführte Wechsel scheint ein Handgriff des Dichters zu sein, um zum zweiten Vers eines (grammatischen) Reimpaares zu kommen. Möglicherweise schliessen sich andere parallele und gegensätzliche Konstruktionen, die vor allem im Mittelteil und dort auch wieder am ehesten in grammatisch reimenden Verspaaren vorkommen, an diese Technik an. Neben diesem formellen steht ein inhaltliches Spielelement, wobei Wörter, Wortgruppen oder Verse durch eine andere syntaktische oder semantische Behandlung beabsichtigte kleinere oder grössere Interpretationsunterschiede erzeugen können. Abgesehen von den besprochenen Unterschieden zwischen den Spruchstrophen und dem Mittelteil sind diese drei Teile jedoch per Gedicht auch eng miteinander verbunden durch wörtliche und paraphrasierende Wiederholungen: Wörter aus der Anfangsspruchstrophe kehren wörtlich oder paraphrasiert in der ersten Hälfte des Mittelteils zurück, und die zweite Hälfte wird auf vergleichbare Weise mit der Schlussspruchstrophe verbunden. Mit Ausnahme des verstümmelten B 3 findet sich eine solche Beziehung in wechselnder Frequenz in allen Gedichten. Bei den meisten Wiederholungen, die nicht in dieses Schema passen, betrifft es Schlüsselwörter und Begriffe aus dem Umkreis der höfischen Minne. Man kann das Gedicht mit einem Triptychon vergleichen, mit spezifischen Kennzeichen für jede der drei Tafeln, wobei die geschlossenen Seitenflügel jeweils genau den Abschnitt des Mittelteils bedecken, mit dem sie Parallelen aufweisen. Unter der Stelle, wo die beiden Spruchstrophenflügel sich berühren, verläuft die relationelle und grammatikalische Trennlinie und beginnt die Wiederholung des Reimschemas (dedee). Die häufig der Feudalität entnommenen Motive werfen ein Licht auf die Situation des höfischen Liebhabers (ic, hi-die), der in heftiger, aber unbeantworteter Liebe zu einer Dame (si) entbrannt ist. Das in jedem Gedicht zurückkehrende Hauptmotiv ist der Kummer, den er um und durch sie leidet und dem nur eine geringe, vor Zeiten erfahrene Freude gegenübersteht. Im Mittelteil hofft das ‘Ich’ meistens auf Verbesserung oder befürchtet Verschlechterung, wonach dieser Teil überwiegend in gedrückter Stimmung schliesst. Das von dem Verhalten der Dame abhängige und fatalistische ‘Ich’ in L scheint in B mit seiner Entschlossenheit, nie von ihr zu lassen, etwas stärker zu sein. Bemerkenswert ist in B 5 das Ideal der Gleichwertigkeit der beiden Liebespartner. Nur in L kommt Wassermetaphorik vor; das Motiv der Freude, die der Liebhaber bei dem Gedanken empfindet, dass die Liebe aus ihm einen besseren Menschen macht, fehlt, wie auch das des Natureingangs. Die Thematik der Gedichte weicht nicht wesentlich ab von der, die in höfischer Liebeslyrik erwartet werden kann; die beiden Spruchstrophen aber betrachten diese Thematik von einem didaktischen Standpunkt aus. Neben Phänomenen wie grammatischer Reim gibt es andere, rein formale Übereinstimmungen zwischen L plus B und früher mittelniederländischer, mittelhochdeutscher, altfranzösischer und mittellateinischer Lyrik. Die wiederholt im Mittelniederländischen vorkommenden Spruchstrophen, zuweilen mit einem zusammenfassenden zweizeiligen Spruch, scheint im Mittelhochdeutschen (noch) nicht vorzukommen. Dergleichen didaktisch gefärbte Strophen mit einem abschliessenden Spruch finden sich aber am Ende des zwölften Jahrhunderts im | |
[pagina 296]
| |
Altfranzösischen. Liegt der Ursprung dieses Strophentyps in einer anderen Aufzeichnung von (liturgischen) Sequenzen mit einem zweisilbigen Endreim und Zäsuren mit Binnenreim, oder von zwei reimenden Hexametern mit einem innerhalb des Verses reimenden zweiten und vierten Versfuss? Abgesehen von einem einzigen am Ende des zwölften Jahrhunderts in Atrecht entstandenen Lieds ist die Strophenform des Mittelteils sonst nirgends vorgefunden worden. Es besteht lexikalische Verwandtschaft mit der Lyrik von Veldeke, Jan van Brabant und vor allem Hadewijch; in späteren Werken sind manchmal vergleichbare Formulierungen zu finden. Dies deutet nicht unbedingt auf eine einheimische, Limburg-brabantische Poesietradition hin. Es kann genauso gut auf Beeinflussung durch ein poetisches Register anderer Herkunft beruhen. Die vielen Wörter und Wortkombinationen, die auch in der Minnesängerlyrik angetroffen werden, könnten - im Gegensatz zu der geringen Zahl an Wörtern, die dem Altfranzösischen entlehnt sind - Verbindungen zu der in der Region Maas-Niederrhein blühenden Literatur signalisieren. Mit ihren kurzen einstrophigen Texten, in denen die didaktische Botschaft in einem packenden Beginn und ebensolchem Schluss die Aufmerksamkeit auf sich zieht, den oft mit einem Auftakt und vier Akzenten konstruierten Versen, die manchmal (L) Binnenreime enthalten, und ihrer speziellen Reimform erinnern die Gedichte von L und B an die mittelhochdeutsche Gattung des höfischen Sangspruchs. Ausgestaltung und Inhalt von L und B liefern jedoch keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, dass diese Gedichte - so wie der Sangspruch - gesungen wurden. Da zwischen dem höfischen Minnelied und dem höfischen Sangspruch keine scharfe Grenze besteht, stellt der rein lyrische Stil des Mittelteils dagegen keinen Einwand gegen eine derartige Beziehung dar. Das Ausarbeiten und Illustrieren der moralischen Lehren der Spruchstrophen könnte dem Mittelteil einen spürbar didaktischen Wert zuerkennen, wodurch das Gedicht als Ganzes sich noch weiter in Richtung auf den Sangspruch bewegt. Die in diesem Kapitel konstatierten geringen Unterschiede zwischen L und B, die vornehmlich auf formalem, lexikalischem und thematischem Gebiet liegen, können sich nicht messen mit dem grossen Mass an registraler Übereinstimmung, was dazu führt, dass alle Texte als ein Korpus betrachtet werden können. Dass sie dazu bestimmt waren, gesungen zu werden, lässt sich jedoch nicht nachweisen, wodurch die Gedichte nicht wirklich als mittelniederländische Vertreter des höfischen Sangspruchs gesehen werden können, sondern als spruchhafte höfische Lyrik, die dieser Poesieform sehr nahe kommt. | |
4 SchlussDiese als Tryptichon konstruierten Gedichte mit ihren lyrisch illustrierten, didaktischen Spruchstrophen können mit aufgrund ihrer mundartlichen Merkmale sehr wahrscheinlich im Grenzgebiet zwischen Limburg und Brabant situiert werden. Die grosse Verwandtschaft mit dem Werk der Minnesänger und der Gattung des höfischen Sangspruchs lassen den Einfluss eines angrenzenden deutschen Ge- | |
[pagina 297]
| |
biets, möglicherweise der Region Maas-Niederrhein, vermuten. Über die Entstehungszeit der Gedichte sind die Meinungen geteilt: Anfang oder Mitte oder ab der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts. Die erwiesene Übereinstimmung mit der Lyrik von Hadewijch, deren literarische Tätigkeit eher um 1300 als um 1250 liegt, spricht für eine Entstehungszeit der Gedichte in der zweiten Hälfte, vielleicht dem letzten Viertel oder dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Andere Datierungskriterien - wie die üppige Verwendung des grammatischen Reims, die Spruchstrophe, die so genannte forme fixe und die Blüte der Literatur in der Region Maas-Niederrhein - stehen dem nicht entgegen, so wenig wie die auf dem Lunder Bifolium (um 1300) und den Brüsseler Fragmenten (erste Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts) vorkommenden älteren Schriftformen. Die Art der Überlieferung der Gedichte zeigt deutlich, dass L und B nicht derselben Handschrift angehören und dass die Texte Abschriften sind. Die Kustodenzeile im unteren Rand des letzten Blatts des Bifoliums verrät, dass die folgende Lage wieder mit einem ‘Lunder’ Gedicht begann. Welche Art von Texten die Handschriften, zu denen das Doppelblatt und die Fragmente gehört hatten, weiterhin enthielten, und ob L und B auf ein und dasselbe Original zurückgehen oder ob die erhalten gebliebenen Gedichte aus verschiedenen Quellen zusammengebracht wurden, sind Fragen, die sich nicht beantworten lassen. Der Kopist, der den Text von B schrieb, lieferte im allgemeinen sorgfältige Arbeit und machte wenig Fehler, die von ihm auch nicht verbessert wurden. Der Kopist von L dagegen verschreibt sich häufig und verbessert seine bisweilen ernstlichen Versehen lang nicht immer. Er weckt den Eindruck, an eine Aufgabe gesetzt worden zu sein, die nicht zu seiner täglichen Arbeit gehörte, und seine Schrift verweist eher nach einem Schreiber amtlicher Stücke als lyrischer Texte. Der Dichter zeigt sich in seinem Werk als jemand, der sich auf dem Gebiet der poetischen Konventionen gut auskannte, der Kenntnisse besass, die er mit über den Unterricht erhalten haben muss. Unter anderem durch das Studium der artes poeticae lernte er, sich korrekt und schön auf lateinisch auszudrücken. Der Dichter Jan van Boendale stellt im dritten Buch seines Der leken spiegel (1325-1330) unter anderem diese Fertigkeit als Anforderung an seine Dichterkollegen, ob sie nun auf lateinisch, ‘welsch’ oder ‘diets’ dichten. Zugleich bespricht er dort die ideale Ausführung einer Erzählung oder einer Auseinandersetzung mittels eines dreiteiligen Aufbaus, wovon in L und B möglicherweise Spuren zu finden sind. Vielleicht gilt dieses mit dem Profil des Sangspruchdichters übereinstimmende Bild - geschult und gelehrt, vielleicht ein Kleriker - auch in anderer Hinsicht für ihn: ein umherziehender Berufssänger, oft von niederer Herkunft, der für seinen eigenen Lebensunterhalt sorgen musste und nur gelegentlich Unterstützung eines Hofes oder eines Mitglieds des städtischen Patriziats genoss. Wenn es ein Argument für ein doppeltes Dichtertum von L und B gibt, dann lässt sich das nicht in den wenigen aufgezeigten formalen Unterschieden finden, sondern in der Thematik. Aus Gegensätzen wie die direkte oder verschleierte Andeutung des eifersüchtigen Lästerers, die fatalistische oder eher entschlossene Haltung des ‘Ichs’ und das feudale Verhältnis zwischen dem Liebhaber und der | |
[pagina 298]
| |
Dame gegenüber der idealen Gleichberechtigung der Liebespartner könnte geschlossen werden, dass es sich bei L und B um zwei verschiedene Dichter handelt. Die grosse Übereinstimmung in Form, dialektisch gefärbten Reimen und höfischer Thematik wecken jedoch Zweifel an einer derartigen Schlussfolgerung. Für die Annahme, es könnte die Rede von noch mehr Dichtern sein, besteht keinerlei Grund. Die Textstrukturierung mit roten Initialen (B) bzw. Aussparungen (L), die zusammenfassenden Sprüche in roter Tinte über jedem Gedicht (B) und die Interpunktion zeigen an, dass das Bifolium und die Fragmente vor allem für Leser, aber wohl kaum für Vortragende bestimmt gewesen sein werden. Den Zuhörern werden ja der äusserst komplizierte Aufbau der Gedichte und die nur fürs Auge reinen Reime grösstenteils entgangen sein. Ob auch die ursprüngliche Schöpfung für (einen oder mehrere) lesende Auftraggeber bestimmt war, lässt sich nicht mehr entscheiden. Aber auch sie müssen Interesse gehabt haben an dem Thema der höfischen Minne, wobei sie offenbar die Verknüpfung von komplexer Formgebung mit dem konventionellen Inhalt und dem didaktischen Aspekt zu schätzen wussten.
Übersetzung: Gisela Gerritsen-Geywitz |
|