Tekstkritiek!
Als Horaz (A. p. 359) sein berühmtes wort von dem gelegentlichen ‘dormitare’ des ‘bonus Homerus’ schrieb, meinte er damit natürlich die kleinen versehen, die bei allem menschenwerk mit unterlaufen und nie völlig zn vermeiden sind.
Aber seitdem ist vieles anders geworden, und mit einer so lässlichen deutung und entschuldigung des dormitare würde Horaz heute schwerlich anklang finden. Heute sieht man genauer zu, und, wenn nun Homer einmal schlafen soll, wird man vielmehr fragen: wann, wie lange, wie oft, zuletzt auch wol noch, wie tief er schlafen dürfe.
Seitdem es die Homerfrage gibt, weiss man, dass dies alles, richtig verstanden, in vollem ernste gefragt, und viel leichter gefragt als beantwortet werden kann.
Es handelt sich um das unerschöpfliche kapitel von den widersprüchen, die sich in vielen dichterwerken finden. Bei antiken werken pflegt man sich mit der annahme eines späteren einschiebsels zu helfen, oder, wie z.b. beim Homer, damit, dass man die beiden unvereinbaren stellen von verschiedenen verfassern herrühren lässt.
Allein bei modernen werken, deren entstehung ebenso historisch beglaubigt und zuweilen bis ins einzelne zu verfolgen ist, wie persönlichkeit und lebenslauf ihres verfassers, bleibt in manchem falle nichts übrig als das eingeständnis, dass der dichter seiner früheren äusserungen nicht immer eingedenk gewesen, und auch nachmals beim widerlesen, drucken, korrigieren, kurz überhaupt seines zuweilen recht empfindlichen versehens nicht inne geworden ist.....
Dass dergleichen versehen geschehen, ist indessen so verwunderlich nicht; im gegenteil, es ist vom standpunkte der psychologie der poeten und der eigenart der poetischen technik zwar nicht zu rechtfertigen, aber sehr wol zu erklären. Schwerer zu erklären scheint mir das, dass dergleichen verschen oft so spät erst entdeckt werden, und trotz bühne, schule, lesekränzchen und allen getreuen stillen und lauten lesern des dichters lange jahre hindurch ungestraft und unbemerkt ihre existenz weiter führen konten................
Wenn solche betrachtungen zunächst dem verständnis des einzelnen werkes und der wiirdigung seines urhebers dienen wollen, so haben sie doch eine gewisse principielle bedeutung und sind von wert für die methode der philologischen niederen wie höheren kritik.
A. Schöne, Zeits. f. Deutsche Phil. '93, blz. 229, 230, 235.