Menno ter Braak
aan
Rudolf G. Binding
Den Haag, 25 december 1933
Haag, Pomonaplein 22
25 Dezember 1933
Sehr geehrter Herr Binding,
Für die Zusendung Ihres Buches und Ihren Brief bin ich Ihnen sehr verbunden; wenn ich auch keinen Anlass finde meinen Urteil über Ihre Schriften zu ändern, so freue ich mich wesentlich, dass Sie mir Gelegenheit bieten, meinen Standpunkt von neuen Tatsachen heraus zu erörtern. Ihre Auseinanderersetzung mit Romain Rolland interessiert mich lebhaft, weil sie sich beträchtlich unterscheidet von dem all zu glatten - wenn Sie wollen: substanzreichen; ich habe den Aberglauben an die ‘Substanz’ abgeschüttelt, bilde ich mich ein - Stil Ihrer sonstigen Arbeiten. Sie verlassen hier wenigstens hier Ihren deutschen Olymp und versuchen so ehrlich wie möglich uns Ausländern klar zu machen, was Ihnen die nationale Erhebung (wie Sie es nennen) bedeutet. Glauben Sie mir, ich weiss dass zu schätzen; ich bin in meinen Aeusserungen scharf, aber ich habe keineswegs böse Absichten. Ich wohnte längere Zeit in Deutschland (Berlin); das ist eben der Grund, dass mich das deutsche Bekenntnis zum geistigen Mittelalter persönlich tief erschüttert hat. Ich liebe Heine, Stirner, Nietzsche, Thomas Mann; ich schätze Rilke und Stefan George, obschon ich um die olympische Gesten Georges oft gelachen habe. C'est la gravité de ce digne poète qui me fait rire.
Sie mahnen mich in Ihrem Brief, Ihre Bücher ‘aus deutschem Wesen heraus’ zu beurteilen. Leider ist mir das rein unmöglich; aus deutschem Wesen heraus haben wir im vergangen Jahre schon zu viel erklären müssen: Konzentrationslager, [Antisemitismus], Hitlergruss, Reichtagskandale des Herrn Goering u.s.w. Sie haben es gewissermassen leicht, wenn sie das ‘Randerscheinungen’ nennen! Ich glaube Ihnen unbedingt, wo Sie sagen, das der Kern des Geschehens dadurch nicht angerührt wird; das habe ich nicht, und das hat keiner bei uns behauptet. Als den Kern des Geschehens sehe ich Schlimmere Sachen. Deutschland, das im Begriff war sich zu einem wahrhaft europäischen Staat mit ‘guten Europäern im Sinne Nietzsches emporzuarbeiten, kehrt mit seinem ewigen Lamentationen über Versailles und den verlorenen Weltkrieg zurück zum überlebten Mythus, zur lehren Romantik, zu dem Glaube an die Rasse und das Volk. Randerscheinungen? Sagen Sie mir bitte, wo der Rand aufhört und die Kern anfängt! Sie wissen wahrscheinlich so gut wie ich, wie Goethe und [Nietzsche] sich über die Deutschen geäussert haben; in seinen Gesprächen mit Eckermann sagt Goethe, dass sie Barbaren sind; Nietzsche behauptet, es habe noch nicht einmal eine deutsche Kultur gegeben. ‘Ihr Deutsche, ihr seit so tief, ihr seit noch nicht einmal oberflächlich.’ Nietzsche wollte das vereinte Europa, er verabscheute die!, die jetzt durch die deutsche ‘Erhebung’ wieder propagiert wird; er sah die fehler der Juden, aber er wusste gleichfalls, dass die Juden die kommende europäische Kultur vorbereiteteten und deshalb durchschaute er die [antisemitische] Lüge, die jetzt in Ihrem Lande offiziell anerkannt wird (‘Ein Antisemit wird damit noch nicht anständig, dass er aus Grundsatz lügt.’) Sie können sich
übrigens darauf verlassen, dass sogar meine Grosseltern Arier waren; nur möchte man fast Jude sein, in den Umständen des heutigen Augenblicks.
Ihre Antwort ist ehrlich gemeint, daran zweifle ich nicht; dass Sie der nationalsozialistischen Partei nie angehört haben ist für mich der Beweis, dass Sie nicht wie die Antisemiten, ‘Aus Grundsatz zu lügen’ brauchen. Trotzdem haben Sie, soviel ich weiss, nicht protestiert, als Einstein als einen Hund aus Ihrem Land geworfen wurde; Sie haben nicht protestiert gegen den (freilich ziemlich komisch anmutenden) Wahnsinn der Bücherverbrennung; dass ist alles ja ‘Randerscheinung’, und wenn man in Deutschland gegen Randerscheinungen protest erhebt, wartet das Konzentrationslager oder die Emigration. [‘Greuelpropaganda’], sagt Ihr Minister [Goebbels], diese neue Randerscheidung der deutschen Kultur; ich habe, schade für ihn, in meinem Besitz das reizende Büchlein ‘Juden sehen Dich an’, selbstverständlich auch eine kleine Randererscheinung. Warum protestieren Sie nicht? Weil (in Ihren eigenen Worten) ‘nicht jeder sagen kann was er will’. Solange Sie feierlich, platonisch, religiös, mystisch, tief und noch einmal tief bleiben, solange wird kein S.A. Mann Sie belästigen; Ihre ‘Universalität’, das weiss man ganz genau, ist harmlos wenn Sie nicht mehr sagen. Wahrhaftig, ich liebe Herrn Feuchtwanger und Emil Ludwig nicht mehr wie Sie (wahrscheinlich); ich kann aber deswegen noch nicht einsehen, warum es nötig ist, das ‘Germany puts the clock back’ und die alten Dekorationen des Volksmythus wieder neu aufgeputzt werden sollen. Der Versailler Vertrag war eine Lüge, gewiss, nicht grösser, und nicht kleiner als die neue Lüge der Rassenreinheit, und wir Holländer sind davon eben so überzeugt wie Sie; aber Ihre Nation hat weder Frankreich noch die Inflation Ihnen genommen, Sie haben diese Tragödie enszeniert, Sie haben diesen Vertrag immer und immer wieder verkuppelt mit dem
nationalen Martyrium. Ich frage: warum konnte das Individuum in Deutschland unter der Republik von Weimar nicht frei und unabhängig leben, warum musste das Nationalgefühl immer verantwortlich gemacht werden für die romantischen Träumereien über die Vergangenheit?
Sie wagen es, in Ihrer ‘Antwort’, Goethe und Goering in einem Satz zu vereinigen. Ich habe nichts dagegen, dass sie beide ‘verflucht deutsch’ sind; Sie werden aber nichts dagegen haben können, dass sowohl Romain Rolland wie Dimitrof dabei die Achseln zuckt und lächelt. Von diesen Phrasen haben wir endlich genug, das mutet ungefähr so an wie das weniger erhabene, aber um so bekanntere ‘Deutsche trinkt deutsches bier’. Wenn Sie mir sagen, ganz offen, und ohne Platonismus, was Sie von diesem Herrn Goering denken und seinem ritterlichen Benehmen im Reichstagsprozess, so werde ich Ihnen sagen, dass ich das Deutschtum eines Goethe liebe und hochschätze wie ich das Deutschtum Goerings als einen Schmach, eine Geschmacklosigkeit und einen pathologischen Fall betrachte. Beide ‘verflucht deutsch’ - aber Goethe war vor allen Dingen Kosmopolit[,] auch das können Sie wissen, und Goering, na, Goering ist eben eine Randererscheinung. So kann man sich mit Gott und dem Teufel zurechtfinden sie sind wahrscheinlich auch beide ‘verflucht deutsch’! Hitler wenigstens hat sich die Behauptung entfallen lassen (in ‘Mein Kampf’), dass die Deutschen ‘Ebenbilder des Herrn’ sind, und seitdem stelle ich mich Gott so ungefähr vor in der Gestalt des Filmschauspielers Otto Wallburg[.]
Hoffentlich verzeihen Sie mir diese Attaque, die nicht persönlich gegen Sie gerichtet wurde; im Gegenteil, verhältnismässig ist Ihre ‘Antwort’ ehrlich und klar. Wir erwarten nur mehr, das wir vorläufig nur von Juden und [republikanische] Emigranten zu hören bekommen. Wir erwarten, dass Sie Nietzsche über die Deutschen lesen, wo er schreibt über ‘Zeitungen, Politik, Bier und wagnerische Musik’, die das deutsche Volk vergiftet haben, und nicht nur den ‘Zarathustra’ benützen als eine Art Prophezeiung des ‘Führers’. Nietzsche war Emigrant, vergessen Sie das bitte nicht[;] in Deutschland Flachland konnte er die schlechte Luft nicht ertragen; er zog Europa vor, Sils Maria, Genua.
Mit vorzüglicher Hochachtung,
Die Randerscheinungen sind symptomatisch für das Ganze; das wollte ich Ihnen noch sagen.
Doorslag: Den Haag, Letterkundig Museum