De Stijl 2 1921-1932
(1968)– [tijdschrift] Stijl, De– Auteursrechtelijk beschermd
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Die Ewigkeit ist nichts, sie ist nicht älter oder besser als das Mittelalter, sie stammt ab vom Gestern, sie ist im Monde oder in der zahnlosen Kieferhöhle des Greises, verstärkt durch die lächerliche bürgerliche Intelligenz, die einer Luftdruckbremse gleicht! Laßt uns alle alten Vorurteile hinwegfegen, das Vorurteil, es sei etwas gestern gut gewesen oder es werde morgen besser sein, nein! laßt uns das Heute sekündlich fassen! Die Zeit ist eine Zwiebel, hinter deren Haut eine andere Haut und noch wieder eine Haut ans Licht tritt...Wir aber wollen das Licht! Der Mensch hat zwei Richtungen seines Wesens: Die zum Unmöglichen und die nach dem Unzähligmöglichen!! Das Unmögliche wird ihm nicht in dieser Sekunde, in unserer Zeit, am heutigen Tage gelingen, sei es Gott, oder das schöpferische Prinzip, die lebendige Dynamik, die wie ein Ansaugemotor die Welt, das Geschehen, die Ereignisse zusammenzieht, und sie die mögliche Welt bilden läßt - dem Menschen ist es aus einer lächerlichen Einfalt nötig, nach dem Unerfüllbaren des Ideals Sehnsucht zur Schau zu tragen und dies unerfüllbare Unmögliche ist, aus sich selbst ein Perpetuum mobile zu gestalten, ein Monstrum von Kugel, die gleich der Sonne im Raume schwebt! Fort mit dieser Sehnsucht, fort mit dem Unmöglichen, weil es nicht möglich und verwirklicht ist!!! Überlaßt es den Golems und Rautendeleins! Wir wollen uns an das unaussprechbar beglückend Mögliche halten! Seine zahlreichen Emanationen wollen wir in das Heute binden und wollen uns von allem Möglichen umwandeln lassen zum Lebenden, das Leben durch die mechanische Bewußtheit, durch die kühne Erfindung, durch die Verwirklichung seiner Einfälle, seines Geistes, (denn nichts sonst verdiente Geist zu heißen) vorwärtsstoßenden Ingenieur seiner mannigfaltigen Vorstellungskräfte zu machen! Lassen wir alle alten Sentimentalitäten beiseite, die Utopie der Neuheit wird schneller Wahrheit, als die ewig bedächtigen, die bürgerlichen Sicherheitsgehirne glauben!! In dem ungeheuren Dämmern, das uns umgibt, uns das Herz und das Hirn zusammenpreßt, weil es Nacht werden kann und auch Licht: in dieser Sekunde laßt uns eine energische Entscheidung treffen! Wir wollen das Licht, das in alle Körper eindringt, wir wollen die feinen, beziehungsreichen Emanationen nicht vor unserem ermüdeten Auge versinken lassen; wir wollen mit dem Licht das große, unentdeckte Amerika, das Leben! In dem ärgerlichen Grau einer protestantischen Verzweiflung wollen wir alle Ventile öffnen und die elektrischen Ventilatoren in rasende Umdrehung versetzen, um eine Athmosphäre zu schaffen für unsere zeitgemäßen Ideen! Wir wollen in dieser mitteleuropäischen Flachheit endlich den Aspekt einer Welt, die real ist, eine Synthese des Geistes und der Materie - anstatt der ewigen, nörglerischen Analysen und Bagatellen der deutschen Seele!! Die Zeit der destruktiven Psychologien und Relativitäten ist vorbei - eben, noch in der letzten Stunde haben wir sie endgültig begraben: wir stehen vor der äußersten Entscheidung zur möglichen Welt! Zu unseren Füßen sehen wir das Mittelalter, das Gestern der Klassik, die Mystik und den Trieb nach der gewöhnlichen Hübschheit - wir wünschen nicht ihre plagiathafte Wiederbelebung und nicht die fadendünnen Abstraktionen! Schönheit, das ist eine Sache, die während des Produktionsprozesses entsteht! Wir wollen unserer Weltsekunde voll Mut gegenüberstehen! Wir sehen rundum aber statt dessen das Bestreben, alte Götzen wieder aufzurichten, schon stehen viele mit Beschwörergesten vor Altem da und verwirren die nötige Klarheit unseres Bewußtseins. Wir wollen neu, kühn, und mehr als amerikanisch, wir wollen gänzlich respektlos sein, die schönste Vergangenheit soll uns nicht binden! Der alte Staat und die Wirtschaftsformen verändern sich unter dem Anmarsch der Arbeiterklasse: unsere Aufgabe ist es, die entsprechenden Wirklichkeiten des geistigen Lebens, der sogenannten Wissenschaften und Künste auf den Stand der Gegenwart zu bringen. Warum können wir heute keine Bilder malen wie Boticelli, Michelangelo | |
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oder Leonardo und Tizian? Weil sich der Mensch in unserem Bewußtsein vollkommen verändert hat, nicht nur weil wir Telefon und Flugzeug und elektrisches Klavier oder die Revolverdrehbank haben, sondern weil unsere ganze Psychophysis durch die Erfahrung umgewandelt ist. Wir haben nicht mehr das Gefühl der beschränkt-individuellen Wichtigkeit eines Menschen, wie er im Mittelalter in einer engen Stadt lebte, mit einem Etwas von Himmel über sich, das gerade auf dem Bilde des Känstlers Platz hatte - wir durchmessen im Flugzeug den Äther und sind zu kleinen Punkten im unbegrenzten Raum geworden, den zu schildern die Perspektive nicht mehr ausreicht...Lassen wir sie vergangen sein! Wer Schönheit braucht, gehe ins Museum! Aber machen wir kein Plagiat, es kann nicht mehr unsere Aufgabe sein, den schönen Menschen zu verherrlichen, der naive Anthropromorphismus hat seine Rolle ausgespielt. Die Schönheit unseres täglichen Lebens wird bestimmt durch die Mannequins, die Perrückenkünste der Friseure, die Exaktheit einer technischen Konstruktion! Wir streben wieder nach der Konformität mit dem mechanischen Arbeitsprozeß: wir werden uns daran gewöhnen müssen, die Kunst in den Werkstätten entstehen zu sehen! Unsere Kunst, das ist schon heute der Film! Zugleich Vorgang, Plastik und Bild! Unübertrefflich! Dies ist der Mechanismus des kleinen, sentimentalen Lebens - wir aber wollen uns von diesen Dingen nicht mehr berühren lassen als von den Selbstverständlichkeiten des Arbeitens, des Regnens, der Mückenstiche und der sonntäglichen Betrunkenheit, die dem Puffke die Welt der Erscheinungen erst beweglich macht, während für uns diese Schönheit nur die Kunst vorstellt, tot zu sein: wenn man ein lebendiges Ding in eine starre ruhende Form faßt, es tötet, so wird es mit Fug und Recht unsterblich sein. Wir aber wollen leben und sterben, wir wollen uns von der geheimnisvollen Dimension, von unserem sechsten Sinn Bewegung umherschleudern und zerreißen lassen! Damit uns bewußt sei, daß wir leben, heute leben!! Und so wollen wir denn zuerst den starr auf ein Ding zusammengefaßten Blick auflösen, weil unser durch die Wissenschaft erweiterter Blick rund und voll geworden ist, weil wir historisch alle optischen Möglichkeiten in unsere Sehweise aufgenommen haben und nun in der Optik weiterschreiten bis zu den Grundphänomenen des Lichtes. Wir lieben das Licht und seine Bewegung!! Und die Wissenschaft zeigt uns die Möglichkeit der freiwilligen Hergabe der dem Atom innewohnenden Kräfte! Alles zu seiner Zeit! Masaccio, Filipo Lippi, Castagno, Piero della Francesca, Mantegna, Melozzo Daforli haben die Entdeckung der Welt für den Menschen ihrer Zeit geleistet, das Porträt und die Charakterdarstellung, die Fortführung des Illusionismus der Griechen. Die nächste Epoche der optischen Erweiterung war der Impressionismus. Seine direkten Nachkommen waren die Futuristen, die kühnen Erneuerer unserer optischen Anschauungen. Denn die Perspektive des fünfzehnten Jahrhunderts ist nicht mehr als eine technische Hilfskonstruktion; wer wollte die Eindrücke des heutigen Menschen, den ewigen Wechsel der Großstadtstraße im Licht, mit diesem Mittel darzustellen sich unterfangen. Diese Straße mit ihrer Hast und Bewegung, worin die Perspektive nur ein abstrahierter, kein wirklicher Teil ist? Wir wollen aus den futuristischen Analysen und über die Plagiatoren der mittelalterlichen Meister hinweg zu der uns angemessenen Optik. Denn: was ist die Kunst? Nonsens, wenn sie uns nur ästhetische Regeln liefert, uns zwischen der Geographie der Großstadt, der Landwirtschaft, den Apfeltorten und den Frauenbusen mit Sicherheit zu bewegen! Wir fordern die elektrische, naturwissenschaftliche Malerei!!! Die Wellen von Schall und Licht und Elektrizität unterscheiden sich nur durch ihre Länge und durch ihre Schwingungsanzahl voneinander; nach den gelungenen Versuchen mit den mobilen freischwebenden Farberscheinungen von Thomas Wilfred in Amerika und den Tonexperimenten der amerikanischen und deutschen Funkenstationen ist es eine Kleinigkeit, diese Wellen durch geeignete Transfor- | |
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matoren von Riesenausmaß zu farbigen oder musikalischen Luftvorstellungen zu gebrauchen...Nachts werden riesige farbige Leuchtdramen sich an unserem Himmel abspielen und tags werden diese Transformatoren auf Tonwellen umgestellt, die die Atmosphäre zum Tönen bringen!! Durch die Elektrizität sind wir instand gesetzt, all unsere haptischen Emanationen umzuformen in mobile Farben, in Geräusche, in eine neuartige Musik; der Taktilismus, von dem uns Marinetti verkündel, daß man bei ihm seinen Schrei unter dem Einfluß der durch die rollenden Bänder hervorgerufenen Empfindungen in die Welt hinausstößt, ist ein Ersatz für den Sadismus der altrömischen Gladiatorenkämpfe, er ist aus seinem Geist entsprungen, aber er stellt nichts Neues dar! Wir fordern die Erweiterung und Eroberung all unserer Sinne! Wir wollen ihre bisherigen Grenzen zersprengen!! Aus Italien kommt zu uns die Nachricht von Marinettis Taktilismus! Er hat das Problem der haptischen Empfindung damit unklar gefaßt und verdorben! Marinetti, der modernste Mensch Europas, ist uns unsympathisch, denn er geht vom Zufall aus und nicht von der überlegenen Bewulßtheit. Nieder mit allem Unvitalen, nieder mit aller Beruhigung! Vergegenwärtigen wir uns, daß allen unseren Sinnen beigemengt oder die beinahe entscheidende Grundlage aller der Tastsinn ist, der haptische Sinn, dessen Emanationen als exzentrische Empfindungsfähigkeit über die 600 Kilometer Dunsthülle der Erde als geschleuderter Blick hinauswandern zum Sirius oder den Plejaden, so kann nicht eingesehen werden, warum wir diese wichtigste unserer Wahrnehmungen nicht selbständig, zu einer neuen Kunstgattung machen sollen. Wir fordern den Haptismus, wie wir auch den Odorismus fordern!! Laßt uns das Haptische ausdehnen und wissenschaftlich begründen über die bisherige bloße Zufälligkeit hinaus!! Die haptische Kunst wird den Menschen erweitern! Wozu sentimental an alten Künsten des Auges oder des Ohres festhalten? Wozu überhaupt Sentiments, die nur im Festhalten, im Erinnern an eine Sache bestehen? Der neue Mensch habe den Mut, neu zu sein! Überlassen wir die Photographie des Lebens, die Psychologie, das Verständnis für die Erschütterungen der Seele, des Gemütes den Schwächlingen, die es nicht unterlassen können, in ihnen zu wühlen, - sie gehen uns nicht verloren, so wenig uns unsere Leiblichkeit verloren geht, die Stehkragen und die Frauenhosen. Für ewige Liebhaber ihrer selbst und von Lottchens Schönheit taugt eine Kunst, wie sie die Zigarrenschachtel oder die Seifenkartons darbieten, wir aber wollen uns direkt in unsere schöpferischen Emanationen selbst hineinwagen. Dies scheint schwierig in einem Lande wie Deutschland, in dem es noch nie eine Idee von Bedeutung gab, die nicht sofort zu einem Gebrauchsgegenstand des seelischen Klosetts dieser Rasse gemacht wurde. Der einzige moderne Mensch dieser Gegend, Richard Hülsenbeck, hat sich ins Dunkel zurückgezogen und wir wollen sein Schweigen ehren! Nieder mit der Klumpigkeit der deutschen Seele! Wir wollen an die Verfeinerung unseres wichtigsten Körpersinnes uns begeben; es lebe die haptische Emanation!! Nieder mit dem oberflächlich verstandenen Taktilismus, der Haptismus ist die Differenzierung des modernen Lebensgefühls! Bauen wir haptische und telehaptische Absendestationen! Das haptische Theater wird diese bürgerliche Klasse von lebendigen Totengräbern, die in ihrer Ökonomie und ihrer angeblichen Wissenschaft sich zu einem ewigen Winterschlaf verpuppt haben, in ihren verkümmerten Lebensenergien treffen und aufrütteln, zur Auflösung bringen! Wir wissen es, die hohen Aufgaben existieren, aber wir wollen uns nicht erlauben, das uns unerreichbare Ideal in Kraftlosigkeit und Schwäche anzubeten! Wir wollen endgültig die Verbindung mit den sentimentalen Rückhalten, wie Gott, Ideal, Ruhm zerschneiden! Unsere Aufgabe ist es, gegen die Allerweltsromantik in ihrer leɮten und feinsten Form noch zu kämpfen und die Menschen zu veranlassen, sich ihrer heutigen, dringenden und notwendigen Aufgabe, die für jeden an seinem Plaɮ wartet, bewußt zu werden und nicht wieder einer blauen Blume | |
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von unzeitgemäßen Wünschen nachzulaufen, die doch nur die Schwäche, in der Gegenwart zu arbeiten, verdecken soll! Wir werden die schwindelhafte Behauptung zurückweisen, daß die Ideale einer fernen Zukunft wichtiger sind, als die Arbeit in unserer, in völliger Auflösung begriffenen Zeit: wir fordern das Eingeständnis, daß auch der wertvollste Mensch oder der größte Gedanke nicht im geringsten über das allen Gemeinsame hinausragt und daß es niemand gegeben ist, Ideen zu erfassen, die nicht in der Bewußtseinswelt der menschlichen Gesellschaft vorgebildet und vorhanden sind! Wir fordern ein Ende des kleinen individualistischen Betruges und wir erklären, daß wir die Forderung nach einer Erweiterung und Erneuernng der menschlichen Sinnes-Emanationen nur erheben, weil ihr die Geburt eines unerschrockenen und unhistorischen Menschen in der Klasse der Werktätigen vorausgegangen ist. Das Individuum als Atom betrachtet, hat nur die eine Aufgabe: sein Geseɮ zu finden durch jede Art und Form der Arbeit an seinem verhärteten Ich, gegen dieses Ich - in dieser neuen gegenwärtigen Welt müssen wir die freiwillige Hergabe aller der dem Atom innewohnenden Kräfte zur Verwirklichung bringen!!! Berlin, Februar 1921 Raoul Hausmann Salut aux camarades! |
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