De Stem. Jaargang 2
(1922)– [tijdschrift] Stem, De– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Buitenlandsche litteratuur
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Das erstgenannte Werk stellt sich die Aufgabe, die Phasen des menschlichen Liebeslebens darzustellen und gleichzeitig, die Grenze der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung weit überschreitend, universelle denkerische Aspekte aufzurollen. Es handelt sich hier keineswegs um Biologie, auch nicht um Psychologie schlechthin, sondern um Kulturphilosophie in des Wortes strengster Bedeutung. Das Neue des monumentalen Werkes liegt darin, dass hier zum erstenmal der Versuch unternommen wird, das Liebesleben der Menschheit in ein System zu bringen und zugleich aufzuzeigen, dass auch die Liebe in der Gestalt, wie wir sie heute, vom Standpunkte eines hohen, aber uns bereits selbstverständlich gewordenen Ideals fordern, nicht ein Geschenk der Natur, sondern ein Erzeugnis menschlicher Kraft und menschlichen Willens ist, eine Errungenschaft der Seele, die erkämpft werden musste und die noch lange nicht? endgültig erkämpft ist. Der Gedankengang des Buches ist, in äusserster Verkürzung dargestellt, folgender: Entgegen der landläuflgen Vorstellung, dass die Liebe ein immer und überall gleiches und unveränderliches Gefühl ist, deren zeitliche und lokale Varianten sich höchstens auf Riten und Gebräuche, nicht aber auf den wesentlichen und prinzipiellen Inhalt dieses Gefühles selbst erstrecken, zeigt die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung, dass das menschliche Liebesleben sich in drei Stufen auf baut, die dem Hegelschen Schema von Thesis, Antithesis und Synthesis entsprechen. Der Geschlechtstrieb in seiner rein animalischen Form, ohne Beziehung auf das Seelische, beherrscht die ganze alte Welt, nicht nur den Orient, sondern auch Griechenland und Rom. Nur der Liebesbegriff Platos darf hier als Ausnahme angeführt werden? er ist bereits seelisch orientiert, bezieht sich jedoch nur auf Männerliebe und schaltet die Frau aus, die nach wie vor lediglich Lust- und Gebärinstrument bleibt. Erst das Mittelalter bringt den Sieg des geistigen Prinzips auch in der Liebe der Geschlechter. Die Seele des Weibes wird entdeckt, geliebt und schliesslich angebetet. Die Vergötterung der Frau steigert sich zum Madonnenkult. Hand in Hand damit geht eine asketische Verachtung des Leibes und der Sinnenlust. Jeder Gedanke an körperliche Vereinigung wird mit Abscheu abgelehnt, ein schmerzhaft quälendes Schuldgefühl begleitet jeden Rückfall in die trüben Niederungen leiblichen Genusses. Dieser Umschwung vollzieht sich etwa um das Jahr 1100. Die Provence und Italien sind die Geburtsstätten des neuen Ideals, die Troubadours seine Pfadfinder, | |
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Dante und Michel Angelo seine erlauchtesten Verkünder; aber auch Goethe noch kennt den Zwiespalt zwischen seelischer und sinnlicher Liebe. Mit diesem Durchbruch des seelischen Prinzips im Liebesleben vollzieht sich das, was Lucka in seiner tief blickenden, immer die letzten Perspektiven ergreifenden Art ‘die Geburt Europas’ nennt. Aber noch ist der Gipfel der Entwicklung nicht erreicht, noch wirken Geist und Sinnlichkeit unversöhnt nebeneinander. Immer tiefer wird die Sehnsucht nach der Synthese, nach einer Erotik, die Leib und Seele des geliebten Menschen mit gleicher Inbrunst umfängt. Dieser letzte und vielleicht schwierigste Schritt vollzieht sich nicht ohne Schmerz und Kampf. So Grosses kann nicht auf einmal gelingen. Sonderbare und erschreckende Mischformen ergeben sich. Hier findet Lucka Gelegenheit, die Perversionen des Geschlechtstriebes, die bisher immer nur physiologisch gedeutet worden sind, aus den Tiefen der Kulturentwicklung heraus zu verstehen. Sie beruhen auf der misslungenen Vereinigung von Geschlechtlichkeit und seelischer Liebe. Der Liebessucher (Sadist) möchte ebenso wie der Liebesknecht (Masochist) Liebender sein, aber beide verfallen vermöge ihrer Anlage immer wieder der Sexualität. Der Liebessucher racht diesen Rückfall an den Frauen, denen er die Schuld an seiner Halbheit beimisst (Don Juan), der Liebesknecht sühnt seine Unvollkommenheit durch den schmerzlichen Genuss, den er in der Erniedrigung durch die Geliebte sucht und findet. In einem anderen Kapitel, betitelt: Die Rache der Geschlechtlichkeit, gelingt Lucka die Ableiting zweier eigentümlicher Phänomene: des Sexuell-Dämonischen und des Obszönen. Hand in Hand mit der Vergöttlichung des Seelischen geht die Stigmatisierung des Sexuellen als einer teuflischen Versuchung, der Hexenwahn bildet das Gegenstück zum Madonnenkult und ist gleichzeitig mit ihm da. Verwandt mit dem Dämonischen ist das Gefühl des Obszönen: es besteht in der Karikierung und völligen Negation des höheren Liebesideals, das durch Hohn entwertet werden soll. Ausschaltung der Persönlichkeit als des Kernes der modernen Liebe und ausschliessliche, betonte Wertung des rein sexuellen Genusses sind die Kriegsziele dieses Sklavenaufstandes der Geschlechtlichkeit. So offenbart sich das moderne Liebesgefühl in seiner Forderung einer Verschmelzung des Leiblichen und Seelischen als eine Aufgabe, die noch immer vor uns liegt und von jedem stets aufs Neue zu vollziehen ist. Von der Fülle des Lucka'schen Werkes an kulturphilosophischen | |
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Gesichtspunkten eine Vorstellung zu geben, ist in dieser gedrängten Wiedergabe nicht möglich. Wie weitausgreifend diese scheinbar nur der Erotik und ihrer Entwicklung gewidmeten Betrachtungen sind, zeigen die Exkurse über das Mittelalter, die Provence, die Troubadours, Dante, Goethe und Richard Wagner, der von Lucka mit Recht als der konsequenteste und ekstatischeste Verkünder der Liebesidee in ihrer höchsten Form gefeiert wird (Tristans und Isoldens Liebestod). Noch reicher und umfassender stellt sich uns Luckas zweites philosophisches Hauptwerk ‘Grenzen der Seele’ dar. Die grossen Grundtypen der Menschheit in ihren prinzipiellsten Gestaltungen aufzuzeigen und an genialen historischen Repräsentanten deutlich zu machen, ist Aufgabeund Inhalt des psychologisch wie kulturhistorisch gleich bedeutenden Werkes. Eine fundamentale Disjunktion bildet sozusagen den Grundstein des ganzen Gedankengebäudes; der spannungslose, immer im Gleichgewichte verharrende, monistische Mittelmensch wird dem zerrissenen, beständig in Extremen lebenden, dualistischen Grenzmenschen gegenübergestellt. Der Grenzmensch ist nicht nur der tiefere und psychologisch interessantere, sondern auch der kulturphilosophisch bedeutsamere und fruchtbarere Menschheitstypus. Nur der Grenzmensch erlebt den Widerstreit von Naturbedingtheit und Freiheit, Schicksal und Wille, Welt und Ich. Darum kann nur er der tragische Mensch sein. Er allein ist auch des Dämonischen fähig, wenn er nämlich der Lockung der Unfreiheit unterliegt, sie bejaht (‘funktional’ wird) und auf die Autonomie seines Ich bewusst verzichtet. Er allein wird sich aber auch, wenn er den Kampf in seiner Seele siegreich besteht, zu den letzsten Höhen der Genialität emporlautern und jene leuchtenden Gipfel der Menschheit erklimmen, auf denen für uns die grossen Deuter von der Art eines Dante, Shakespeare, Goethe und Bach stehen. Mit dem Genie nicht zu verwechseln ist der grosse Schicksalsmensch, ein Typus, dessen Hauptrepräsentanten wohl Napoleon darstellt. Er kennt die Tragik des Grenzmenschen nicht, der Zwiespalt von Natur und Freiheit wird ihm nicht zum Problem, da er selbst ganz der Natur angehört. Er ist ein'Elementarereignis, dem die Struktur der Ichhaftigkeit fehlt. Das letzte Kapitel des Werkes bringt die grosse Synthese, und baut die ganze Menschheit stufenförmig in Spiegelbildern des Genialen über einander auf. Die weitgespannte und mit scharfer denkerischer Konsequenz durchkomponierte Systematik wird von bedeutsamen Exkursen unterbrochen: Glaube und Unglaube, Unsterblichkeitsdrang, Wunder und Ge- | |
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bet finden ihre Deutung, und die Stellung des Leides im Menschenleben wird erwogen. Asiatisches und europäisches Verhalten zum Leid werden einander gegenübergestellt. Aus der europaisch orientierten Weltanschauung des Verfassers heraus wird der Buddhismus, der das Leid durch Reflexion und beständiges Vergegenwartigen entwerten und überwinden will, abgelehnt. Und der Seele erwachst die heroische Aufgabe, das Leid als ihren ‘heimlichen Besitz’ zu erkennen und stets von neuem fruchtbar zu machen. Die genannten philosophischen Werke Luckas sind bereits älteren Datums und in mehreren Auflagen erschienen. Seither hat sich Lucka wieder mehr der dichterischen Produktion zugewandt, deren jüngstes Ergebnis der Roman ‘Fredegund’Ga naar voetnoot1) ist. Der Stoff dieser Dichtung ist dem Mittelalter entnommen, wie ja Lucka überhaupt für diese Epoche der Menschheitsgeschichte eine besondere Vorliebe zu hegen scheint, was gewiss kein Zufall ist, sondern auf tiefe unterirdische Zusammenhänge mit den früher besprochenen Grundmotiven seines philosophischen Schaffens deutet; denn das Mittelalter ist ja die Zeit, in der jener Zwiespalt zwischen der nach innerer Freiheit dürstenden autonomen Persönlichkeit des Menschen und seiner sinnlichen Natur am scharfsten in die Erscheinung getreten ist. An diesem Zwiespalt geht auch Eberulf, der Held des Romanes, zugrunde. Eine unheilvolle Leidenschaft für Fredegund, die Leibeigene seines Vaters, schlägt ihn in ihre Bande. Doch Fredegund achtet seiner nicht. Auf höhere Ziele ist ihr Ehrgeiz gerichtet. Durch die ungebändigte Kraf t ihres Willens und die dämonische Verf ührung ihres Fleisches zwingt sie den Merovinger Chilperich in ihren Bann. Sie wird erst die Geliebte, dann die rechtmässige Gemahlin ihres Königs, für Eberulf ist sie verloren. Dieser kämpft einen mörderischen Kampf gegen die wilde, hoffnungslose Liebe, der er vom ersten Tage an verfallen war. Aber alles Widerstreben ist vergeblich, zu tief ist er der unerbittlichen Macht verfallen, die ihm Seele und Sinne beherrscht. Fredegund versagt sich ihm, und doch muss er ihr dienen. Er ist das blinde Werkzeug ihrer Verbrechen, er opfert ihr Familie, Freiheit und Seelenheil. Diesem zerspaltenen, von inneren Kämpfen zermürbten ‘Grenzmenschen’ steht in prachtvoller Selbstherrlichkeit und Ungebrochenheit die ganz elementare, nur ihren Instinkten gehorchende Fredegund gegenüber. Sie ist selbst ein Stück Natur, ein starkes, ungebändigtes Raubtier, mit Wind und Welle ver- | |
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schwistert, unberührt von innerem Widerstreit. Machttrieb und Sinnlichkeit definieren diesen unkomplizierten, gerade in seiner Einfachheit und Unbedenklichkeit überwältigend wirkenden Charakter restlos. Das seltsame Geheimnis weiblicher Geschlechtsmacht erschliesst sich hier in einer dämonischen Intuition. Die Handlung strömt reissend dahin wie ein Wildbach nach Gewitterregen, kein Hindernis hält diesen tobenden Fluten stand. Die Sprache des Buches nimmt gleichsam an den inneren Kämpfen Eberulfs teil: rauh, schroff, wie aus der Brust eines zu Tode gequälten Menschen hervorgestossen, scheint sie sich fast widerwillig über die Lippen des Erzählenden zu drängen, mehr einem unentrinnbaren Machtgebot gehorchend als freiem Willen. |
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