Verslagen en mededelingen van de Koninklijke Academie voor Nederlandse taal- en letterkunde (nieuwe reeks). Jaargang 1987
(1987)– [tijdschrift] Verslagen en mededelingen van de Koninklijke Academie voor Nederlandse taal- en letterkunde– Auteursrechtelijk beschermd
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Dialekt als Schlüsselbegriff der Belgischen SprachverhältnisseGa naar voetnoot(*)
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Das Deutsche ist in den sog. Ostkantonen (Eupen, St. Vith) beheimatet, das Französische wird im Süden des Landes (Wallonien) und das Niederländische im Norden (Flandern) gesprochen. Die Hauptstadt Brüssel aber nimmt eine Sonderposition ein, da sie - obwohl historisch eine flämische Stadt - offiziell ein zweisprachiges Gebiet ist, d.h., daß es dort sowohl niederländischsprechende als auch französischsprachige Einwohner gibt und, daß beide Sprachen dort eine offizielle Funktion haben. Die ziemlich komplizierte sprachliche Lage des heutigen Belgien hat in diesem Teil Westeuropas immer existiert, denn keiner der damaligen kleinen Staaten, die jetzt zu Belgien gehören, ist jemals einsprachig gewesen. Sowohl die Grafschaft Flandern, wie auch das Herzogtum Brabant und das Fürstentum Lüttich waren zwei - oder mehrsprachig, da sowohl niederländisch - als auch französischsprachige Gebiete zu diesen Staaten gehörten (Kossmann & Kossmann, 1987). Die Sprachgrenze, die diese Territorien in eine südliche und eine nördliche Hälfte teilte, hat sich in mehr als 1000 Jahren nicht beträchtlich verändert. Belgien ist ein Staat, der z.T. föderalistisch regiert wird. Die legislative Gewalt der drei Landesregierungen ist regional beschränkt und daher werden die Grenzen ihrer Jurisdiktion, die mit den Sprachgrenzen zusammenfallen, in der Verfassung bestimmt. ‘Der sprachliche Status jeder belgischen Stadt, bzw. Dorfes und auch von jedem Einwohner außerhalb Brüssels ist leicht zu bestimmen, weil die offizielle Sprache eines jeglichen nicht durch die eigene Wahl, sondern durch das Territorium, in dem man lebt, bestimmt wird’. ***
Das sprachliche Verhalten der niederländischsprechenden Belgier wird von drei Auseinandersetzungen bestimmt:
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Die These, die ich hier vorbringen und verteidigen möchte, lautet, daß in allen drei Fällen der Dialekt betroffen ist und eine wesentliche Rolle spielt. Weil das nicht immer gleich einleuchtend ist, möchte ich mit einem Aspekt beginnen, der öfters in linguistischen Betrachtungen über die belgischen oder südniederländischen Sprachverhältnisse mehr oder weniger vernachlässigt wird, nämlich mit einem Überblick über die südniederländische Dialektlandschaft. Auf Grund von linguistischen Merkmalen unterscheidet man im niederländischsprachigen Teil Belgiens drei Mundartgruppen:
Selbstverständlich ist Ihnen bekannt, daß die genaue Abgrenzung von Mundartgebieten eine sehr heikele Angelegenheit ist, aber dieses Probem soll uns hier kaum beschäftigen, weil die Tatsache, daß es diese drei Kerngebiete gibt, unbestritten ist. Wo eine Mundart aufhört und eine nächste anfängt und wie sie den anderen Dialekten gegenüber abgegrenzt werden können, sind zwar wichtige, aber hier kaum zur Sache dienende Fragen. Wichtig ist vor allem, daß keine der genannten Dialekte ausschließlich in Belgien gesprochen werden (ein Versuch der linguistischen Beschreibung dieser Hauptmundarten findet man in Donaldson, 1983). Was uns hier weiter beschäftigen muß, ist eine Beschreibung von Rolle und Funktion von Dialekt und Dialektgebrauch in Flandern. Klaus Mattheier hat sich während eines Vortrags in Brüssel mit der Frage beschäftigt, ob die Dialekte in Deutschland im Verfall begriffen sind oder aber im Gegenteil eine Renaissance kennen. Falls man diese Frage auch auf die Dialekte in Flandern beziehen möchte, kann die Antwort lauten: weder das eine noch das andere. Die Allgegenwart der Dialekte ist ein besonderes Charakteristikum der flämischen Sprachsituation und unterscheidet Flandern von fast allen anderen westeuropäischen Sprach- | |||||||||||||||||||||
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gebieten. Von ‘Verfall’ kann also überhaupt nicht die Rede sein und demzufolge auch nicht von Renaissance. Es sieht also aus, als ob die ganze Frage hier nicht zutreffend ist, aber es gibt immerhin Gründe für genauere, mehr nuancierte und differenzierte Betrachtungen. Mit Daten und Zahlen kann man mühelos beweisen, daß die Popularität und der Erfolg der Dialekte in Flandern sehr groß sind. Bei einer Umfrage nach reported behaviour bei mehr als 750 Studenten, gaben nur 15% an, keine Mundart zu sprechen, erklärten jedoch alle, Mundart zu verstehen (Willemyns, 1979). Die Zahl der Dialektsprecher liegt also noch über der von Ammon für die unterschiedlichen Gebiete der BRD angeführten Zahl (Ammon, 1979: 27). Berücksichtigt man nicht nur die Intellektuellen, sondern die ganze Bevölkerung, steigt sie noch um ein Wesentliches. So ergibt sich, aus einer 1983 in West-Flandern durchgeführten Umfrage, daß 98% der Bevölkerung aktiv und regelmäßig Dialekt spricht (Willemyns 1987). Solche Zahlen sind überwältigend und stimmen mit der ersten Aussage, die ich über Dialektkenntnis und Dialektgebrauch in Flandern gemacht habe, scheinbar völlig überein. Meine zweite Aussage aber, die die erste nuanciert, basiert auf genau so realen, sei es auch schwerer quantifizierbaren Daten. Aus der schon erwähnten Umfrage bei 750 Studenten ergab sich auch, daß von den Studenten, die angaben keine Mundart zu kennen, 17% den unteren und 59% den oberen Sozialschichten angehören. Daran erkennt man allerdings den Ansatz zu einer schichtenspezifischen Sprachsituation. Eine Situation, wie sie bereits vielerorts besteht, wird sich künftig wohl auch in Flandern nicht vermeiden lassen, und es ist abzusehen, daß die Verwendung der Mundart sich in Zukunft mehr und mehr auf den Kreis der Verwandten und Freunde beschränken wird. Das heißt, die Beschreibung des Mundartgebrauchs wird auf die Merkmale [- formal] und [+ solidarisch] reduziert werden können. Ob sich vermeiden lassen wird, daß die Mundart aus den intellektuellen und höheren Schichten völlig verschwindet und damit zusätzlich noch durch das Merkmal [+ unterschichtlich] beschrieben werden muß, ist fraglich. Zur Zeit genießen die Dialekte noch das sog. covert prestige (Labov, 1972). Es ist aber äußerst ungewiß, wie lange sich dieses noch als starker erweisen wird, als die Macht der klassenbewußten Oberschicht, die sich auch sprachlich von den Massen abzugrenzen versucht. Man soll tatsächlich darauf achten, daß die Tatsache, daß es jetzt noch nicht so weit ist, vor allem auf historischen Faktoren beruht. In einem Artikel über Power and Solidarity habe ich folgendes dazu geschrieben: | |||||||||||||||||||||
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‘Wenn ich behaupte, eine der wichtigsten Schlußfolgerungen sei die, daß in Flandern die Standardsprache auf dem Weg ist, zum schichtenspezifischen Kennzeichen zu werden, dann handelt es sich gewissermaßen um eine hypothetische Schlußfolgerung. Sie beruht auf der Hypothese, das sprachliche Verhalten der befragten Studenten sei eine Vorwegnahme dessen, was sich bald in der gesamten Gemeinschaft zeigen wird. Diese Hypothese kann man zwar nicht beweisen, sie ist jedoch plausibel und wird außerdem von den Ergebnissen aller neureren Untersuchungen unterstützt’. Dialektverlust und schichtenspezifische Einschränkung des Dialektgebrauchs fangen normalerweise bei Kindern und Jugendlichen an (Bister, 1988), d.h., daß negative Attitüden dem Mundartgebrauch gegenüber sich bei den Eltern dieser Kinder heute beträchtlicher bemerkbar machen als vorher. Viele Eltern sind, laut Umfragen, der Meinung, daß das Sprechen eines Dialektes der allgemeinen linguistischen Kompetenz, die die ‘mühelose’ Beherrschung aller Sprachvarietäten beinhaltet, abträglich ist. Auch finden sie zunehmend, sagen Geerts, Nootens & Van den Broeck (1977; 104-105) ‘die Mundart für pädagogische Zwecke ungeeignet, weil sie die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten des Kindes einschränkt’. Auch Van de Craen (1980; 38-39) stellte bei einer Umfrage in einer Schule in einem Arbeiterviertel Antwerpens fest, daß für die Eltern ‘die Standartsprache, was bestimmte Aspekte der (Schul)erziehung und der Berufsausbildung, bzw. des Berufs angeht, großes Prestige besitzt’ und, daß die Kinder der Meinung sind ‘die Standardsprache sei die Sprache der “Intelligenz” und der “Freundlichkeit” oder, mit anderen Worten, die Sprache des Wissens und des zivilisierten Benehmens’ (ebd.: 41). Man muß aber natürlich damit rechnen daß es, wie man des öfteren feststellen kann, eine Diskrepanz zwischen den Sprachattitüden und der realen Sprachsituation gibt. Aus der Umfrage in West-Flandern ergibt sich, daß nur 58% der Angehörigen der Unterschicht sich, auf die Frage, In welcher Varietät würden (oder möchten) Sie Ihre Kinder erziehen, gegen den Dialekt entscheiden, während das in der Oberschicht bei 83% der Fall ist. Alles weist also darauf hin, daß wir uns zur Zeit in einer Übergangsphase befinden, in der die Macht der hochsprachlichen Varietät, mit allen diskriminatorischen Folgen, langsam aber sicher die Solidarität der anderen Varietäten verdrängt. Eine solche Situation hat es in anderen Westeuropäischen Sprachgebieten schon eher gegeben (bzw. gibt es teil- | |||||||||||||||||||||
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weise noch immer) und es ist deshalb vorauszusehen, daß diese Übergangsphase, die eigentlich als eine Nachholbewegung betrachtet werden muß, schneller als normal vorübergehen wird. Immerhin wird sie natürlich noch eine Weile andauern, aber allerdings ist sie als ein Veränderungssymptom in Richtung Dialektverlust zu betrachten. Ich komme somit zum zweiten Faktor, der zu Dialektverlust führt: die Konfrontation mit den anderssprachigen Landsleuten. Eine Auseinandersetzung zwischen Französisch- und Niederländischsprachigen hat es in Belgien immer schon gegeben, sei es auch nicht so gewalttätig wie jener Japaner meinte. Als 1830, nach einer fünfzehnjährigen, mißlungenen Wiedervereinigung mit Holland, das Königreich Belgien gegründet wurde, zeichnete die sprachliche Lage sich dadurch aus, daß die große Mehrheit der führenden Kreise in Flandern völlig französisiert war, während der größte Teil der Bevölkerung nur seine Mundart sprach. Das ganze öffentliche Leben, sowohl in Wallonien als auch in Flandern, war französisch ausgerichtet. Französisch war die einzige offizielle Sprache der Behörden, der Armee, des Gerichts und sogar der Schule. Es kann hier leider nicht näher auf die Ursachen dieser Entwicklung eingegangen werden. Allerdings hat Baetens Beardsmore völlig recht, wenn er feststellt daß: ‘Im flämischen Teil Belgiens, das mit dem Französischen verbundene Prestigemoment zu einer sog. doppelten Sprachgrenze führte.D.h. zu der Trennung des Nordens vom Süden durch geographische Gegebenheiten, kam innerhalb des niederländischen Gebiets und der Hauptstadt eine Teilung durch die sozioökonomisch bedingte Sprachgrenze hinzu. In diesem Gebiet war ein sprachliches Umschalten vom Niederländischen zum Französischen Voraussetzung für sozialen Aufstieg, was die Entstehung einer der von der Masse des Volkes entfremdeten Elite zur Folge hatte’. Von Anfang an bildete sich deshalb in Flandern die sog. flämische Bewegung, eine Gegenbewegung, der es, nicht ohne Mühen und Auseinandersetzungen, nach mehr als einem Jahrhundert schließlich gelang, dem Niederländischen seinen angestammten Platz zurückzugewinnen. Der endgültige Ausgang wurde von dem kanadischen Historiker Val Lorwin so beschrieben: ‘Flandern und Wallonien wurden offiziell einsprachig. Belgien akzeptierte in der Regelung der Sprachenfrage eine Lösung, vergleichbar jener, die der Religionsfriede von Augsburg 1555 Deutschland in religiösen Fragen geboten hatte. Zum entscheidenden Moment wurde die territoriale Zugehö- | |||||||||||||||||||||
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rigkeit zu einem bestimmten Gebiet, eine Art von cuius regio, eius lingua’. Wie das genau vor sich gegangen ist, wird ausführlich dargelegt in The Standardization of Dutch in Flanders, einem Aufsatz der demnächst in The International Journal of the Sociology of Language veröffentlicht wird. Ein wichtiger Faktor hat allerdings direkt mit unserem jetzigen Thema zu tun. Viele Anhänger der flämischen Bewegung waren der Meinung, daß die damals führende Stellung des Französischen nie aufgehoben werden könnte, solange die Flamen der französischen Kultursprache nur eine Reihe von Dialekten entgegenzusetzen hatten. Daher bildete sich, vor allem unter Intellektuellen, ein Flügel heraus, der beabsichtigte, den Flamen, auch aus den niedrigeren Schichten, eine niederländische Hochsprache beizubringen. Es leuchtet ein, daß wir es hier mit einem zweiten Bedrohungsfaktor für das Weiterleben der Dialekte zu tun haben. Einerseits wirkt das heute noch nach, anderseits wird auch jetzt, vor allem in der Brüsseler Gegend, die Hochsprache immer noch als eine Waffe im Sprachenkampf betrachtet. Wie ich in einem bald zu erscheinenden Aufsatz geschrieben habe: ‘haben Untersuchungen und Umfragen in Brüssel und Umgebung gezeigt, daß wegen der Konkurrenz mit dem Französischen, die hier viel stärker als im sonstigen Flandern gespürt wird, die niederländische Hochsprache öfters in solchen Situationen verwendet wird, wo sonst meistens Dialekt gesprochen wird’. Obwohl diese Konkurrenz im übrigen Flandern kaum noch gespürt wird, und die damit zusammenhängende Flucht aus dem Dialekt somit zwecklos geworden ist, bleibt der Reflex bestehen, um so mehr als die Neigung mehr und mehr auf die Hochsprache umzuschalten, inzwischen auch durch andere Faktoren genährt wird, z.B. von der Auseinandersetzung mit denjenigen, die auf der nördlichen Seite der belgischniederländischen Staatsgrenze die gleiche Sprache sprechen. Ich komme somit zum dritten Faktor, den ich behandeln wollte. Einar Haugens Worte every language in Belgium belongs to its neighbours (Haugen, 1966: 928) sind wohl eher wie ein Witz oder ein Wortspiel gemeint. Nicht so aber Baetens Beardsmores Äußerung, daß in Belgien sowohl Französisch- wie auch Niederländischsprachige: | |||||||||||||||||||||
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‘im Ausland Bestätigung für die Korrektheit einer Äußerung suchen. Das Modell für das belgische Französisch stellt dabei Frankreich, das für das belgische Niederländisch, Holland’ Tatsächlich zeichnet sich die gesamtbelgische Situation dadurch aus, daß beide Sprachgruppen sich, was die Kodifizierung ihrer Sprache betrifft, am Ausland orientieren. Allerdings hat es das im niederländischsprachigen Teil nicht immer gegeben, sondern es ist das Ergebnis einer ziemlich langfristigen, von allerhand sprachpolitischen Überlegungen mitbestimmten Evolution, die im niederländischen Sprachraum als Integrationsbewegung bekannt ist. Nach der politischen Spaltung der Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert hat es immer, beiderseits der neuen politischen Grenze, Versuche gegeben, die Spracheinheit nicht verloren gehen zu lassen (Willemyns, 1984). Wegen der spezifischen politischen Entwicklung im Süden und vor allem wegen der Französisierung des öffentlichen Lebens konnte das Niederländische im Süden aber keinen Schritt halten mit der Entwicklung im Norden. Als dann nach langer Zeit im neuen, seit 1830 gegründeten Belgien, nach den ersten wichtigen Erfolgen des Sprachenkampfes, das Niederländische einen Platz als Verwaltungssprache erobert hatte, ‘entdeckte’ man, daß die Sprache, so wie sie sich entwickelt hatte, eigentlich kaum dieser zusätzlichen Aufgabe gewachsen war. Um das zu ändern, hatten die damaligen Sprachplaner eigentlich die Wahl zwischen, vor allem, zwei Alternativen: man konnte versuchen das ‘belgische’ Schriftniederländisch aus dem 18. und 19. Jahrhundert weiter auszubauen (diese Lösung wurde von der sog. partikularistischen Richtung vertreten und befürwortet), oder aber man konnte einen möglichst engen Anschluß, an die im Norden verwendete Sprache, anstreben. Diejenigen, denen es schließlich gelang, die letztere Alternative durchzusetzen (die sog. Integrationisten), haben sich zweifelsohne für die vernünftigere, jedoch wohl kaum für die einfachere Lösung entschieden. Eine der größten Schwierigkeiten war es, fast einer ganzen Nation eine mehr oder weniger ‘neue’ Sprache beizubringen. Diese ‘neue’ Sprache umfaßte zunächst gleichermaßen, sowohl nördliche, als auch südliche Elemente. In der weiteren Entwicklung nahm sie jedoch eine mehr nördliche Prägung an. Es war die niederländische Hochsprache, mit welcher nur wenige Flamen zu jener Zeit einen direkten Kontakt hatten. | |||||||||||||||||||||
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Ziel dieser Bestrebungen war natürlich nicht nur über eine Sprache verfügen zu können, die den neuen und heranwachsenden administrativen, juristischen, pädagogischen, literarischen und allgemein kommunikativen Aufgaben gewachsen war, sondern auch die sprachlichen Rechte der Flamen gegen die historisch etablierten Forderungen der äußerst kulturimperialistischen Französischsprachigen zu verteidigen. Wie schon eher betont, war es jedem klar, daß das Zurückdrängen des französischen Einflusses in Flandern nur möglich würde, indem es jedem verständlich gemacht wurde, daß es dem Französischen gegenüber weder lediglich eine bloße Sammlung von Mundarten, noch eine nur innerhalb der eigenen Grenzen gültige flämische Sprache gab. Deshalb wollte man dem Französischen eine allgemeine, niederländische Kultursprache, deren sich 20 Millionen Niederländischsprachige in Holland und Flandern bedienen, entgegensetzen. Es genügt aber nicht solche Pläne zu hegen, man muß sie auch in die Realität umwandeln und sie durchsetzen können, und dazu sind wenigstens zwei Voraussetzungen unentbehrlich: a. man muß die direkt Beteiligten, die eigene Bevölkerung, davon überzeugen und zur Mitarbeit anregen; Allerdings ist das Zweite nur möglich, indem man zuerst das Erste mehr oder weniger geschafft hat, und eins der vielen Probleme war, daß man so etwas lange Zeit nur für möglich hielt, indem Einfluß und Gebrauch der Dialekte möglichst schnell und eingehend zurückgedrängt wurden. Man wollte, sowohl den französischsprachigen Landsleuten, wie auch den Holländern, zeigen, daß die Flamen dazu im Stande waren, sich einer niederländischen Hochsprache zu bedienen, in welcher die Interferenz von Dialekt und von südlichen Elementen möglichst niedrig war, einer Sprache also, die, der im Norden verwendeten, möglichst ähnlich war. Es muß darauf hingewiesen werden, daß diese Argumente schon zu einer Zeit verwendet wurden, in der die Spracheinheit noch nicht existierte, sondern lediglich ein frommer Wunsch vieler Flamen war. Der Erfolg dieses Vorgehens war ein doppelter: zum einen, zeigte die Verwendung dieser Argumente bereits damals angeblich positive Resultate, zum anderen, wurde dadurch im Laufe der Zeit dasjenige, was bislang nur Fiktion gewesen war, d.h., die Spracheinheit, zur Realität. Es stellt sich somit heraus, daß die Politik der flämischen Bewegung und der Sprachenkampf für die Rechte des Niederländischen in Belgien | |||||||||||||||||||||
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auf zwei Ebenen bedrohend für die Dialekte war. Zum einen, wollte man der französischen Hochsprache nicht nur Mundarten, sondern eine niederländische Hochsprache gegenüberstellen, zum anderen, wollte man diese Standardsprache von den dialektalen Interferenzen möglichst freihalten, und man glaubte, daß dies nur realisierbar wäre, indem die Dialekte möglichst schnell und tiefgehend zurückgedrängt würden. Es leuchtet ein, daß ein solches Verfahren anscheinend zwar sprachpolitische Probleme lösen kann, auf der anderen Seite aber auch neue Probleme hervorruft. Das Merkwürdige und Interessante ist eben, daß, wo sowohl quantitativ als auch qualitativ die hochsprachlichen Fähigkeiten der Bevölkerung wesentlich gesteigert wurden, Kenntnis und Gebrauch der Mundarten nicht gleichermaßen rückgängig gemacht wurden. Offenbar hat man also das sprachpolitische Ziel erreicht, obwohl die dafür vorgesehene Strategie teilweise keinen Erfolg hatte. An die sprachliche und kommunikative Kompetenz der Flamen wurden und werden somit hohe Ansprüche gestellt, und auch diejenigen, die diesen Ansprüchen im großen und ganzen gerecht werden können, fühlen sich manchmal verwirrt. Häufig tritt ein Gefühl der linguistischen Verunsicherung gegenüber den vielen Varianten und deren Kenntnis und Gebrauchsmöglichkeiten auf. Die Loyalität gegenüber der Mundart, verbunden mit der Überzeugung, daß man sich eigentlich der Hochsprache bedienen sollte, erzeugt einen Zwiespalt, der in vielen Fällen verantwortlich ist für die Diskrepanz zwischen Sprachattitüden und realem Sprachverhalten. Eine besonders wichtige Konsequenz dieser Bemühungen der Sprachplaner ist, daß Kenntnis und Gebrauchsmöglichkeiten von Hochsprache und Dialekt bei Angehörigen verschiedener sozialen Klassen jetzt erst recht unterschiedlich wurden. Wie im Anfang dieses Vortrags schon gezeigt wurde, werden fortgeschrittene Kompetenz in der (nördlich gefärbten) Standardsprache und Abneigung dem Dialekt gegenüber allmählich zum schichtenspezifischen Merkmal der Oberschicht. Es ist zu befürchten, daß die Befürwörter der integrationistischen Tendenz, die mit dieser spezifischen Entwicklung wohl kaum gerechnet haben, weder eine Lösung dieses Problems noch eine Strategie dafür haben. Das könnte man ihnen auch wohl kaum zumuten, weil, die jetzt als Folge sprachpolitischer Bemühungen drohende Situation, Flandern genau dahin gerückt hat, wo sich viele westeuropäische Staaten schon seit einiger Zeit befinden, d.h., in einer Situation, in der Sprecher von nicht-standardsprachlichen Varietäten sozial benachteiligt sind: | |||||||||||||||||||||
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‘Solange allerdings die beiden Sprachtypen Schichtenabzeichen, schichtenspezifische Sozialsymbole sind’ behauptet Ammon ‘wäre ein Verzicht auf die Hochsprache als Lehrzielbestandteil wiederum äußerst problematisch. Mangelnde Beherrschung der Hochsprache, bzw. Dialektgebrauch wäre dann nämlich allein aufgrund ihrer Sozialsymbolik eine Behinderung im sozialen Aufstieg’. Eine Lösung dieses Problems wird sich wahrscheinlich in Flandern genau so wenig finden lassen, wie sonstwo. Zwar kann man sich darüber aufregen, empören sogar, oder aber versuchen ein Remedium zu finden und durchzusetzen (z.B. ‘hochsprachliche Fähigkeiten für alle’), aber die Tatsache ist, daß es Schichtenabzeichen geben wird, solange es Schichten gibt. Ob es Linguisten und Pädagogen je gelingen wird, dafür zu sorgen, daß die Sprache und der Sprachgebrauch nicht mehr zu diesen Schichtenabzeichen gehören werden, ist mehr als fraglich, ist aber allerdings kein Problem, das fur die flämische Sprachsituation spezifisch ist. Interessant ist allerdings, daß man in Flandern sozusagen die Genese eines solchen Problems (abermals) miterleben kann. Ich fasse jetzt zusammen und versuche einige Schlußfolgerungen zu ziehen. Die drei angeführten Faktoren haben m.E. zweifellos die Dialekt-Standard Situation beträchtlich geändert, sei es auch, daß diese Änderung nicht ohne Weiteres als eine Zunahme zu Gunsten der Standardsprache und als ein Verlust vom Dialekt angesehen werden darf. Eine der ersten Folgen, die in diesem Vortrag zwar noch nicht besprochen wurde, hier jedoch kurz erwähnt werden muß, ist eine Verschiebung in Richtung Umgangsprache, womit hier nur eine zwischen Hochsprache und Dialekt liegende Varietät gemeint ist. Aus den Umfragen ergibt sich tatsächlich, daß diese Zwischenvarietät offenbar mehr und mehr verwendet wird und zwar vor allem in Kommunikationsvorgängen, die nicht so formell sind, daß sie unbedingt den Gebrauch der Hochsprache erfordern. Daraus allein ergibt sich schon, daß diese Steigerung der Umgangssprache auf Kosten des Dialektes geht; weiter erweist sich das dadurch, daß in den Provinzen, wo noch sehr viel Dialekt gesprochen wird (z.B. in West-Flandern), die Zahlen für die Standardsprache fast gleich hoch sind, wie sonstwo, dagegen die für die Umgangssprache beträchtlich niedriger (exakte Daten in Willemyns 1979 und 1981). Auch hier stößt man also auf einen Mechanismus, der ziemlich allgemein zu sein scheint, in Situationen, die durch Dialektverlust ausgezeichnet werden (cf. Bister, 1986). | |||||||||||||||||||||
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Vielleicht die wichtigste Schlußfolgerung, die man aus den hier angeführten Daten und Überlegungen ziehen kann, ist, daß sämtliche sprachpolitische Verfahren, die dafür bestimmt waren, Einfluß und Gebrauch des Dialekts zurückzudrängen, als teilweise mißlungen betrachtet werden müssen, weil das Ergebnis vor allem eine kompliziertere Verteilung von Standard und Dialekt und nicht ein einfaches Zurückdrängen des Dialektes war. In welchem Ausmaß diese Sprachplanung zu der genannten schichtenspezifischen Verteilung von Hochsprache und Mundart beigetragen hat, ist schwer zu bestimmen, aber, daß es einen solchen Einfluß gegeben hat, ist wohl kaum zu bestreiten. Insofern es das Ziel dieser Sprachpolitik war, in allen Schichten das Prestige und den Gebrauch der Standardsprache gleichermaßen zu steigern, könnte man sie als fast völlig mißlungen betrachten. Die Hochsprache wird zweifelsohne mehr als vorher und in mehr Kommunikationsvorgängen verwendet, und der Anschluß an die nördliche Sprachnorm geht ständig weiter. Indem auf diese Weise die vorher bestimmten Ziele erreicht wurden, kann hier wohl von einem Erfolg die Rede sein. Das der Sprachgebrauch aber in steigendem Maße zum Schichtenabzeichen wurde, war (wahrscheinlich) weder beabsichtigt, noch vorgesehen, muß aber trotzdem als eines der wichtigsten Ergebnisse der linguistischen Evolution der letzten Jahrzehnte betrachtet werden. Wo Sprachplanung kein offizielles, amtliches Verfahren ist (und das war es in unserem Fall kaum, obwohl seit Jahrzehnten die integrationistische Tendenz bestimmt auch von den Behörden gefördert wurde), ist es manchmal sehr schwer herauszufinden, wer die ‘Sprachplaner’ eigentlich sind, und wer für Erfolg und Mißerfolg verantwortlich ist. Auch hier kann man das nicht genau bestimmen und man weiß also kaum, wen man von einer wünschenswerten Änderung der herkömmlichen Politik überzeugen müßte. Aber auch, wenn man das schon bestimmen könnte, wäre es natürlich alles andere als einfach, Vorschläge zu formulieren, über die die große Mehrheit der Sachverständigen sich einigen könnte. Es ist somit, glaube ich, vor allem auch eine Aufgabe der belgischen (Sozio)linguisten sich darüber weiter zu beraten und zu versuchen sowohl nützliche Ratschläge zu formulieren, als auch Mittel und Möglichkeiten für ihre Anwendung zu finden. | |||||||||||||||||||||
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Bibliographie
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