Onze Taaltuin. Jaargang 6

Zur entstehungsgeschichte der ‘Imitatio Christi’

AN der Spitze der zahllosen Ausgaben der ‘Imitatio Christi’ steht die erste Niederschrift des vierten Buchs, deren Kenntnis wir Jac. van Ginneken zu verdanken haben, der einen auf sie zurückgehenden nl. Text entdeckt und 1930 in seinem reichhaltigen und schön ausgestatteten Buch ‘De Navolging van Christus’ S. 368 ff. veröffentlicht hat. Thomas a Kempis hat diese Fassung vor seiner Weihe zum Priester geschrieben und sie als solcher durch den in seinem Autograph vorliegenden Text ersetzt, wie er die an alle Menschen gerichteten Urschriften von Buch II und III als Mönch für Mönche überarbeitet hat.

Es ist u.a. bemerkenswert, daß er in dieser ersten Niederschrift auf ein Kapitel, das aus stilistischen Gründen ihm zuzuweisen ist, unmittelbar den Abschnitt J IV, 6-9 folgen liess, der durch seinen eigenen Eingang, Inhalt und Schluß den Eindruck einer ursprünglichen Selbständigkeit erweckt. Daß der Kern dieses Abschnitts eine nicht von Thomas verfaßte kurze Abendmahlsandacht ist, erhellt daraus, daß der nl. Text, den ich mit Gi bezeichne, mehrfach Lesarten bietet, durch die das Thomasautograph (A) zu berichtigen ist.

1. J IV, 8 v. 10 (p. 113, 6 Pohl) gibt Gi das in A fehlende, aber un-

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entbehrliche quae possidet aus der angeführten Bibelstelle Luc. 14, 33 wieder.

2. J IV, 9 Überschrift führt Gi mit Hoe auf Quomodo zurück statt Quod, das zu dem Inhalt des Kapitels nicht passt; denn es wird in ihm nicht vorgeschrieben, dass wir uns Gott opfern sollen, sondern ein Weg gewiesen, wie wir uns Gott opfern sollen.

3. J IV, 9 v. 13 (p. 115, 4) führt Gi zu meorum zurück nach parentum statt amicorum, zu dem es in A hier, wie J III, 19 v. 2 (p. 118, 5) zu aliorum, verlesen worden ist. Dass hier nicht amicorum, sondern nur meorum möglich ist, das außerdem nach Gence bei Puyol, Variantes p. 422 in dem verschollenen Codex Sanmartiniensis (vergl. Puyol, Descriptions p. 374) und in einem Codex Santhilarii gestanden hat, liegt auf der Hand; denn wer wird in einer derartigen Aufzählung die Familie zerreissen und die Freunde zwischen Eltern und Geschwister stellen oder amicorum überhaupt noch neben omniumque carorum (vgl. J III, 53 v. 7 (p. 244, 10) a notis et a caris) gebrauchen!

4. J. IV, 9 v. 14 (p. 115, 24) ist natürlich vel zwischen verbis und factis ausgefallen (vgl. dictis vel factis J III, 25 v. 8 (p. 192, 9); J III, 54 v. 2 p. 245, 26), wie J III 57 v. 2 (p. 255, 8) vel zwischen factum contra te und dictum. Gi schliesst nicht asyndetisch oder mit ende an, sondern verbindet mit woerden of mit werken.

5. J IV, 9 v. 15 (p. 115, 30) erfordert der Ausdruck fraternam dilectionem eine nähere Bestimmung zu dem parallelen caritatem, die in A fehlt, d.h. Dei (vgl. J IV, 1 v. 28 (p. 94, 29), wo nach Pohl vol. II p. 449 Thomas deum am Rand nachgetragen hat, und II Thess. 3, 5 Dominus autem dirigat corda vestra in charitate Dei, et potentia Christi; Thomas vol. IV, 83, 29 caritas Dei et fraterna compassio). Gi hat richtig die minne godes.

6. Gi lässt ausserdem durch die Übersetzung mit enen helen overgheven dijns selves wille J IV, 7 v. 45 (p. 111, 11) cum integra resignatione tuae ipsius voluntatis statt cum plena resignatione et integra voluntate A vermuten; das Substantivum resignatio kommt in J ausser hier und in der Überschrift des folgenden Kapitels nur noch vor J III, 15 v. 7 (p. 172, 13) maximeque cum propria resignatione mihi totum committendum est, wie hier corpus tuum et animum mihi fideliter committendo folgt, und in der Überschrift und v. 12 (p. 213, 1) J III, 37 mit dem Beiwort integra, an der letzten Stelle in Verbindung mit cotidiana sui immolatio.

7. In v. 5 (p. 113, 29) sind nach Gi auf commisi die Worte corde ore operibus gefolgt, die durch ein frühes Abirren des Auges von corde, auf coram te in den anderen Hss. fehlen. Durch das Wiedereinsetzen dieser

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Worte wird klar, dass coram te et sanctis angelis tuis nicht mit commisi verbunden war, was, da in der Bibel nur von Sünden vor Gott und Christus, nicht vor den Engeln die Rede ist, befremdet, sondern mit offero, was gerade hier so nahe lag, dass Thomas in dem vorhergehenden Satz der späteren Ausgabe in der gleichen Art sagt quam tibi hodie in praesentia angelorum invisibiliter assistentium offero und J IV, 11 v. 4 (p. 120, 8) in conspectu tuo et sanctorum angelorum tuorum. Unmittelbar an coram te et sanctis angelis tuis schlossen sich dann die dazu gehörenden Worte super placabili altari tuo an ohne Zerreissung durch den nach dem Ausfall der bei commisi stehenden näheren sachlichen Bestimmung erfolgten zeitlichen Zusatz a die quo primum peccare potui usque ad horam hanc, der nach dem vorausgehenden omnia überflüssig ist.

An den ersten 5 Stellen stimmt Gi mit dem 1930 in Bd. 34 der Deutschen Texte des Ma. S. 75-83 von mir herausgegebenen nd. Text (L) überein, der noch an 2 weiteren Stellen die ursprüngliche Lesart bewahrt hat, abgesehen davon, dass er, wie erst die Übereinstimmung mit Gi erkennen liess, J IV, 9 v. 2 (p. 113, 17) auf perpetuam statt spontaneam zurückweist, wonach die Anmerkung zu S. 80, 10 a.a.O. zu berichtigen ist. Da Thomas in dem nach seiner Priesterweihe eingefügten v. 3 seine dauernde Hingabe in den Dienst Gottes mit in servum sempiternum und in sacrificium laudis perpetuae betont, scheint er im Zusammenhang damit absichtlisch in v. 2 perpetuam, das auch durch das parallele perpetue permanere gestützt wird, durch spontaneam ersetzt zu haben, das schon in desidero eingeschlossen liegt.

J IV, 7 v. 2 (p. 109, 24) Diligenter examina conscientiam tuam: et pro posse tuo vera contritione et humili confessione eam munda et clarifica steht L mit warer ruwe unde lutterer bicht der A entsprechenden Übersetzung in Gi mit waren berouwe ende oetmoedigher biechten gegenüber. Es ist ohne weiteres klar, dass der Verfasser in Verbindung mit munda hier pura als Beiwort zu confessione stellte, und dass Thomas, der selbst, wie Gi zeigt, in seiner späteren Ausgabe J IV, 9 v. 6 (p. 114, 11) Quid possum agere pro peccatis meis nisi humiliter ea confitendo et lamentando; et tuam propitiationem incessanter deprecando? geschrieben hat, es durch das von ihm bevorzugte Eigenschaftswort humili (vgl. vol. I p. 29, 6 Si fuero humilis: salvus ero.) ersetzte. Andererseits lässt Gi, wo ausserdem et liberum accessum impediat nicht vertreten ist, mit reyniche di auf munda te statt eam (vgl. expurga te J IV, 10 v. 12 (p. 117, 22) und ohne et clarifica (vgl. vol. III, 206, 11 conscientiam purificat und die in meinen Untersuchungen zu J III, 34 v. 17 (p. 208, 12) angeführte Vorliebe von Thomas für clarificare, laetificare, purificare, vivificare) schliessen.

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J IV, 9 v. 15 (p. 115, 28). Für indignationem iram bietet die Hs. L. unwerdichet mit torne mit einem aus dem Lübecker Druck in nyet, torn zu verbessernden Lesefehler. Es ist daher sicher, dass der Verfasser bei seiner Aufzählung gerade die am weitesten verbreitete menschliche Untugend, die Schopenhauer ‘ein Laster und ein Unglück zugleich’ nennt, nicht übergangen hat, sondern dass invidiam nach indignationem einzusetzen ist.

Die in der Hs. L mehrfach im Ausdruck gesteigerte Übersetzung von J IV, 6-9 liegt ausser in dem Lübecker Druck auch in der an der zuletzt erwähnten Stelle ebenfalls nijt bietenden nl. Hs. des Benediktinerklosters Schotten in Wien vor, die C. Wolfsgruber 1879 in Wien herausgegeben hat mit dem Hinweis auf ihre vom 1. bis 4. Buch sich steigernde Übereinstimmung mit den Lübecker Drucken.

Man wird Thomas nicht zutrauen dürfen, dass er auf dem engen Raum von 2 Kapiteln seinen Text der Erstausgabe an 5 Stellen in A versehentlich verschlechtert habe, sondern annehmen müssen, dass sie dort mit A übereinstimmten. Es hat ihm also vielmehr eine schlechtere Hs. der ursprünglichen kleinen Abendmahlsandacht vorgelegen als den Übersetzern dieses Kerns, von dem eine Verdeutschung, nach der Erstausgabe von J IV ergänzt, in Gi überging, und eine andere, nach der späteren Ausgabe von J IV erweitert, aber in Übereinstimmung mit der ursprünglichen allgemeinen Abendmahlsandacht nicht auf den Priester beschränkt wurde; diese Textform ist in der nl. Übersetzung der Wiener Hs. benutzt, vielleicht in kleinen Drucken der Brüder vom gemeinsamen Leben verbreitet gewesen (vgl. Deutsche Texte des Ma. S. XXI) und in die Lübecker Hs. gelangt und für den Druck von 1492 verwertet worden.

Dass Thomas die kurze allgemeine Abendandacht auch schon in seiner Erstausgabe von J IV erweitert hat, ist sicher, erfordert aber einen eingehenderen Nachweis als er hier gegeben werden kann.

Lübeck.

PAUL HAGEN