Kaiser Otto III. Ideal und Praxis im frühen Mittelalter
(1928)–Menno ter Braak– Auteursrecht onbekend
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Erstes Kapitel
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Qualität einer ‘Gemeinschaft’ zeigt; dass in dem ‘Ganzen’ und den ‘Teilen’ nur ein relatives, von einer Wertbeziehung abhängiges Verhältnis gegeben ist, sind wir uns dabei fortwährend bewusst. ‘Unsere Werturteile(sind) in letzter Linie immer bestimmt davon, was wir als Hauptresultat der Kulturentwicklung ansehen’ hat Ernst Bernheim in seinem ‘Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie’ mit Recht gesagtGa naar voetnoot1). Die Begriffe ‘Individualität’ und ‘Kollektivität’ sind von dieser Abhängigkeit keineswegs ausgeschlossen, weil wir das Individuum ja nicht ohne seine ‘kollektive’ Vorgeschichte und Wirkungen bestimmen und ebensowenig kollektive Funktionen aus den individuellen absondern können, ohne dabei auf Werte zu beziehen. Letzte Absicht des historischen Urteils kann niemals die ‘entwertete’ Objektivität sein; denn jede Geschichtsschreibung sucht, instinktiv oder bewusst wählend, und in den meist verschiedenen Schemata, den Menschen aus der Masse hervorzuheben, die Masse aus den Menschen zu erklären. Es ist wohl nicht fraglich, dass diese allgemeinen Vorbemerkungen sich mit dem Gegenstande dieser Untersuchung berühren. Denn besonders das Zeitalter Kaiser Ottos III. beweist, wie die Methode der ‘historischen Objektivität’ aus einer verschwommenen Analogie der geschichtlichen und ‘heutigen’ Tatsachen ganz verfehlte Folgerungen ziehen kann. Es handelt sich hier nicht um die Frage, welche Anschauung ‘objektiv’ ist und welche nicht; es handelt sich nur darum, ob man Individualität und Kollektivität als ‘naturwissenschaftliche’ Begriffe betrachtet oder nicht. Die erste Methode vertritt unabsichtlich Giesebrecht, dem wir das jetzt schon traditionelle Porträt Ottos III. verdanken, indem er in der Einleitung zu seiner ‘Geschichte der deutschen Kaiser- | |||||||
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zeit schreibt: ‘Der Gegenstand dieses Buchs ist... die geschichtliche Periode, in welcher der Wille, das Wort und das Schwert der dem deutschen Volke entstammten Kaiser die Geschichte des Abendlandes entschieden, in der das deutsche Kaisertum vor Allem der Zeit Anstoss, Richtung und Leitung und dadurch ihr eigentümliches Gepräge vor anderen Zeiträumen gab....’Ga naar voetnoot1) Nach dieser prinzipiellen Erörterung braucht man nicht mehr zu fragen, wie das Urteil über Otto III. bei Giesebrecht ausgefallen ist! Ein deutscher Kaiser ‘gibt der Zeit Anstoss’: dieses nicht weiter begründete Schema lässt schon für den asketischen Universalismus Ottos III. keinen Raum mehr übrig. Wir werden unten sehen, in welchem Sinne Giesebrecht seine Persönlichkeit gedeutet hat; es gehört aber hierher, auf den absoluten Begriffsinhalt, aus dem dieses Porträt Ottos hervorgegangen ist, hinzuweisen. ‘Kaiser’ und ‘Zeit’: diese zwei Begriffe hatten für Giesebrecht wesentlich eine absolute Gültigkeit; deshalb konnte er aus deren Produkt, der ‘Kaiserzeit’, sogar moralische Schlüsse ziehen. Die Darstellung Giesebrechts, welche nicht ohne die Ideale seiner Epoche denkbar ist, hat sich in der Praxis, soweit sie Otto III. betrifft, grösstenteils behauptet. Ihre theoretische Basis wird längst nicht mehr anerkannt; trotzdem beeinflusst ihre praktische Wirkung noch manchmal das historische Bild, wie wir unten zeigen werdenGa naar voetnoot2). Dagegen fassen wir in dieser Untersuchung die Begriffsbestimmung ‘Individualität-Kollektivität’ in relativem Sinne auf, weil wir in ihr eine Beziehung auf einen Wert sehen, der man gerade deshalb keine einzige moralische Bedeutung beimessen darf. | |||||||
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‘Individualität’ und ‘Kollektivität’ werden von Giesebrecht und seinen Nachfolgern also an erster Stelle übersetzt mit ‘Kaiser’ und ‘Zeit’; die Ereignisse konvergieren hauptsächlich nach diesem ziemlich willkürlich gewählten Gesichtspunkt. (Man vergleiche z.B. den zentralen Gesichtspunkt Thietmars von Merseburg!). Otto III., der in diesem ‘nationalen’ Sinne gewiss nicht dominiert hat und der für diese Auffassung nichts anderes als ein ‘Produkt seiner Zeit’ sein konnte, war damit schon verurteilt; Pflugk-Harttung durfte ihn später charakterisieren als ‘den Phantasten auf dem Kaiserthrone’.....Ga naar voetnoot1) Im Zusammenhang mit dieser politischen Inferioritätsdiagnose hat Giesebrecht nebenhin eine andere schiefe Vorstellung eingeführt; es ist der Gegensatz von Cäsarismus und Askese. Auch dieser Gegensatz ist wesentlich durch die absolute Begriffsbestimmung Giesebrechts bedingt; er hat hier einen modernen Dualismus, eine nur für die Neuzeit direkt verwendbare Formel auf das zehnte Jahrhundert angewandt, ohne dabei in Frage zu stellen, inwiefern diese Formel sich wirklich mit einem psychologischen Inhalt deckt. So schuf er das romantische Bild Kaiser Ottos III., des sehnsüchtigen Jünglings, schwebend zwischen einem phantastischen Byzantinismus und einer krankhaften Bussfertigkeit, schliesslich aller Realität entfremdet. Auch hier ist das Verhältnis von Individuum und Kollektivität missverstanden worden, und man hat folglich Otto zugedichtet, was nicht nur ihm, sondern seiner ganzen Umgebung eigen war. ‘Den’ Cäsar und ‘den’ Asketen (und infolgedessen ihren Zusammenstoss in einer Persönlichkeit) gibt es nicht als absolute Grössen; Cäsarismus und Askese, Formen eines später abstrahierten Konflikts, brauchen keineswegs unter allen Umständen Gegensätze | |||||||
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zu sein, weil sie nur moderne psychische Werte zum Ausdruck bringen. Die Motive, welche Giesebrecht zu seiner Unterscheidung geführt haben, kommen später zur Betrachtung; vorläufig genügt der Hinweis auf die prinzipielle Seite seines Irrtums. Wie Bernheim schon dargelegt hat, sind ‘Regnum’ und ‘Sacerdotium’ nicht ohne weiteres identisch mit ‘Staat’ und ‘Kirche’; ebensowenig sind Cäsarismus und Askese, deren Inhalt Giesebrecht apriori als gegeben voraussetzt, die adäquaten Ausdrücke gegensätzlicher mittelalterlichen Anschauungen. Gewiss sind Giesebrechts Begriffsbestimmungen vornehmlich in den letzten Jahren, erheblich modifiziert worden, besonders durch die hervorragenden Arbeiten BernheimsGa naar voetnoot1) und seiner Schule; wir möchten in dieser Untersuchung seine Anregungen dankbar benützen, ohne jedoch seiner ganzen Methode beizupflichtenGa naar voetnoot2). Vor allem sind es die Wechselwirkungen: Individualität-Kollektivität, und die mit ihr verbundenen begrifflichen Wertungen wie ‘Kaiser’ und ‘Zeit’, ‘Cäsarismus’ und ‘Askese’, welche wir kritisch betrachten werden. Vorher erfordert dies einen summarischen Ueberblick über die Geschichte des Problems.
Das historische Bild des ottonischen Zeitalters, in diesem Fall besonders der Periode Ottos III., ist, wie bereits gesagt wurde, vornehmlich unter dem Einfluss Giesebrechts entstanden wie es jetzt noch grösstenteils besteht; von grundlegender Bedeutung waren dafür übrigens auch die schon 1840 erschienen. ‘Jahrbücher des deutschen Reiches unter | |||||||
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der Herrschaft König und Kaiser Ottos III.’ von Roger WilmansGa naar voetnoot1). Eine von Uhlirz vorgenommene neue Bearbeitung wurde schon bei der Periode Ottos II. abgebrochenGa naar voetnoot2); Wilmans' an vielen Stellen veraltetes Buch ist bis jetzt noch die einzige annalistische Gesamtdarstellung, auf die wir auch heute noch manchmal zurückgreifen müssenGa naar voetnoot3). | |||||||
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Ist Wilmans schon faktisch häufig nicht mehr brauchbar, so ist Giesebrechts ‘Kaiserzeit’ vornehmlich wegen der pädagogisch-romantischen Tendenz nicht länger aktuell. Das grosse Verdienst, eine Epoche in einer tragischen und einheitlichen Konzeption anschaulich gemacht zu haben, darf diesem Autor freilich nicht abgesprochen werden, und es sind vielleicht gerade diese sehr persönlichen Elemente, des Standpunktes und des Stiles, welche dem Buche seine Wirkungssphäre gaben und es jetzt wieder dieser Sphäre berauben. Denn für die Figur Ottos III. z.B. konnte Giesebrecht, wegen seiner nationaldeutschen Gesinnung, nicht die richtige Würdigung finden. Otto bedeutet für ihn das tragische Geschick des deutschen Volkes, die ewige Sehnsucht der deutschen Seele nach fremden Ländern und Sitten, verkörpert in einem unreifen Knaben: eine Tragik, die ihren Abschluss findet in einem ruhmlosen Tode fern von der Heimat. Die Sage von Otto und Stephania hat für Giesebrecht einen tiefen symbolischen Sinn: dass deutsche Imperium unter dem italienischen Himmel wird getötet durch das Gift eines römischen Weibes.Ga naar voetnoot1) Im Kern ist diese Fassung des Ottoproblems ein Versuch, national-deutsche Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts historisch zu begründen. Die historische Entwicklung wird hier sehr bestimmt beschränkt auf eine Entwicklung zur deutschen Einheit; und im Rahmen dieses Entwicklungsabschnittes bilden die Zeit, die Umgebung und die Persönlichkeit Ottos gewiss keinen Höhepunkt. Gegen diese Fassung ist übrigens sofort anzuführen, dass die Beschränkung auf einen derartigen Entwicklungsabschnitt eine völlig willkürliche Hand- | |||||||
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lung ist; sie ist eine Wertung, und nichts braucht uns davon abzuhalten, die Entwicklung etwas weiter zu führen und Ottos Nachfolger Heinrich II., vom Standpunkte des heutigen Internationalismus aus, als einen erheblichen Rückschritt zu betrachtenGa naar voetnoot1). So allerdings darf das historische Urteil nicht begründet werden, denn der Begriff Entwicklung wird dann verwechselt mit dem Begriff Fortschritt; und es ist unzulässig, diesen Begriff als historisches Axiom vorauszusetzen. Dieselbe national-deutsche Urteilsbasis spürt man bei Waitz, der über Otto folgendes schreibt: ‘Sein ganzes Tun hat einen phantastischen Charkter, und blosse Schattenbilder sind es, die er hinzustellen vermag. Er verliert den sicheren Boden unter den Füssen; er entfremdet sich die Deutschen, deren Roheit er geringschätzt, der Gewandtheit un Eleganz der Südländer gegenüber; er vergisst, dass das Reich auf ihnen ruht, durch ihre Kraft zusammengehalten wird’Ga naar voetnoot2). Es ist der Gefühlston des gekränkten Nationalbewusstseins, durch den diese Aeusserung inspiriert wurde; ‘blosse Schattenbilder’ sind die universalistisch-asketischen Ideen Ottos, weil er sich ‘die Deutschen entfremdet’, weil er ‘ihre Roheit geringschätzt’, obwohl sie das Reich zusammenhalten, Selbstverständlich hat diese Ansicht einen realen Anhalt in den Zeitverhältnissen, womit wir uns später zu beschäftigen haben; die Gefühlsfärbung aber (und dies ist besonders wichtig) hat damit nichts zu tun und entstammt nur einer | |||||||
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parteiischen (d.h. ‘egoïstisch’, nicht bloss egozentrisch wertenden) GesinnungGa naar voetnoot1). Was man in den Darstellungen Giesebrechts und Waitz' zu tadeln hat, ist also prinzipieller Art. Die ungünstigen Zeugnisse verschiedener Zeitgenossen über Otto haben sie nicht hinreichend und wesentlich geprüft und sich daher mid dem blossen Dasein der Missbilligung begnügt; und dennoch fangen eben bei dem Grunde dieser Missbilligung die Schwierigkeiten anGa naar voetnoot2). An eine bewusst-nationale Strömung ist in diesen Tagen weder in politischem, noch in ‘kirlichem’ Sinne zu denken, noch weniger an einen katastrophalen Zusammensturz des ottonischen Regiments durch den plötzlichen Tod Ottos III. Die Ausbildung der nationalen Staaten hat kaum das Stadium der theoretischen Bewusstwerdung erreicht; die herrschenden Ideen sind in dieser Hinsicht noch verworren, überall noch mit dem Gedanken des Weltimperiums und des universalen Sacerdotiums vermischt, falls sie überhaupt vorkommen. Die Verhältnisse ändern sich nicht plötzlich nach dem Jahre 1002Ga naar voetnoot3); erst in der Zeit Heinrichs IV., als die Rivalität zwischen Kaiser und Papst die Form eines erbitterten Kampfes um die Oberherrschaft annimmt, verliert das Imperium allmählich Terrain und damit seine kulturelle Unentbehrlichkeit. Die zeitgenössische Verstimmung gegen Otto III. hat sehr verschiedene Gründe; keinesfalls aber darf sie unmittelbar auf eine Verletzung des | |||||||
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Nationalstolzes zurückgeführt werden. Es ist deshalb ein sinnloser Anachronismus, Otto vorzuwerfen, dass er in seinem Brief aan GerbertGa naar voetnoot1) die ‘saxonica rusticitas’ verschmäht; politische, ‘anti-nationale’ Gedanken sind dabei nicht einmal im Spiel und die kulturelle Minderwertigkeit dieser ‘rusticitas’ (wenn sie nicht nur als Stilfigur gemeint ist) wird wohl niemand bezweifeln. Bezüglich des wertenden Urteils verhalten sich also Giesebrecht und z.B. Bruno von Querfurt, der in seiner ‘Vita quinque fratrum’ eine scharfe Kritik über Ottos Betragen geliefert hatGa naar voetnoot2), durchaus verschieden. Man muss sich nicht durch die oberflächliche Uebereinstimmung irreführen lassen; das bedeutet die ganze Verschiedenheit der Anschauungen verkennen. Giesebrecht und im allgemeinen die ganze ‘objektive’ Schule waren in dieser Hinsicht unkritisch; sie meinten sich mit einer gefühlsmässig-psychologischen Erklärung der Motive begnügen zu können. Bernheim stellt mit Recht dieser Methode seine Kritik der Ideen und der zeitgenössischen Quellen gegenüberGa naar voetnoot3); inwiefern en darin konsequent verfahren ist, muss hier dahingestellt bleiben; aber wenigstens ist sein System der Interpretierung eine äusserst wichtige wissenschaftliche Leistung, durch die Giesebrechts romantische Psychologie auf immer beiseite geschoben worden ist. ‘Es fällt mir nicht ein’ sagt Bernheim, ‘die Persönlichkeiten gewissermassen zu Hampelmännern des Zeitgeistes, des Milieus, der Masse machen zu wollen. Aber das, was sie mit den Anschauungen ihrer Zeit, ihrer Mitwelt gemein haben, soll nicht als etwas rein Persönliches verkannt, sondern in dem Zusammenhange, in dem es steht, erkannt | |||||||
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und bewertet werden. Nur so kann man schliesslich einsehen, was dem Individuum überkommen ist, und was es daraus gemacht, was es aus dem Eigenen hinzugetan hat’Ga naar voetnoot1). In diesem Satz ist das Urteil über Giesebrecht schon gefällt; und wir werden sehen, dass die Willkür seiner Methode gerade aus Otto III. eine poëtische Karikatur gemacht hat. Teils in Beziehung zu diesen methodischen Unzulänglichkeiten, teils unabhängig davon gibt es verschiedene faktische Einzelheiten, welche in der ‘Geschichte der deutschen Kaiserzeit’ veraltet, jedoch keineswegs aus dem gangbaren historischen Bild gestrichen sind. Die Abschnitte über die ‘Regentschaft’ der Kaiserinnen Theophano und Adelheid, über ‘Ottos phantastische Pläne’ u.a., die Charakteristik Gerberts; die Auffassung von Ottos byzantinischem Zeremoniell in Rom sind durch neuere Detaildarstellungen schon an allen Seiten revidiert wordenGa naar voetnoot2); sie wurden aber noch nicht in einer entscheidend umbildenden Zusammenfassung übersichtlich gemacht. Im Gegenteil: sogar in einer der jüngsten Arbeiten über das Zeitalter der Ottonen und SalierGa naar voetnoot3) findet man die alte Vorstellung kaum verändert; | |||||||
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sie ist lebendig geblieben, obschon die Untersuchungen von KehrGa naar voetnoot1), BlochGa naar voetnoot2), HalphenGa naar voetnoot3) u.a. sie längst in das Reich der Romantik verwiesen hat. Deshalb soll sie jetzt auch unromantisch, d.h. zeitgemäss und gegründet auf die heutigen wissenschaftlichen Resultate, umgestaltet werdenGa naar voetnoot4). Mit den Ottobiographien aus der Sphäre Giesebrechts brauchen wir uns nicht lange zu beschäftigen. Sie sind grösstenteils völlig abhängig von dem hinreissenden Vorbild, dem sie sehr wenig Wesentliches hinzugefügt haben. In erstaunlich hohem Masse wurden ganze Kapitel fast buchstäblich der ‘Kaiserzeit’ entnommen. Die allgemeine Tendenz ist nationalistisch und oft didaktisch bis pädagogisch; das Verständnis für die grossen universalistischen Gedanken fehlt meistens und wird niemals Hauptmotiv der Untersuchung. Es gibt wohl kaum eine Zeit, die man so einseitig gesehen und so ausnahmslos als Vorbereitung zu einer ‘neuen’ Zeit betrachtet hat, als die deutsche Kaiserzeit; sie ist gewissermassen die Kinderstube des deutschen Volkes, worin dessen erhabene Tugenden und bedauernswerte Unvollkommenheiten sich überall in ihrer Urkraft zeigen und, wenn sie sich nicht zeigen, als potentiell und schlummernd vorausgesetzt werden. Dadurch musste man an einer anderen Ideenwelt, der katholisch-augustinischen, der mittelalterlich-universalistischen vorübergehen, ohne ihre Bedeutung richtig gewürdigt zu haben; man musste aus den spekulativen ‘Urkräften’ eine Charakterpsychologie aufbauen, über deren Einzelheiten man | |||||||
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wegen des völlig abweichenden zentralen Gesichtspunktes der Quellen im Unklaren blieb. Unter solchen Bedingungen wurden diese Biographien des jungen Kaisers geschrieben; wir müssen aber auf eine ausführliche Analyse verzichten, weil, wie schon gesagt, ihre Darstellungsweise durchschnittlich höchst traditionell und populär-parteiisch ist. Sie bemitleiden Otto; sie preisen seine leider in puerilen Spielereien verloren gegangene Veranlagung; sie bedauern die cäsaristischen und asketischen Elemente (Gerbert und Adalbert von Prag), die diese Veranlagung verdorben haben; und selten fehlt ein moralischer Hinweis im Sinne Giesebrechts auf die Vergangenheit oder die Zukunft der deutschen NationGa naar voetnoot1). Es ist bezeichnend, dass auch Karl Lamprecht in seiner ‘Deutschen Geschichte’Ga naar voetnoot2) die Persönlichkeit Ottos III. nicht in ein neues Licht gestellt hat. Aus seiner kollektivistischen Methode lässt sich schon ableiten, dass er Otto als den Spiegel der politischen und geistigen Strömungen erscheinen lässt; dennoch ist seine Vorstellung gefärbt durch seine Fortschrittsidee, für die die ‘Ottonische Renaissance’ eine ‘typische’ Kulturvorstufe bildet wie die vorkarolingische Zeit, ‘wenn auch in qualitativ höherer Erscheinungsform’Ga naar voetnoot3). Wie manchmal hat auch hier Lamprechts magischer und genialer Gedanke der Kulturzeitalter der Skepsis einer Detailkritik das Feld zu | |||||||
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räumen; denn er führt ihn in diesem Fall zu einem Urteil, das wir als anachronistisch abweisen müssen. Otto ‘ist der einzige Kaiser, der sich seiner Nationalität geschämt hat’Ga naar voetnoot1). Dies ist, schon auf Grund des oben angeführten, eine sehr angreifbare Meinung, will man wenigstens dem Begriffe ‘Nationalität’ nicht seinen ganzen Gehalt nehmen. ‘Von kosmopolitischer Höhe aus wird man sein Wirken, seinen Charakter begreifen’Ga naar voetnoot2). Diese kosmopolitische Höhe aber wünscht Lamprecht offenbar nicht zu erreichen, denn er behauptet: ‘Das Unglück Ottos war, dass die geistigen Strömungen, deren Gewalt er an sich selbst erfuhr, in ihrem Kerne nicht nationalen, deutschen Charakters waren’. ‘Handelte die Nation mit richtigem Instinkt, als sie den Universalherrscher fallen liess? Man kann geneigt sein die Frage zu bejahen. Nicht vom deutschen, nur vom römischen, italienischen Zentrum her war ein wahrhaftes Universalreich des Mittelalters zu leiten; die Päpste seit Gregor VII., die Kaiser seit Heinrich VI., haben er wohl begriffen. Ein von Deutschland aus beherrschtes Reich konnte nur mitteleuropäisch sein, ein römisches Reich deutscher Nation, bestehend aus Deutschland, Burgund und Italien. Nur ein solches Reich, und ein solches allerdings, lag im deutsch-nationalen Interesse; in der grössten Zeit unsres Kaisertums, von Heinrich II., Konrad II. und Heinrich III., ward es gegründet’Ga naar voetnoot3). Dieser Gedankengang sieht, oberflächlich betrachtet, ganz einfach aus, ist er aber weniger. Denn was sind ‘geistige Strömungen’, die ‘in ihrem Kerne’ nicht ‘deutsch-nationalen Charakters’ waren? Was ist ‘der richtige Instinkt’ einer | |||||||
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Nation? Sind die ‘deutsch-nationalen Interessen’ massgebend für das historische Urteil überhaupt? Ist ‘von kosmopolitischer Höhe’ aus gesehen nicht vielmehr das ottonische Zeitalter mit seinem in Otto III. kulminierenden Universalismus ‘die grösste Zeit unseres Kaisertum’?... Diese und dergleichen Fragen lassen sich nicht umgehen. Wenn man sagt, dass erst Gregor VII. und Heinrich VI. eingesehen haben, wie man ein ‘wahrhaftes Universalreich des Mittelalters’ leiten sollte, so ist das ein nichtssagendes Spiel mit den historischen Ergebnissen, ein Spiel auch mit der Unumkehrbarkeit des Geschehens. Das Universalreich Gregors VII. und Heinrichs VI. war nicht das Universalreich Ottos III.; man verkennt die ganze Eigentümlichkeit einer Periode, wenn man sie wesentlich nach späteren Konsequenzen, nicht nach inneren Verhältnissen zu beurteilen versucht. Jede Staatsidee ist eine zeitliche, mehr oder weniger brauchbare Fiktion; sie ist das Produkt einer Vergangenheit und die Bestimmung einer Zukunft, sie entspricht aber, vor allem, dem Bedürfnis einer Gesellschaft, einer Kategorie. Den Massstab des Bedürfnisses soll man der Staatsidee anlegen; denn jeder andre verliert sich ins Spekulative. Lamprecht, der Maler des ‘typischen’ ottonischen Zeitalters, wollte diese Periode als eine organische Einheit zusammenfassen; jedoch aus den angeführten Urteilen geht hervor, wie wenig diese Einheit sich von den typischen Wertungen seiner Zeit freizumachen vermag. Trotzdem sind die synthetische Wirkung seiner Darstellung und die von ihm ausgelösten Anregungen für die moderne Historiographie von kaum zu überschätzender Bedeutung gewesen. Der ‘Realismus’ Giesebrechts war eine ‘naive’ Uebertragung; zwischen Quellenuntersuchung, Tatsachenkritik, Urkundenlehre einerseits und Darstellung, psychologischer Kritik, Synthese anderseits gab es nur die Verbindung des romantischen, nationaldeutschen Schematismus. Lam- | |||||||
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precht hat diesen flachen, unkritischen Zusammenhang preisgegeben; er hat die Selbständigkeit, die Eigenheit der Kulturperioden beobachtet und dieser Beobachtung eine scharf und einseitig ausgeprägte Form verliehen; und die Eigenheit einer Periode erkennen, bedeutet kritisch ihren Phänomenen gegenüberstehen, die Relativität unserer eigenen Formenwelt jedenfalls praktisch zugegeben haben. Wie man den kollektivistischen Gedanken ausnützen, freilich auch einseitig ausnützen kann, zeigen die unter Lamprechts Einfluss entstandenen Arbeiten über Geschichte und Kultur des zehnten JahrhundertsGa naar voetnoot1). Wir werden sie später anzuführen haben, wollen hier also nur ihren allgemeinen Charakter bestimmen. Sie versuchen eine möglichst genaue Typisierung in den Quellen durchzusetzen und sprechen ihnen die Fähigkeit zur individuellen Persönlichkeitserfassung ab. Kleinpaul konstatiert ‘Abwesenheit psychologischer oder auch sonst kausaler Motivierung’Ga naar voetnoot2). Aus einem Passus bei Tacitus leitet er, auch für die mittelalterliche ‘Germania’, eine ‘Gleichmässigkeit inneren Empfindungsund Erkenntnislebens’Ga naar voetnoot3) ab. Die karolingische Renaissance | |||||||
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habe diese Gleichmässigkeit nicht zerstört; ‘kein Wunder also, wenn auch im zehnten Jahrhundert die Deutschen noch, wie zur Zeit des Tacitus, einander ähnlich waren, freilich, indem sich die übereinstimmenden Momente, vom körperlichen Elemente sich längst entfernend, vor allem noch in der Uebereinstimmung geistigen Lebensinhaltes geltend machten’Ga naar voetnoot1). Un Schneider behauptet: ‘Um die Philosophie des frühen Mittelalters zu verstehen, müssen wir alles dreimal übersetzen; die Fassungen der Antike müssen wir in unser Denken übertragen; dann müssen wir sehen, was das Mittelalter aus diesen Antiken gemacht hat; und das können wir wieder nur, wenn wir von unseren höheren Fähigkeiten im Denken bebrauch machen, um uns wieder in niedere Formen zurückzuversetzen...’Ga naar voetnoot2). Hieraus geht die Aufstellung einer Typengalerie hervor, das Verdienst und zugleich die Schwäche der kollektivistischen Methode. Wenn auch die Typeneinteilung (König, Frau, Geistlicher, u.s.w.) und das Schema eines ‘typischen’ Denkens (Unfähigkeit zur Logik, zum Abstrakten, u.s.w.) zweifellos für uns eine gewisse praktische Bequemlichkeit mitbringen, sogar eine übersichtliche Systematik ermöglichen, so soll man doch nicht vergessen, dass weder die Typen-einteilung noch das Schema des Denkens einer psychischen Realität entsprechen. Es bleibt auch jetzt noch unbedingt möglich, in den Quellen des zehnten Jahrhunderts an vielen Stellen die individuellen Absichten aus den kollektiven Typisierungen zu sichtenGa naar voetnoot3); gerade über Otto III. liegen einige zeitgenössischen Urteile vor, deren Gehalt keineswegs | |||||||
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ein bloss typischer istGa naar voetnoot1). Niemals wird man dem Verhältnis von Persönlichkeit und Zeit gerecht, wenn man die Typisierung nur als eine Art primitive Beschränktheit, das typische Schema als eine wirkliche Form des frühmittelalterlichen Denkens, die geistige Gebundenheit als ein Analogon der körperlichen Aehnlichkeit betrachtet; in den Begriffen ‘Typus’ und ‘Schema’ ist lediglich unsere Unfähigkeit, vergangene Nuanzierungen in den stofflichen Resten aufzusuchen, gegeben. Eine Gleichmässigkeit des stofflichen Materials, des Ausdrucks also, ist ausserdem noch keine Gleichmässigkeit des Seelenlebens; und diese scheint mindestens eine unwahrscheinliche und unpsychologische Voraussetzung in einer Zeit, die Gerbert und Otto III. geboren hat. ‘Typik’ als methodisches Hilfsmittel ist sicher ein brauchbares Klassifizierungswort, das nur nicht zu unberechtigten psychologischen Folgerungen verführen soll; denn die reine Typik Lamprechts gründet einen neuen, ebenfalls absoluten, Gegensatz von Individuum und Kollektivität,... wobei nur das Individuum gleich Null ist. War also bei Giesebrecht das Verhältnis von Individuum und Kollektivität ein völlig willkürliches, so blieb in der Theorie des ‘Typischen’ immer die Möglichkeit zur willkürlichen Rekonstruktion übrig, weil das individuelle Element in den Quellen einfach ausgeschaltet wurde. Der Historiker hatte aus einer Menge typischer Züge mit seinen ‘höheren Fähigkeiten im Denken’ die Persönlichkeit zu konstruieren; und wir haben gesehen, inwiefern Lamprecht | |||||||
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mit diesen Fähigkeiten zu ‘objektiven’ Ergebnissen kam! Merkwürdigerweise verschmelzen sich schon für uns, was die Persönlichkeitsschilderung Ottos III. anbelangt, die im übrigen so verschiedenartigen Anschauungen Giesebrechts und Lamprechts mit einander zu einem ‘Typus’: dem Typus des emporstrebenden Deutschlands des neunzehnten Jahrhunderts. Im zweiten Kapitel, wo wir uns mit der augustinischen Staatsidee auseinanderzusetzen haben, werden wir nachweisen, wie Bernheim Elemente des Lamprechtsen Gedankens, ohne dessen Einseitigkeit, wieder aufgenommen und in seinen ‘Mitteralterlichen Zeitanschauungen’ durchgeführt hatGa naar voetnoot1). Aus Lamprechts Schule konnte man also schwerlich die Biographie einer wirklichen Persönlichkeit erwarten, weil sie sich durchaus skeptisch dem Individualitätsgehalt der frühmittelalterlichen Quellen gegenüber verhieltGa naar voetnoot2). Statt der Kaiserbiographie mit ihrem bunten Dekor erschien die ‘Zeitbiographie’, worin das Individuelle kaum eine Rolle spielte. Trotzdem, der Gedanke des Zusammenhangs einer Epoche war, auch in der Geschichtsschreibung, lebendig geworden; und sogar in dieser schroffen Gestaltung hat er reaktiv sehr fruchtbar gewirkt. Auffallend ist es gewiss, dass wo die meisten Geschichtsschreiber der deutschen Kaiserzeit die universalistischen Ideen Ottos III. abgelehnt haben, die Gruppe der Kirchenhi- | |||||||
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storiker diesen Universalismus günstiger beurteilt hat. Diese Eigentümlichkeit ist zweifellos kein Zufall, und deshalb muss sie hier in Betracht gezogen werden. Sie beleuchtet deutlich die ganze Verwickeltheit, die ‘heutige’ Bedingtheit des historischen Urteils. So schreibt Hauck in seiner ‘Kirchengeschichte Deutschlands’: ‘Es war ein genialer Gedanke, dass Otto, indem er den alten Anspruch ergriff, ihn zugleich umbildete: an die Stelle der unmittelbaren Herrschaft des Kaisers über das christliche Abendland setzte er die Oberherrschaft des Kaisers über die Fürsten des christlichen Europa’Ga naar voetnoot1). ‘Denn Otto III. hat den Versuch gemacht, Ottos I. Werk zu vollenden. Hatte jener die kaiserliche Würde erneuert, so unternahm es dieser dem Wort “Kaisertum” seinen alten Gehalt zurückzugeben...’Ga naar voetnoot2) Zwar betrachtet Hauck das ‘retrospektive Element’ in der Ottonenkultur als überwiegend; und er meint, nach der Ueberzeugung der Welt wäre der Papst, nicht der Kaiser, der Leiter der Kirche gewesen.Ga naar voetnoot3) Er würdigt aber die Originalität des Weltherrschaftsgedankens und erkennt seine realen Beziehungen zur politischen Lage des damaligen westlichen Europa an. Voigt, der Biograph der Märtyrer Adalbert von Prag und Brun von Querfurt, drückt sich noch positiver aus: ‘Man wird ihm (Otto) doch nicht gerecht, wenn man ihn, der schon mit einundzwanzig Jahren starb, nur als Träumer und Phantasten hinstellt. Es hat ihm in seinem kurzen Leben weder an grossen Gedanken noch grossen Taten gefehlt’Ga naar voetnoot4). | |||||||
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Als Verdienste Ottos führt Voigt seine vielen Reisen durch das Reich, seine Missionspläne und die überlegte Wahl seiner Päpste an; er bestreitet Wilmans' Behauptung hinsichtlich seiner Energielosigkeit; ‘und so liegt überhaupt das Phantastische oft mehr in der Darstellung des späten Historikers als in Ottos eigener Person’Ga naar voetnoot1). Welchen Grund gibt es für diese grosse Verschiedenheit der Ansichten? Man darf sie nicht in einer Verschiedenheit des bearbeiteten Materials suchen; Hauck und Voigt operieren gewöhnlich mit denselben Tatsachen als z.B. Giesebrecht oder Böhmer, die zu einem entgegengesetzten Resultat kommenGa naar voetnoot2). Vielmehr liegt hier eine tiefe Wertungsverschiedenheit vor, welche in ihrem Ursprung von den Tatsachen unabhängig ist. Der Kirchenhistoriker ist unwillkürlich, man möchte fast sagen instinktiv, mehr zum Universalismus geneigt als der Verfasser einer Staatengeschichte; deshalb wird er einen Gedanken genial nennen können, der einem Vertreter des politischen Nationalbewusstseins als eine törichte Phantasterei vorkommt. Ganz besonders hier eröffnet sich, wie wenigsagend und verwirrend die Terminologie des historischen Urteils sein kann, wenn sie keine Rücksicht auf ihren wertenden Charakter nimmt und sich für eine absolute Bestimmung ausgibt. Zweifellos ist Ottos Staatsidee, die beherrschende Idee seiner Umgebung, welche eine Art föderale Union der christlichen Fürsten unter kaiserlicher Oberherrschaft beabsichtigte, nicht bloss ein phantastischer Traum und gewissermassen ein genialer Entwurf; ebenso zweifellos bedeutet sie einen Mangel an politischem Realitätssinn, an geschickter Berechnung und ist also gewissermassen nicht genial. Es ist eben nur die Frage, was man genial nennt. Man | |||||||
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halte diese Bemerkung nicht für eine nebensächliche Nichtigkeit, welche mit dem Gegenstand der Untersuchung nichts zu tun hat; es ist ja unmöglich, den Beurteilten vom Urteilenden zu lösen, ohne dabei das Urteil zu verwässern. Hier hat man zwei Richtungen im Urteil zu unterscheiden: die universalistisch-kirchliche und die national-politische. Beide finden Anhaltspunkte in den Quellen und den überlieferten Verhältnissen, aber beide richten sich nach ihrem eigenen Prinzip, nach ihrem eigenen Entwicklungsgedanken. Was ist die Hauptsache: die Bildung der nationalen Staaten oder die christliche Gemeinschaft der Völker, welche immer das Ideal des religiösen Menschen bleiben wird? Die Antwort auf diese Frage bestimmt in letzter Linie die bisherigen Ansichten über die politische und religiöse Tätigkeit Kaiser Ottos III., obschon die meisten Forscher, trotz ihrer möglichst gründlichen Sachkenntnis, sich dessen nicht bewusst gewesen sind. So gibt es über Ottos sonderbare Hinneigung zu Karl dem Grossen, symbolisiert in seinem Besuch an dessen Grab, über seine Missionspolitik, symbolisiert in seinem Zug nach Gnesen, über seine asketischen Bussübungen, symbolisiert in seinem Verhältnis zu den grossen Asketen Adalbert, Romuald und Nilus, die verschiedensten Meinungen, weil diese Meinungen so eng mit Entwicklungsspekulationen verknüpft sind, dass man die Abhängigkeit oft kaum mehr als eine richtunggebende gespürt und eine ‘Objektivität’ des Urteils beansprucht hat. Die Ottofigur war manchmal ein Programmpunkt, sogar ein leidenschaftlich, wenn auch in der Form des ‘objektiven’ Urteils umstrittener Programmpunkt; sie war gewissermassen die fleischgewordene Grenze zwischen Weltherrschaft (einer römisch-christlichen Idee) und Nationalherrschaft (einem Gedanken oder einer Notwendigkeit der ‘neuen’ Welt), infolgedessen zwischen den Faktoren, die man als Vergangenheit und Zukunft zu betrachten pflegt. Die Wertung wurde | |||||||
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also dadurch beherrscht, wie man sich dem Zusammenhang dieser Vergangenheit und dieser Zukunft gegenüberstellte, in wiefern man die Vergangenheit noch in der Zukunft zurückfinden konnte, die Zukunft als Resultat der Vergangenheit hinnehmen wollte. Führen wir schliesslich noch eine der besten modernen Darstellungen an, Hartmann's ‘Geschichte Italiens im Mittelalter’. Er sieht Otto als das Opfer seiner irrealen Phantasie, die durch Gerbert und Adalbert von Prag verstärkt wurde; ‘von frühester Jugend an musste der Purpurgeborene in den Gedankenreis gebannt sein, der in ihm selbst seinen Mittelpunkt fand’.Ga naar voetnoot1) ‘Seine Ideen schwankten zwischen dem Himmelreiche, dem er zustrebte, und dem irdischen Universalreiche, das nicht minder ein Traum war, hin und her, ein getreues Spiegelbild der das Mittelalter kennzeichnenden Gegensätze’.Ga naar voetnoot2) Auch hier wird die alte Vorstellung des cäsaristischasketischen Charakterzwiespaltes beibehalten, obgleich Hartmann an einer anderen Stelle gesteht: ‘Die “Freiheit” und Sicherheit der Kirche Gottes erschien ihm (Otto), wie seinem Berater Leo von Vercelli, als eine Voraussetzung für das Gedeihen des Imperiums...’Ga naar voetnoot3) Wir glauben, dass dieser Satz ungefähr dasjenige ausdrückt, was wir später ausführlicher nachzuweisen haben; er ist aber schwerlich vereinbar mit dem oben behaupteten ‘Schwanken zwischen Himmelreich und Universalreich’; dieses Schwanken existiert nur in einer modernen, anachronistischen Vorstellung, ist vielleicht als psychologische Abstraktion, aber gewiss nicht als Motivierung politischer Handlungen zulässig; denn diese Handlungen sind das Produkt nicht einer zerrissenen Seele, | |||||||
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sondern überlegter und ‘zeitgemässer’ Absichten. So bleibt auch bei Hartmann die Analyse dieser Psyche in einem Stadium der Unsicherkeit, weil er sich nicht endgültig von den Konjekturen der ‘romantischen’ Psychologie losgesagt hat. Was ist das Gesamtergebnis der besprochenen Auffassungen, welchen Anhalt geben sie für eine neue Darstellung? Es war nicht die Absicht in dem vorstehenden Ueberblick eine vollständige Anthologie aus den modernen Biographien Ottos herzustellen; es musste lediglich darauf hingewiesen werden, welche Momente nach unserer Meinung im allgemeinen nicht berücksichtigt wurden, welche Voraussetzungen dagegen ohne weiteres, und in unerlaubter Weise, das historische Bild bedingten. Wenn wir sie kurz zusammenfassen sind es praktisch folgende Punkte, die für diese Untersuchung in Betracht kommen werden:
Selbstverständlich soll dabei der leitende Gedanke bleiben, dass man die Begriffe ‘Individuum’ und ‘Kollektivität’ an letzter Stelle als eine Wertung hinzunehmen hat; deshalb soll man Mensch und Zeit nicht am Anfang, sondern am Ende behandeln, weil man erst das ‘Kollektive’, das nicht weiter in persönliche Beziehungen Zerlegbare, aus den persönlichen Aeusserungen (den zeitgenössischen Quellen) konstruieren muss, nicht aber umgekehrt, Persönlichkeiten aus einer kollektiven ‘Kulturpersönlichkeit’ ausscheiden kann. Erst nachdem man festgestellt hat, was man als kollektiv bestimmen darf, hat man das Recht, das persönliche | |||||||
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Element, seiner positiven oder negativen Bedeutung gemäss, zu würdigen; ‘positiv’ oder ‘negativ’ ist dann mehr als ein schwebender Ausdruck, es ist die Formulierung eines im voraus begrenzten Verhältnisses. Diese Formulierung hat nicht die Prätension, eine ‘objektive’ zu sein; im Gegenteil, gerade weil man sich ihres wertenden Charakters bewusst ist, wird man sich hüten, eine Persönlichkeit mit ‘objektiven’ (absoluten, moralischen) Werten zu messen. Es ist wichtig diese Richtungslinie nicht aus dem Auge zu verlieren, weil, wie schon gesagt, das Quellenmaterial für die Geschichte Ottos III. nicht nur dürftig ist, sondern auch durch von den unsrigen gänzlich abweichenden psychologischen Interessen bestimmt wird. Vornehmlich die Bernheimsche Schule hat in mehreren DissertationenGa naar voetnoot1) den Zusammenhang dieser Interessen geprüft und das Weltanschauungssystem, das ihnen zugrunde liegt, aus seinen geistigen Wurzeln abgeleitet. Erst diese Transposition der Quellen ermöglicht die Benützung der Tatsachen, welche sie mitteilen; denn man kann sich hier nicht, wie Giesebrecht getan hat, mit einer Auswahl der Tatsachen begnügen. Man muss Begriffe begrifflich übersetzen; man muss die Zentralpunkte des frühmittelalterlichen Gedankenganges in einen modernen Denkprozess umschmelzen, das Urteil der Zeitgenossen umwerten. So wird man wenigstens nutzlose Hypothesen und Phantasien vermeiden, wie man sie so oft in der Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts findet. Moltmann z.B. hat sich in seiner Schrift über TheophanoGa naar voetnoot2) mit Vermutungen beschäftigt, weshalb die Kaiserin sich vor dem Jahre 975 so wenig in den Urkunden bemerkbar macht; er denkt dann, obgleich dafür nicht der | |||||||
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geringste Beweis existiert, an das ‘rauhe, wechselvolle Klima’ oder sogar an das ‘gemütvolle Familienleben’Ga naar voetnoot1) Dass dergleichen Kombinationen nur häusliche Hineininterpretierungen sind, braucht man wohl kaum noch zu sagen; sie sind dennoch bezeichnend für die Naivität dieser ‘objektiv’-psychologischen Uebertragungsmethode. Bentzingers Biographie der Kaiserin AdelheidGa naar voetnoot2) versucht eine Charakteristik dieser merkwürdigen Frau vornehmlich auf Grund der Aufzeichnungen Odilos von ClunyGa naar voetnoot3) und schliesst daraus, dass sie ‘eine der hervorragendsten, wenn nicht die bedeutendste Frau in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts’ gewesen istGa naar voetnoot4). Wir werden das nicht leugnen; die Belege aber, welche Bentzinger heranzieht (die Lobsprüche Odilos), verraten keineswegs, in welchem Sinne wir das Hervorragende in ihrem Charakter zu deuten haben, weil sie durchaus ‘typisch’ sind und deshalb für uns ohne begriffliche Uebersetzung, ausserdem ohne Kenntnis ihrer Tätigkeit aus den Interventionen, völlig unbrauchbar. Aus diesen zwei Beispielen ergibt sich, welche zwei Fehler hier auf der Hand liegen: erstens die phantastische Rekonstruktion aus den Lücken der Quellen, zweitens die Verwendung der Quellen ohne konsequente Kritik der Zeitanschauungen. In beiden Fällen zeigt sich eine Unterschätzung der schwierigen Wege, die zum Ziel führen. Dieses Ziel bleibt ja immer die Transposition psychischer Funktionen der Vergangenheit in die heutigen Gedankenschemata; man soll nur nicht übersehen, dass es eine Transposition ist, dass scheinbare Analogien der überlieferten Tatsachen mit den | |||||||
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heutigen nicht immer reale Analogien der psychischen Vorgänge sind. Man würde die ganze Schwierigkeit dieser Transposition vielleicht am deutlichsten beweisen durch einen Versuch, den ‘Fall’ Otto III. als eine Pathologie zu analysieren. Wir werden uns mit dieser Möglichkeit noch im letzten Kapitel befassen, weil die Relativität des Pathologischen dabei klar hervortritt. Die ungeheuere Machtentfaltung eines fünfzehnjährigen Knaben, seine Position zwischen Diplomaten und Einsiedlern, sein tragischer Tod in Paterno sind aber unbedingt auch in dieser Hinsicht anregende Probleme. Leider ist das Material, das man dem Arzt oder dem Psychiater zur Verfügung stellen kann, so gering, dass man kaum auf positive Ergebnisse hoffen darf; überall wird man das Gebiet des Hypothetischen betreten und besonders hier wird man sich meistens mit einer allgemeinen Beschreibung der frühmittelalterlichen Askese zufriedengeben müssen. Auf die Schilderung einer greifbaren Persönlichkeit, einer mit modernen Lebensformen ausgestatteten Individualität muss man verzichten, wenn man die Biographie Ottos III. schreiben will. Das heisst aber nicht im voraus das persönliche Element auszuschalten, sondern nur den relativen Wert des ‘Persönlichen’ anzuerkennen. In den folgenden Kapiteln werden wir die Möglichkeit einer derartigen Persönlichkeitsbestimmung prüfen, im Zusammenhang mit den politischen, den religiösen und den asketischen Ideengruppen. |
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