Nr. 90
Dieses bisher unbekannte Tagelied gehört zu den am besten überlieferten und wertvollsten Stücken der ganzen Handschrift. Es ist in einer äußerst sorgfältigen Niederschrift zweispaltig in das Stammbuch eingetragen und wurde zweifellos aus literarisch-schriftlicher Überlieferungssphäre dorthin übernommen. Die geringen Unstimmigkeiten im Text sind offensichtlich Abschreibfehler und zweifellos nicht durch mündliche Übermittlung entstanden. Außer den in den Anmerkungen genannten geringfügigen Defekten des Textes wären noch zu erwähnen: V. 36 lies: ich roiff knecht an; der Reim in V. 206/207 wäre zu rekonstruieren als deit: leit; V. 211: der Reim erfordert lain. Reimbindung und Wortwahl (s. bes. V. 41, 56, 63, 67, 68, 192) deuten auf ndt. Herkunft des Liedes, das aber andererseits unverkennbar den Einfluß des hd. Tageliedstiles verrät: er ist vor allem in den traditionellen Tageliedstrophen mit dem Ruf des Wächters, mit dem Beisammensein der Liebenden und ihrem Abschied bei Tagesanbruch sichtbar. Was dieses ndt. Gedicht von der hd. Tagelieddichtung deutlich abhebt, sind die realistischen Teile, in denen der Wächter seine Funktionen am Beginn eines Tageslaufes auf einem großen Gutshof plastisch beschreibt. Als äußerst gelungen muten auch jene Teile des Liedes an, in denen die Frau in dramatischer Wechselrede den voreiligen Wächter auf ihre Seite bringt und er mit Verständnis und Humor (s. Str. XIX) auf ihre Wünsche einzugehen