De Stem. Jaargang 3
(1923)– [tijdschrift] Stem, De– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Fjedor Dostojewskis Bedeutung fuer die gegenwaertige Kulturkrisis
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lange vor dem Zusammenbruch, und nochmals in der hochberühmten Dichtung seines Iwan Karamasoff ‘Der Grossinquisitor’, das römische Christentum in härtester Form des Antichristentums geziehen; er hat dem Protestantismus, den er nur oberflächlich kannte, beinahe jeden Rest von Christentum, ja von Gottgläubigkeit abgesprochen. Darüber wäre vieles zu sagen; ich sehe aber von allen solchen, im Hinblick auf das, warum es uns hier zu tun ist, schlieszlich nebensächlichen Fragen ganz ab und frage nur: Was ist an der vorgeführten Grundüberzeugung über Gott, Welt und Menschheit Wahrheit; sofern aber Wahrheit, gewisz dem Christentum entstammte, aus ihm geschöpfte Wahrheit? Da ist nun die erste Frage, die wir zu stellen haben: Was bedeutet überhaupt der Name ‘Gott’? Darf der Glaube an Gott so schlechthin vorausgesetzt werden? Ist nicht ‘Gott’ vielmehr von allem Fraglichen das Fraglichste? - Wieder und wieder tritt bei Dostojewski die Frage nach Gott in der bestimmten, uns seit Nietzsche sehr geläufig gewordenen Gestalt auf: Ist es eigentlich Gott, der den Menschen, oder der Mensch, der Gott geschaffen hat? Gilt der ‘Menschgott’, d.h. den sich der Mensch, oder zu dem er sich selbst macht, oder gilt der ‘Gottmensch’, d.h. der Gott, der, selbst hoch über dem Menschen, doch in ihm sich bezeugt, zu ihm herabsteigen, in ihm Wohnung nehmen, ihn zu sich hat hinauf heben wollen? So aber wie so, was besagt dies am Ende doch von Menschen geprägte, Menschen verständlich sein wollende Wort ‘Gott’? Irgend einen bestimmten Sinn musz man mit diesem Namen doch verbinden, wenn er nicht bloss ‘Schall und Rauch’ sein, wenn damit überhaupt etwas gesagt sein soll. ‘Wer darf ihn nennen und wer bekennen, ich glaub ihn? Und wer befinden und sich unterwinden, ich glaub ihn nicht?’ fragt Faust. Aber doch eben - Ihn! Wen denn | |
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oder was bekennen oder leugnen wir, wenn wir ‘Gott’ bekennen oder leugnen? Darüber wird man am Ende doch Rede stehen müssen. Nun, Dostojewskis Antwort auf diese erste Frage ist nicht zweifelhaft. Gott lieben, lobpreisen, glauben und anbeten, ist für ihn völlig eins damit, den Nächsten lieben und ehren, an ihn glauben, ja vor ihm niederfallen, wie Sossima buchstäblich tut; wahrlich nicht, um ihn, den Menschen, aber in ihm Gott (denn in ihm ist Gott) anzubeten. Nicht aber den Mitmenschen allein, sondern ebenso alles Lebendige, die Erde, das Sonnenlicht, die fernen Welten, das Ganze dieser sündlosen Gotteswelt mit gleich inbrünstiger Liebe, mit Ehr und Preis, Glauben und Anbetung umfassen und sich davor beugen. Das also bedeutet ihm ‘Gott’: die nicht hinterdreinhinkende, sondern schlechthin ursprüngliche Einheit alles Lebens im Urgrunde des, seinem ganzen Sinn nach einigen Lebens. Nicht also noch ein andres Sonderleben ausser und über dem allein gegebenen, erfahrbaren Sonderleben der ungezählten Einzellebendigen. Dann könnte mit Grund gefragt und gezweifelt werden: Gibt es das überhaupt? Es ist doch uns nicht gegeben, es könnte gar nicht uns gegeben sein,. da jeder nur sein Sonderleben leben und neben ihm nur wieder ebensolch abgesondertes Einzelleben anerkennen kann, ein Leben, sei es nun gleicher oder niederer oder höherer Ordnung, aber doch wieder nur ein Leben, gleichen Begriffs wie das unsre, wenn auch andrer Stufenhöhe. So ergäbe sich aber stets nur irgend ein ‘Menschgott’, ein Gott von Gnaden und nach den Begriffen - vielleicht nach dem erhabensten Begriff - des Menschen. Ganz anders, wenn ‘Gott’ nicht ein Leben, sondern das Leben, alles Lebens Leben, den einigen Ur- und Quellgrund des Lebens besagt. Dann gibt es überhaupt kein Sonderleben als von sei- | |
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nen Gnaden, kein ursprüngliches Eigen recht eines Lebens gegen andres und gar gegen das Leben; so wenig wie ein Sein ist, das etwas für sich wäre, gegen andres und gar gegen das seinem ganzen Sinn nach nur einige Sein. Macht man sich zumal klar (wie wir es schon taten), dass sich unter ‘Sein’ letzten Endes gar nichts andres denken lässt als Leben und was zum Leben gehört, was als Bedingung oder Teil seines Wesensbestandes in es eingeht und ohne es gar nicht wäre, so kann man um so weniger zweifeln, dass jene Grundbeziehung alles Sonderlebens zu dem in sich einigen Leben alles Lebens nicht etwas ist, was man nach Belieben hinzu oder wegdenken kann, sondern etwas, und zwar das Einzige und Letzte, das schlechthin ist und nichtseiend gar nicht gedacht werden kann. Gott ist ‘der da ist’, nichts andres, nichts mehr und nichts weniger, denn was darunter oder darüber oder ganz ein andres wäre, das wäre gar nicht. Und so kann gar nicht die Frage sein, ob Gott ist oder auch etwa nichtsein könnte. Damit aber erhebt sich das Sein Gottes über alles, was nicht das Sein selbst, sondern bloss ein Sein ist, so dass jeder fernste Gedanke eines Neben-und Gegeneinanderstehens und gar Miteinanderrechtens auf gleich und gleich sinnlos wird; dass von einer Vertraulichkeit zwischen Mensch und Gott, wie so manche Religiöse sie pflegen möchten, nicht die Rede sein kann. Das Verhältnis ist nicht bloss das von Töpfer und Topf, es ist das von All gegen Eins, Letztunendlichem, ja schlechthin Ueberendlichem gegen Endliches, Unterendliches ja Unendlichkleines. Gälte überhaupt hier sondernde Gegenstellung, dann hätte die Voraussetzung unendlicher Gottferne des Menschen viel eher Recht als die der erträumten nächsten Nähe ja des völligen Einswerdens mit Gott, der völligen ‘Vergottung’. Aber eben in der | |
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Sonder-und Gegenstellung liegt der Grundfehler, der alle andern nach sich zieht. Von ihr muss man sich ein für allemal losgemacht haben, dann erst versteht man die ungeheure Frage nach Gott, versteht aber auch, dass mit der Frage, sobald erst ihr Sinn ganz klar geworden, die Antwort schon gegeben ist. In keinem Sinne ist dann mehr das eigene Ich das erst und unabhängig Gewisse, sondern das erst und ewig Fragliche. Hier allein liegt die Gefahr der Selbstvergötterung; des Gottes, den der Mensch sich macht nach seinem Bilde, des ‘Menschgottes’, wie Dostojewski sagt. Aber die Gefahr ist nun bestanden. Die Frage kann jetzt nur noch die umgekehrte sein: ob und wie in Gottes ewig in sich selbst sicherm Sein das Sein dieses armseligen Dings, des ‘Ich’, gesichert sei? Um es ganz zu sichern, ist es ratsam es erst einmal ganz in Frage zu stellen, es ganz ernst zu nehmen mit der ‘Krisis’ nicht bloss der menschlichen ‘Kultur’ - sei es des Abend-oder Morgenlandes oder aller - sondern überhaupt des Menschen. Nicht Gott steht in Frage, aber der Mensch sieht sich heute, ernster als in irgendeiner früheren Wende seines Geschicks, vor die Frage gestellt, ob er überhaupt etwas ist oder nichts; ob er verharren soll, verharren kann in dem Mittelstand des Menschen, oder für immer aus ihm herausfällt, um entweder unrettbar zum Tier, tief unter das Tier zu sinken, oder über sich also zum Gott? zum Menschgott? Nein, aber zum Gottmenschen, zum Menschen Gottes sich zu erheben. Oder ergeht die Frage vielleicht nicht an den Menschen allein, sondern an das Ganze der uns bekannten, von uns vorgestellten oder gedachten Welt in Zeit und Raum? Mereschkowski besonders hat darauf hingewiesen, dass bei Dostojewski auch diese letzte, eigentlich metaphysische Wendung der Frage sich anmeldet; er | |
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weiss doch und spricht von dem schlechthin überendlichen, weder an Zeit noch Raum zumessenden Ur-Sein, aus dem und zu dem Zeit und Raum nur sind, um in der Rückkehr zu ihm sich völlig selbst wieder aufzuheben. In der Tat sind Zeit und Raum, gleich der Zahl, nichts als Grundformen des Auseinandertretens in die Sonderheit. Mit dem Wegfall aller Sonderung wären sofort auch sie versunken und aufgehoben. Und dies Versinken und Sichaufheben von Zeit und Raum wird nicht bloss gedacht, es ereignet sich tatsächlich in jedem vollen Bewusstwerden des Einsseins mit dem unteilhaften, allerfüllten, alldurchdrungenen Ursein, mit Gott. Vielmehr es, das zeit- und raumbehaftete Sein, braucht gar nicht erst zu versinken und sich selbst aufzuheben, es ist sofort in seiner Ganzheit nichtig, sobald es eigene Wirklichkeit für sich in Anspruch nimmt. Es, und alles, was unter der Form der Zeit und des Raumes gedacht wird, ist nichts als Zeugnis, gesprochenes und vernehmliches Wort, Aussprache, ‘Erscheinung’, das heisst Zutagetreten, Heraustreten; heraus aus der selbst über-zeiträumlichen Wirklichkeit; nicht aber selbsteigene Wirklichkeit. Schon war die Rede von der Konvergenz, dem Zusammenstreben zur Einheit, der gegenübersteht die Divergenz, das Auseinandergehen in die grenzenlose Mannigfaltigkeit. Die Einheit aber ist das Erste, Zugrundeliegende; sie strahlt erst gleichsam aus und bricht sich wie das ewig eine Licht in die Milliarden Strahlen; nicht als würden diese damit etwas für sich, selbsteignen Seins, und das ewig eineLicht dann erst deren Summe, sondern sie in ihrer Allheit, das und nichts andres ist das eine Licht; jeder von ihnen ist also im Licht, es, das eine, ergiesst sich in sie, doch ohne damit aus sich selbst herauszutreten. Ein Heraustreten ist es nur für das Aufnehmende; ihm nur tritt es aus seiner ewig unteilbaren Ganzheit heraus in dem gerade ihm | |
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sichtbar werdenden ‘Schein’, als ihm gerade jetzt Aufleuchtendes, ihm ‘Erscheinendes’, das doch immer wieder zurückbezogen sein will in den unaufheblich einen Urgrund. Wiederum aber ist diese Heraushebung selbst nicht nichts, dies Erscheinen nicht trügender Schein, sondern, wie gesagt, Wort, Ausspruch, Bezeugung, Selbstbezeugung. Sogar ‘im Anfang’, uranfänglich ‘war’ dies Wort, dieser Selbstausspruch; es war ‘bei’ Gott, das heisst, indem Gott war, war auch es; ja Gott selber war es, d.h. in ihm sprach, äusserte, entäusserte sich kein andrer als er. Er selbst war und ist ewig - allerdings nicht ein Wort, gesprochenes Wort, aber das Wort, das sprechende, das wortende Wort, wie das Licht das Scheinende, nicht der Schein. Und so sind durch es alle ‘Dinge’ geschaffen; die ganze in Zeit und Raum sich breitende Mannigfaltigkeit der Dinge nichts als eine einzige, ewige Selbstaussprache des im ewigen Sichaussprechen doch nie sich aus sprechenden Wortes, und ist also - nicht Gott, aber Gottes, ganz und gar in Gott; also wahrlich nichts überhaupt Nichtiges; zwar nicht Letztwirkliches, aber doch zeugend von ihm, an ihm teilhabend, uns, den Vernehmenden es offenbarend, wahrhaft von ihm zeugend. So aber ist das Ueberendliche, ist Gott doch uns voll gegenwärtig; es gegenwärtigt (präsentiert) sich auch im flüchtigsten, unwirklichsten, augenblicklichsten, in seiner Augenblicklichkeit nichtig scheinenden, im Ertönen gleich wieder verhallenden Wort, im Aufleuchten gleich wieder dunkelnden Lichtschimmer über den brandenden Wogen. Und indem so das Ewige im Augenblick - recht eigentlich im zeitlosen Blick des inneren Auges - sich offenbart, verewigt sich dem Blickenden selbst der Augenblick, und in ihm es selbst das Blickende. In dieser Augenblicklichkeit des Ewigen, Ewigkeit des Augenblicklichen ist Gott, und ist der | |
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gelebte Augenblick, aller gelebte Augenblick, unmittelbar zu Gott. Und das gilt nicht bloss für das menschliche, sondern gilt für alles Erleben. Wirklich aber lebt alles, folglich ist in allem Gott, ist alles Gottes und zu Gott, unmittelbar zu ihm; wie es sich so stark und in schrankenloser Algemeinheit, wie kaum irgendwo sonst, bei Dostojewski ausspricht. Am direktesten formuliert finde ich es in Wolynskis tiefem Buche ‘Das Reich der Karamasof ’ als ‘Gegenwart des Unendlichen im Unendlichkleinen’. Hinzuzusetzen wäre nur, dass dies ganz auch in der Umkehrung gilt: die Darstellung im Unendlichkleinen ist der Weg, der alleinige Weg der Realisierung, der Verwirklichung des ewig überendlich Wirklichen, Verwesentlichung des ewigen Wesens für endliches Vernehmen. Und noch einen Zusatz möchte ich nicht unterdrücken, denn er scheint mir wesentlich. Dostojewski scheint sich unter dem Sterben ein völliges Heraustreten aus Zeit und Raum gedacht zu haben. Das bedarf wohl einer Einschränkung. Zwar halte ich es für sehr gewagt auch nur vermutungsweise darüber etwas auszusprechen. Aber was die Konsequenz aus den Voraussetzungen wäre, lässt sich sagen. Die Konsequenz wäre, dass, was uns Sterben heisst, zwar Ueberschritt wäre über die uns jetzt allein zugängliche, bestimmt abgegrenzte Zeit-Raum-Ordnung, aber in eine höhere, doch auch wieder zeit-raum-artige Ordnung nur höherer Stufe; etwa wie Goethe in den ‘Wanderjahren’ in Bezug auf Makarie von den sich weitenden, sich zur Spirale dehnenden Kreisen spricht. In jeder höheren Seinsordnung möchten dann die ungelösten Rätsel der nächstniederen ihre volle Auflösung finden, so brauchte diese darum nicht die letzte zu sein, sondern es würde wohl jede dieser Seinsordnungen, und wäre es in unendlicher Stufenfolge, | |
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ihre eigenen Rätsel stellen, die nur in einer wiederum höheren ihre Lösung fänden. Und so liesse sich denken, dass auch jedes Sonder-Ich in einer nie abreissenden Folge von Seinsstufen sich durch Problem und Lösung so fortentwickelte, dass für kein Einzelwesen der Prozess der Schöpfung und Offenbarung je in einer toten Harmonie, wie die Symphonie in der Schlussfermate, zu Ende käme und abrisse. Die letzte, die absolute Harmonie bliebe einzig dem letzten, ureinigen Sein Gottes vorbehalten, die in überschwänglicher, über jeden Ausdruck erhabener innerer Verständigung und Liebe allen Widerstreit der unterschiedlichen Seinsordnungen nicht erst hinterher zur Versöhnung bringen, sondern schon voraus im ewigen Einklang beschlossen halten würde. So wäre alle Sünde, schon ehe getan, vor Gott getilgt, der Hölle der Sieg, dem Tode der Stachel genommen, alles lebend ewig todunfähiges Leben, tot nichts als er selbst der Tod. Aber Dostojewski spricht, wie schon gesagt, nicht die Sprache der Metaphysik. Wohl unterscheidet sein Iwan unseren ‘euklidischen Verstand’ von einem höheren; aber der damit sich nahelegende Gedanke einer sich fortsetzenden Stufenreihe von Seinsordnungen taucht nicht auf; es scheint vielmehr durchweg, als stände, wie in der allgemeinen christlichen Ueberlieferung, nur der einzige, ab- und ausschliessende Gegensatz dieses irdisch-menschlichen und des einzigen überirdischen Daseins vor Augen, und bedeutete Sterben ohne weiteres den Abbruch der irdischen und Anbruch der (einzigen und endgültigen) überirdischen Daseinsform, und zwar für uns Erdenmenschen, ganz wie wir uns jetzt als Einzelwesen denken. ‘Zweifellos werden wir auferstehen, zweifellos werden wir uns wiedersehen, und heiter freudig werden wir uns alles erzählen, was gewesen ist. Ach wie wird das schön sein!’ So predigt der schei- | |
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dende Aljoscha Karamasoff seinen lieben Buben. Wie sich das reimt mit dem völligen Abbruch von Zeit und Raum, verrät er uns nicht. Dostojewski denkt, fühlt, spricht durchaus mit dem Volke, nach dessen im ganzen damals noch unerschüttertem Glauben an das kirchliche Bekenntnis. Das hindert aber nicht und beirrt nicht die Feststellung, dasz sein groszes, stets wieder siegreich durchdringendes Bekenntnis zum ganzen, überendlichen Leben die mit der kurzen Spanne dieses Erdenlebens abschliessende Schlichtung alles Widerstreits in einer leeren Endfermate ausschliesst und den Fortgang ins Unendliche und zwar vieldimensional, unendlichdimensional Unendliche nicht nur offen lässt, sondern fordert, ja voraussetzt. Die Ewigkeit wäre nicht die ganze Ewigkeit ohne diese Voraussetzung. Nehmen wir es aber einmal so an, wenn nicht als Dostojewskis eigene letzte Ueberzeugung, dann als das, was aus seinen Voraussetzungen für uns notwendig folgt, so stellt sich dann erst mit ganzer Wucht die Frage: Ist das noch Christentum, oder geht es wenigstens über das geschichtliche Christentum schon unmessbar weit hinaus? Karl Nötzel hat sich bestimmt dahin ausgesprochen, dass Dostojewski sich selbst täuscht, wenn er glaubt noch auf dem Boden des orthodox russischen Christentums zu stehen. Dass er es glauben konnte, hängt zusammen mit seinem Bedürfnis, gerade im Letzten mit seinem Volke einig zu gehen; es hängt zusammen mit dem heissen Nationalgefühl, aus dem sein Fürst Myschkin geradezu die Auferstehung der Menschheit erwartet durch den russischen Gedanken, durch den russischen Gott und den russischen Christus; mit der tiefen Begründung: ‘Wer keinen Boden unter sich hat, der hat auch keinen Gott. Wer sich von seiner Heimat losgesagt hat, der hat sich auch von seinem Gott losgesagt.’ | |
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Aber dem stehen gegenüber die zahlreichen Aeusserungen einer ganz freien, alle Menschheit, alles Leben, die ganze Welt mit gleicher Liebesinbrunst umfassenden Gottgläubigkeit, wie wir sie vernahmen, und wie wir sie doch auch in unseren Eckehart, Nikolaus von Kues, Luther und wiederum Goethe, wie wir sie auch anderwärts besonders im Osten, so in Gautama Buddha, so jetzt vor zwei Jahren in Rabindranath Thákkur angetroffen haben, wie sie vor allem auch mit dem Sinn des Jesus von Nazareth, wie ich glaube, einzig vereinbar ist. Streifen wir also diese nationalistische Verengung als eine Schwäche, die doch mit der grössten Stärke Dostojewskis wiederum eng zusammenhängt, einmal ganz ab, halten wir uns ausschliesslich an die reine, universalistische Gottesidee, wie sie sich an den entscheidenden Stellen stets in eindeutiger Klarheit ausspricht; so ist ja diese ohne jeden Zweifel aus christlicher und, wenn man wie billig das Alte Testament ins Christentum mithineinrechnet, nur aus christlicher üeberlieFerung ihm erwachsen. Indessen fragt sich doch, ob man darin noch das historische Christentum zu erkennen hat, oder ein sehr anderes, zum wenigsten eine tiefgreifende Weiterbildung desselben, die wohl mancher als kaum mehr recht christlich empfinden mag. Der Unterschied, auf den es entscheidend ankommt, scheint mir dieser zu sein: Das geschichtliche Christentum ist mit seiner Grundanschauung durchaus eingestellt und eingeschränkt auf eine in sich geschlossene Geschehensverkettung: den, als ganzer Lebenslauf der Menschheit auf Erden gedachten, streng abgegrenzten Zeitraum zwischen dem verlorenen Paradies als Anfangs- und dem wiedergewonnenen als Endpunkt, mit der ebenso einmalig historischen Wende der Erlösertat des unter Pontius Pilatus gekreuzigten, nach drei Tagen wiederauferstandenen Hei- | |
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lands der Welt, keiner andern als dieser zwischen Weltanfang und Weltende zeitlich begrenzten Welt des Menschen auf Erden. Dieses geozentrische (die Erde in die Mitte stellende) und infolgedessen christozentrische (Christus in die Mitte stellende) Christentum aber hat heute keinen möglichen Bestand mehr und kann ihn nie wiedergewinnen für den, dem diese zeiträumliche Einschränkung nicht mehr gilt; für den schon ‘Menschheit’ weit mehr umfasst als die paar Jahrtausende Christentum und allenfalls noch Judentum und Islam, dem alles Menschliche, aber auch alles Unter-und Uebermenschliche unter dem Auge und der Schaffensmacht der göttlichen Liebe steht; dem Welten und Welten von Welten, dem alles Unendlichgrosse und Unendlichkleine, mit der ewigen Vergangenheit und der ewigen Zukunft, nicht tote Kulisse, einfarbiger Hintergrund bloss dieses enggedachten Menschlichen ist, leer von Gott und Liebe, von Leben und Tod, Widerstreit und Lösung; sondern auf gleicher Linie mit dem zeitlich und räumlich Nahen, uns unmittelbar Bewegenden, an Gott teilhat und erst als Ganzes, in vielfacher ja unendlichfacher Unendlichkeit den Gedanken Gottes wahr macht und erfüllt. Die wichtige Folge aber dieser nicht bloss erweiterten sondern schlechthin totalen, in nichts mehr bloss teilhaften Fassung der Gottesidee ist, was ich nannte die Unmittelbarkeit jedes gelebten Augenblicks jedes Lebendigen - und alles ist ja lebendig - zu Gott. Kaum möchte aber zu bezweifeln sein, dass eben diese ‘Unmittelbarkeit zu Gott’ der letzte und ewige Sinn der Gotteskindschaft ist, wie Jesus und wie alle grossen religiösen Genien aller Zeiten und Völker sie nicht bloss gelehrt sondern vorgelebt haben. Diese Anschauung wahrt also durchaus den Zusammenhang mit dem Christentum und mit den grossen geschichtli- | |
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chen Religionen allen, keine ausgenommen. Aber sie überwindet nicht nur die Enge der Heraushebung einer bestimmten historischen Ausprägung des Gottesgedankens auf kosten aller übrigen, sondern beseitigt überhaupt das beirrende, die Menschheit zerreissende Vielerlei der Religionsbekenntnisse, und macht damit die stets doch behauptete Einzigkeit des Gottes erst zu etwas mehr als einem Wort, das die Tat so lange Lügen straft, als noch jedes Bekenntnis, jede Nation, schliesslich jeder einzelne vorgeblich Gottgläubige seinen Gott für sich allein haben will. Das ist die Krisis des Gottgedankens, in der die Menschheit gegenwärtig steht oder in die sie einzutreten eben im Begriff steht. Es ist der letzte Sinn der Krisis nicht bloss der abendländischen sondern überhaupt der Menschheit, die bei allem Wahnsinn der Selbstzerfleischung, ja gerade in diesem Wahnsinn, doch nicht ablassen kann, sich als ein nicht länger in Stücke, die einander nichts angehen, auseinanderfallendes Eine und Ganze traumhaft bewusst zu sein. Soll sie nicht Selbstmord begehen, so wird sie sich besinnen müssen, dass ihr tätlicher Hass im letzten Grunde Hass des Liebe ist. Noch können wir nicht miteinander einswerden, aber wir können auch nicht voneinander lassen, jeder seines Weges gehn und den andern seines Weges gehen heissen, wir müssen mit ungeheuren, aufs Ganze gehenden Forderungen einander entgegentreten, heiss miteinander ringen, wütend aufeinanderprallen, als gälte es uns gegenseitig in Stücke zu reissen. Es geht heute - das empfinden mehr oder weniger alle - um Alles oder Nichts. Nicht dieses oder jenes Volk allein oder eine begrenzte Gruppe von Völkern, sondern die Menschheit steht bereits mitten in der grossen Wende des Dramas, oder naht sich ihr mit mächtigen Schritten. Sie kann, sie darf vor den tausend Toden, vor den Meeren | |
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von Blut, die Dostojewski bereits vor Augen sah, nicht zurückbeben, sie weiss, sie muss da hinein und hindurch. Denn es ist gesagt (Dostojewski hat dies Wort als Motto vor sein reifstes Werk gesetzt): ‘Es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und sterbe, so bleibt es allein, wenn es aber stirbt, dann bringt es viele Früchte.’ Von dieser tragischen Grundstimmung ist die christliche Ueberlieferung ganz durchtränkt. In der ungeheuren Wahrhaftigkeit der Dostojewski'schen Lebenszeichnung aber hat sie eine Gewalt des Ausdrucks erreicht wie vielleicht nie zuvor. Es ist längst nicht mehr die Not des physischen Lebens und Sterbens allein, sei es des Einzelnen oder einer gegebenen Gemeinschaft von Menschen, worum es sich da handelt; es geht um Sein oder Nichtsein, Alles oder Nichts des Menschtums überhaupt, alles höchsten wie niedersten an ihm; ja es geht um das ewige Ja oder Nein überhaupt zum Leben. Dostojewski aber entscheidet sich aus tiefster Lebenserkenntnis, nicht für sich allein und sein russisches Volk, sondern für die Menschheit, nicht anders als Carlyle, mit einer überwältigenden, herzerschütternden Stärke des Ausdrucks, die aus den letzten Tiefen der Menschenseele hervorkommt und darum bis in ihre letzten Tiefen dringen muss, im Sinne des ewigen Ja: das ist seine wahrlich gewaltige Bedeutung für die gegenwärtige Krise der abendländischen und damit der Kultur überhaupt der Menschheit. Doch darf ich damit noch nicht schliessen. Ihrer Kultur: das bedarf nach allem Gesagten noch eines Wortes der Rechtfertigung. Denn was gemeinhin darunter verstanden wird: Eroberung der Natur durch den Siegeszug der Naturwissenschaft und Technik; Sicherung des äusseren Lebens durch wirtschaftlich-rechtliche, darum staatliche und zwischenstaatliche Organisation in von Geschlecht zu Geschlecht sich forsetzender ziel- | |
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gerichteter Weiterarbeit, in bewusst geschichtlicher Kontinuität; planmässige Pflege der geistigen, sittlichen, künstlerischen, religiösen Gemein- wie Individualbildung; absichtliche Höherbringung auch des literarischen, bildnerischen, musikalischen Schaffens und der allgemeinen Aufnahmefähigkeit für es; mit einem Wort Erziehung, wenn es sein kann, aller zu allem Menschlichen, im umfassendsten Sinne - alles das sind für Dostojewski Angelegenheiten durchaus zweiter Ordnung, bedeutsam als Hintergrund, als äusseres Gewand für seine ganz nach innen und aufs letzte gerichtete Zeichnung der Menschenwelt, in der Einzigkeit der Natur und des Schicksals jedes Einzelnen; nie aber ist es ihm wichtig bloss als solches und seiner selbst wegen, als allgemeine Aufgabe einer sei es eigengearteten nationalen oder gemeinmenschlichen ‘Kultur’. Gerade so entspricht es der Eigenart der russischen Psyche, deren gesteigerten Ausdruck wir in Dostojewski erkennen dürfen. Der Russe, wie Dostojewski, aber nicht bloss er sondern die grossen russischen Schriftsteller alle ihn kennzeichnen, ist ‘breit’, das heisst er hat Raum in seiner Seele für alles Niederste wie Höchste; in heissem Lebensgefühl wogt es in ihm auf und ab zwischen steilen Erhebungen und jähen Stürzen, zwischen Abgründen der Verzweiflung und Verzückungen überschwänglicher Begeisterung. Er scheut nicht nur nicht, er sucht mit Leidenschaft dies gewaltsame Ab und Auf, er flieht und verachtet die Glättung der Wogen zu beherrschter Ruhe und sicherem Durchsteuern zwischen den starrenden Klippen, Aufsuchen und Nützen der günstigeren Strömungen, zur Rettung in den sicheren Port. Darum bietet, wie fast die ganze russische Literatur, so Dostojewski nicht allzuviel dem, der nicht stets am Rande der Abgründe taumeln oder von gefährlichster Gratwanderung, vielmehr wie nachtwandelnd, nur für Augenblicke | |
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der Verzückung sich zu höheren Bereichen emporgerissen fühlen, sondern stetig arbeiten, ausharrend kämpfen möchte um sichere Ziele, um haltbare Güter des Menschentums, um irgendwie doch greifbare Wirklichkeiten, nicht leere Schemen. Uns Deutschen besonders liegt von unsrer ganzen Vergangenheit her, als den Erben der alten Kultur der Mittelmeervölker wie der ganzen mittelalterlichen Christenheit wie unsrer eignen der letzten Jahrhunderte, schliesslich der ganzen bisherigen Weltkultur - uns Deutschen, sage ich, liegt eben dies im Blute: jener ‘Bau der Ewigkeiten’, von dem Schiller spricht, zu dem das nie ermattende Mühen langsam schaffender doch nie zerstörender Arbeit ‘zwar Sandkorn nur um Sandkorn reicht, doch von der grossen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht.’ In solchem Sinne aufbauend schafft, wirkt, nach nächstem Anschein, von allen den vielen Menschen Dostojewskis keiner; während bei unserem Goethe, um von den vielen nur diesen einzigen zu nennen, beinahe jede Zeile dahin gerichtet ist und dazu irgendwie Wertvolles beiträgt. Indessen finde ich bei näherem Zusehen, dass es damit bei Dostojewski doch günstiger steht, als es zunächst erscheint. Ich lese bei Nöiizel, es führe keine Brücke von Dostojewski zu Goethe; und ähnlich haben Thurneysen, Gogarten, Hermann Hesse, und habe auch ich selbst früher geurteilt. Ich kann nach erneuter Prüfung das nicht mehr ganz unterschreiben; ich finde vielmehr gerade im letzten die beiden Grossen sehr wohl vereinbar. Im späten Goethe fehlen nicht die Züge, die in Dostojewski von Anfang an die vorwaltenden sind; umgekehrt lassen gerade die letzten und reifsten Werke Dostojewskis die entschiedene Richtung auf einen Wiederaufbau, in einem nach nicht wenigen Seiten gerade Goethe verwandten Geiste, erkennen. Schon das beste | |
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Werk seiner ersten, vorsibirischen Schaffensperiode, ‘Netoschka Njeswanowa’, liegt ganz in dieser Linie. Am bestimmtesten ausgesprochen finde ich es im Nachwort der ‘Werdejahre’: dass es statt des ‘ewigen Einreissens’ aufs Aufbauen ankommt, auf die Vollendung der Form und wie immer beschaffene, wenn nur eigene, selbsterworbene, nicht von aussen vorgezeichnete Ordnung. Geradezu einen heimlichen Durst nach Ordnung und edler Schönheit findet er auf dem letzten Grunde des seltsamen Verlangens nach Umsturz aller Ordnungen, das sich damals in Russland aller zu bemächtigen schien. Es fehlte nur irgend etwas, woran das geheime Verlangen nach Ordnung sich hätte anschliessen können. Nur erst den Boden dafür frei zu machen, war der Sinn des leidenschaftlichen Niederreissens. Zuletzt glaubt doch Dostojewski an eine Zukunft, wenn erst der ‘Zorn des Tages’ vorbei sei. Aus denen, die ihre Werdejahre durchgemacht haben (so schliesst der Roman), bilden sich die Generationen. Das sind Klänge, die sich sehr der Grundstimmung besonders des späten Goethe nähern. ‘Hier oder nirgends ist Amerika’, so könnte das letzte Wort auch, der Karamasoff lauten. Fast lautet es so im Munde des Dmitri. Auch bleibt es nicht ganz bei der blossen allgemeinen Forderung, es lassen sich sehr wohl auch einzelne Bausteine und Richtlinien zum Plane des Aufbaus erkennen. Zwar mit der Wissenschaft scheint Dostojewski manchmal geradezu seinen Spott zu treiben. Und doch bezeugt er ihr anderwärts wieder seine gewiss aufrichtige Hochachtung. Lehrreich ist hierbei, dass für ihn besonders anziehend die Ausblicke in den unergründ lichen Reichtum der Schöpfung sind, welche die Mikround Makroskopie eröffnet hat; während die starr gedachte Gesetzlichkeit des Mechanismus zumal in ih- | |
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rer gefährlichen Rückwirkung auf die Mechanisierung des Menschenlebens ihm innerlichst zuwider ist. Mit Goethes unstarrem Gesetz hätte er sich sicher eher befreundet. Aber dessen ‘schöner Begriff von Macht und Schranken, von Willkür und Gesetz, von Freiheit und Mass, von beweglicher Ordnung’Ga naar voetnoot1), zumal als Grundbegriff einer Wissenschaft des Lebendigen - ‘keinen höhern aber erringt auch der sittliche Denker, keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler, der Herrscher, der verdient es zu sein.,.’ - dieser ‘schöne Begriff’, sage ich, ist Dostojewski verschlossen geblieben; er hat überhaupt von Goethe gar zu wenig gekannt. In der unnachgiebigsten Strenge dagegen behauptet er die sittliche Verantwortlichkeit des Menschenwillens; Pflicht, Ehre, Gewissen bleiben ihm schlechthin unantastbare Begriffe. Hier könntevielleich auf dem Umweg über Schiller, den er kennt und liebt, Kant auf ihn gewirkt haben; doch genügt es anzunehmen, dass er das gleiche aus der gleichen Quelle, dem reinen sittlichen Monotheismus namentlich des Alten Testaments geschöpft habe. So kümmern ihn auch ernstlich genug die Aufgaben einer der Achtung sittlicher Menschenwürde genügenden Sozialordnung, namentlich Rechtspflege und Strafjustiz, unter deren abgründlichen Schäden er in eigner Person allerschwerstes zu leiden gehabt hatte. Nicht selten begegnet man in der Literatur über Dostojewski dem Vorwurf, dass er sich um die Fragen der Erziehung zu wenig gekümmert habe. Es ist sehr leicht darauf zu antworten, dass doch unwidersprechlich sein ganzes schriftstellerisches Lebenswerk im denkbar höchsten Sinne erziehend sein will und ist. Uebrigens beweist seine überall ganz geniale, bis in die letzten Tiefen dringende Erkenntnis und Darstellung des Seelenlebens des Kindes und des Her- | |
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anwachsenden die stark erzieherische Richtung in ihm. Schon ‘Netoschka Njeswanowa’, vollends die ‘Werdejahre’, aber auch die ‘Karamasoff’ dürfen im gleichen Sinne wie Wilhelm Meister oder der Grüne Heinrich oder die Flegeljahre als Erziehungsromane in Anspruch genommen werden. Der Kenner Pestalozzis fühlt sich da immer wieder besonders an diesen gemahnt, aber auch an Goethes Wanderjahre wird, wer darauf achtsam ist, sich oft erinnert finden. Und das führt noch auf ein letztes. Es gibt keine Erziehung ohne etwas von jener Liebe, die, über die reine Achtung der Menschenwürde hinaus, die innerste, unmittelbarste Beziehung von Individualseele zu Individualseele einschliesst und, bewusst oder nicht, auf ein letztes, volles Einswerden mit dem andern nicht im irdischsinnlichen, sondern im ewig-übersinnlichen Grunde des Selbst zielt. Bei Plato steht die ‘Idee des Schönen’ und des auf sie zuletzt gerichteten Liebesdranges, des ‘Eros’, in genauer Beziehung zur Idee der Erziehung. Der Eros ist ihm ein gewaltiger Dämon, auf der genauen Mitte des Göttlichen und des Menschlichen. Kaum einer hat diese Mittelstellung des Erotischen in gleich tragischer Tiefe erfasst wie Dostojewski. Er spricht auf der einen Seite aus: ‘Schönheit ist ein furchtbares, ein schreckliches Ding, furchtbar, weil unbestimmbar, unbestimmbar, weil Gott sie uns als Rätsel aufgegeben hat. Hier nähern sich die Ufer, hier stossen alle Widersprüche zusammen. Hier ringen Gott und der Teufel, und der Kampfplatz ist des Menschen H erz’. Das Dämonische des Eros steigert sich in seiner Nastasja, seiner Gruschenka geradezu zum Satanischen. Aber auf der andern Seite wieder heisst es: Schönheit wird die Welterlösen! Wie reimt sich das miteinander? Nun, die Gefahr der Schönheit liegt nicht in ihr selbst, nicht in ihrer Erkenntnis, sondern in der Bezau- | |
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berung des ihrer aus dem Ewigen stammenden Gewalt nicht gewachsenen Erdgebornen; in dem Wahne, das Göttliche in sich selbst, in der eigenen Vollendung und in der Vollendung des Andern darstellen oder dargestellt finden zu können; in der Raserei gerade der gottflüchtigen Begier, die die Schönheit dann weckt, wenn man nicht bis zu ihrem übersinnlichen Ursprung durchschaut. Aber es gibt eine ganz andere Schönheit als die so verkannte und missdeutete; es gibt eine ganz andere Haltung des Menschen zu ihr, welche jene Gefahr ganz überwindet, ja überhaupt nicht aufkommen lässt. Es gibt, wie gesagt, eine ‘edle Schönheit’; das wird besonders in den ‘Werdejahren’ wieder und wieder ausgesprochen, und in den verzückten Visionen des verlorenen und des wiederzugewinnenden Paradieses fliesst diese edle Schönheit ganz in eins zusammen mit dem Edelsten der Menschenliebe, der Weltliebe, der Gottliebe. Es gibt (mit Wolynski zu sprechen) ein ‘winziges Fensterchen mit einem Ausblick in jene Welt, aus der der ganze Zauber, die ganze, ewig frische Schönheit des Guten stammt’. Das ist die Schönheit, die die Welt erlösen wird, erlösen durch die reine Liebe, die sie entzündet, die alle Sünde und allen Fluch der Sünde austilgt. In der mit unsäglicher Zartheit von Dostojewski oft gezeichneten reinsten Gestalt der Geschlechterliebe leuchtet das auf; und es braucht kaum erst gesagt zu werden, wie nahe er sich gerade darin mit unserm Goethe berührt. Muss ich erst zitieren: ‘Wir heissen 's Frommsein. Solcher selgen Höhe fühl ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe’? Und wem erschliesst sich diese ‘edle Schönheit’? Keinem als dem unberührten, unbefangen und staunend dem, was ist, geöffneten Blick des Kindes - ich meine des Kindes in jedem Menschen. Und so dürfte ich weiter zitieren ‘Nur wo du bist, sei alles, immer kindlich, so bist du | |
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alles, bist unüberwindlich’. Das ist das ‘Fensterchen’ mit dem Ausblick in die Herrlichkeiten der jenseitigen, der ewigen Schönheit, der Schönheit des ewigen Guten. Das ist die Schönheit, die die Welt erlösen wird. In ihrem Lichte ‘löst sich letzten Endes (ich folge nochmals Wolynski) die menschliche Tragödie und öffnet sich der Durchblick in das ewig neue, ewig freudige echte Sein. Auch was es irgend in der Antike Schönes, Grosses, Ganzes gab, ist darin wiedergeboren und zu einer neuen, milden Schönheit geworden’. Damit, denke ich, hat die Frage nach der letzten Stellung Dostojewskis zur Kultur der Menschheit ihre klare, ihre voll bejahende Antwort gefunden. |
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